Schlagwort-Archive: LG Nürnberg-Fürth

StPO II: Durchsuchung wegen Steuerhinterziehung, oder: Nur „dürftige Beschreibung“ des Tatvorwurfs

Bild von Alexa auf Pixabay

Die zweite Entscheidung des Tages, der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 07.062023 – 12 Qs 24/23 – kommt aus dem schier unerschöpflichen Reservoir der Entscheidungen betreffend Durchsuchungsmaßnahmen.

Der Ermittlungsrichter des AG hatte gegen den Beschuldigten einen auf § 102 StPO gestützten Durchsuchungsbeschluss. Es sollte u.a. in seinem Wohnhaus nach diversen Unterlagen gesucht werden. Begründet war der – von der Steuerfahndung dem Ermittlungsrichter vorformuliert vorgelegte – Beschluss wie folgt:

„Der Beschuldigte wird beim Finanzamt unter der Steuernummer … geführt. Nach Erkenntnissen der Steuerfahndung erzielt der Beschuldigte ausschließlich Einkünfte aus der Beteiligung an der … oHG und geringe Einkünfte aus Kapitalvermögen. In seinem Eigentum befinden sich zwei Grundstücke. Seine in den Steuerbescheiden zu Grund gelegte Einkommenslage in den Jahren 2015 bis 2019 entspricht weder seinem Lebensstandard noch den Geldströmen aus seinen Bankkonten. Der Beschuldigte ist daher verdächtig folgende Steuerstraftaten begangen zu haben:

Hinterziehung der Einkommensteuer … 2015-2019 … der Gewerbesteuer und der Umsatzsteuer … 2015-2019“

Die Durchsuchung wurde vollzogen; die Durchsicht der aufgefundenen Papiere dauerte an. Gegen den Durchsuchungsbeschluss legte der Beschuldigte Beschwerde ein, die beim LG ERfolg hatte:

„1. Da die Durchsuchung in Form der Durchsicht nach § 110 StPO andauert, ist der Antrag, die Rechtswidrigkeit der Durchsuchung festzustellen, dahin umzudeuten, dass der Durchsuchungsbeschluss aufgehoben wird.

2. Die Aufhebung hatte zu erfolgen, weil der Durchsuchungsbeschluss den an ihn zu stellenden Mindestanforderungen nicht genügt.

a) Der Durchsuchungsbeschluss dient dazu, die Durchführung der Maßnahme messbar und kontrollierbar zu gestalten. Dazu muss er den Tatvorwurf und die gesuchten Beweismittel so beschreiben, dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen die Zwangsmaßnahme durchzuführen ist. Der Richter muss die aufzuklärende Straftat, wenn auch kurz, doch so genau umschreiben, wie dies nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist. Der Betroffene wird auf diese Weise zugleich in den Stand versetzt, die Durchsuchung zu kontrollieren und etwaigen Ausuferungen von vornherein entgegenzutreten. In dem Beschluss muss zum Ausdruck kommen, dass der Ermittlungsrichter die Eingriffsvoraussetzungen selbstständig und eigenverantwortlich geprüft hat. Dazu ist zu verlangen, dass ein dem Beschuldigten angelastetes Verhalten geschildert wird, das den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt. Die wesentlichen Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes, die die Strafbarkeit des zu subsumierenden Verhaltens kennzeichnen, müssen benannt werden. Mängel bei der ermittlungsrichterlich zu verantwortenden Umschreibung des Tatvorwurfs und der zu suchenden Beweismittel können im Beschwerdeverfahren nicht geheilt werden (BVerfG, Beschluss vom 19.04.2023 – 2 BvR 2180/20, juris Rn. 28 f. m.w.N.).

b) Diesen seit langem geklärten Maßstäben genügt der angegriffene Beschluss nicht. Es fehlt schon eine hinreichende Beschreibung der vorgeworfenen Straftaten. Die Steuerhinterziehung ist ein Erklärungsdelikt. Strafbar macht sich, wer die Steuern falsch (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) oder pflichtwidrig nicht (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) erklärt. Hier ist nach der Beschlussbegründung noch nicht einmal klar, ob der Beschuldigte unrichtige Angaben gemacht hat oder ob die (wann und mit welchem Inhalt auch immer) ergangenen Steuerbescheide wegen Nichterklärung aufgrund von Schätzungen erlassen wurden. Ein Normzitat, das die Begehungsweise klären könnte (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AO?), findet sich in dem Beschluss nicht. Sollten unrichtige Angaben gemacht worden sein, so ist nicht klar, wann was erklärt wurde und zu welcher Steuerfestsetzung dies geführt hat.

Für die Kammer ist ein Grund für die Dürftigkeit der Beschreibung des Tatvorwurfs nicht erkennbar. Der bei der Akte befindliche Verdachtsprüfungsvermerk enthält genügend tatsächliches Material, das dafür herangezogen werden könnte, die wesentlichen Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes zu verbalisieren. Das ist unterblieben. Die Kammer könnte angesichts dieses Mangels eine Überzeugung, der Ermittlungsrichter habe die Eingriffsvoraussetzungen selbstständig und eigenverantwortlich geprüft, nicht intersubjektiv vermittelbar begründen.

3. Die weiter beantragte Herausgabe der sichergestellten Asservate hat zu erfolgen, weil die Aufhebung des Durchsuchungsbeschlusses der vorläufigen Sicherstellung die Grundlage entzogen hat (BGH, Beschluss vom 18.05.2022 – StB 17/22, juris Rn. 11).“

Vollzug III: Nichtraucherschutz im (U-Haft)Vollzug, oder: Fürsorgepflicht der JVA

Bild von Kevin Phillips auf Pixabay

Und die dritte Entscheidung betrifft dann den U-Haft-Vollzug, und zwar dort die Frage nach dem Nichtraucherschutz.

Der Beschwerdeführer befand sich vom 22.09.2022 bis 14.03.2023 in Untersuchungshaft in der JVA X und wandte sich mehrfach mit Anträgen, die die Durchsetzung des Rauchverbots in der JVA zum Inhalt hatten, an diese. Mit Schreiben vom 28.12.2022 stellte er einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und beantragte u.a. die Umsetzung des Nichtraucherschutzgesetzes durch die JVA X, Feststellung der Rechtswidrigkeit und Ortsbegehung sowie Sicherstellung der Videoaufnahmen durch das Gericht. Er fügte dem Antrag eine Skizze bei, die die räumlichen Verhältnisse der Abteilung D, in welcher er zum Antragszeitpunkt eine Zelle hatte, zeigt. Hierzu gab er an, seine Mitgefangenen würden im Gang zwischen den Zellen auf einer Tischtennisplatte sitzen und Zigaretten/Tabak konsumieren. Die Abteilung sei zeitweise komplett mit grauem Rauch durchzogen und „versinke in Zigaretten-/Tabakgestank“. Wenn er seine Zelle zum Duschen oder Aufschluss verlasse, sei er dem Rauch auf der Abteilung vollkommen ausgesetzt. Wenn seine Zelle geschlossen sei, ziehe der Zigaretten- bzw. Tabakrauch durch den unteren Schlitz der Zellentür in seine Zelle, da die rauchenden Gefangenen weiterhin Aufschluss hätten und rauchen würden.

Am 14.03.2023 wurde der Beschwerdeführer in die JVA Z verlegt.

Die JVA X nahm zum Antrag des Beschwerdeführers dahin Stellung, dass der Schutz von Nichtrauchern beachtet werde. Das AG hat denn den Antrag abgelehnt. Die Beschwerde hatte mit dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 07.06.2023 – 12 Qs 40/23 – Erfolg:

„1. Im Rahmen der Zulässigkeit ist das Rechtsschutzinteresse trotz Erledigung der behaupteten Beeinträchtigung durch Verlegung des Beschwerdeführers gegeben. Bei einer Verletzung des Nichtraucherschutzes, der – wie vorliegend durch den Beschwerdeführer beschrieben – zu einer länger andauernden Beeinträchtigung geführt haben soll, liegt ein schwerwiegender Grundrechtseingriff vor. Dieser gebietet es, eine gerichtliche Klärung herbeizuführen, auch wenn die Beeinträchtigung tatsächlich nicht mehr fortbesteht. Nur so kann verhindert werden, dass Rechte und insbesondere Grundrechte in bestimmten Fallgestaltungen in rechtsstaatlich unerträglicher Weise systematisch ungeschützt bleiben (BayObLG, Beschluss vom 17.11.2020 – 204 StObWs 277/20, juris Rn. 20 m.w.N.).

2. Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die JVA X hat ihre Fürsorgepflicht verletzt, indem sie nicht durch geeignete Maßnahmen verhindert hat, dass der Beschwerdeführer in seiner Zelle einer erheblichen Rauchbelästigung ausgesetzt war.

a) Nach Art. 58 Abs. 3 BayStVollzG, der für die Untersuchungshaft entsprechend gilt (Bratke/Krä in BeckOK Strafvollzug Bayern, 18. Ed. 1.4.2023, BayUVollzG Art. 25 Rn. 6), ist der Schutz der Nichtraucher, soweit es bauliche und organisatorische Maßnahmen ermöglichen, zu gewährleisten. Gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Art. 2 Nr. 1 lit. b des Bayerischen Gesetzes zum Schutz der Gesundheit (GSG) ist das Rauchen in Innenräumen der Gebäude der Behörden des Freistaats Bayern verboten. Nach Art. 5 Nr. 1, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GSG kann die Anstaltsleitung das Rauchen in Einzel-, Gemeinschaftshafträumen und anderen Gemeinschaftsräumen gestatten (Arloth in BeckOK Strafvollzug Bayern, 18. Ed., Art. 58 BayStVollzG Rn. 11). Dies gilt jedoch nicht, wenn aus baulichen oder sonstigen Gründen eine räumliche Trennung von Rauchern und Nichtrauchern in Aufenthaltsräumen im Bereich eines Anstaltsbetriebes nicht möglich ist (vgl. BayObLG, Beschluss vom 17.11.2020 – 204 StObWs 277/20, juris Rn. 25 f. m.w.N.).

b) Der Beschwerdeführer hat die von ihm gerügte Verletzung des Nichtraucherschutzes hinreichend konkret vorgetragen. Danach kam es laufend zu einer Rauchbelästigung, da die Mitgefangenen, deren Zellen über einen längeren Zeitraum aufgeschlossen waren, fortwährend rauchten und der Rauch durch den Schlitz an seiner Zellentür in seine Zelle gelangte bzw. auf dem Gemeinschaftsflur präsent war, wenn der Beschwerdeführer seine Zelle verließ. Da es sich dem Vortrag des Beschwerdeführers nach um eine ständige Belästigung handelte, kann im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes nicht verlangt werden, dass er – entsprechend einem Lärmprotokoll – einzelne Vorkommnisse genau dokumentiert.

Die JVA X ist dem Vortrag des Beschwerdeführers insoweit entgegengetreten, als sie in ihrer Stellungnahme vom 29.03.2023 ausführte, auf den Gemeinschaftsflächen bestünde Rauchverbot und etwaige Verstöße würden – soweit sie bekannt seien – disziplinarisch geahndet. Die Kammer hat hierzu ergänzend einen Dienstleiter der JVA X befragt. Dieser gab an, der Beschwerdeführer habe sich auf einer kleinen Abteilung befunden, in welcher Mitgefangene untergebracht gewesen seien, die arbeiten durften. Diese Mitgefangenen hätten sich tagsüber frei bewegen dürfen, was zur Folge gehabt habe, dass ihre Zellentüren häufig geöffnet wurden bzw. offenstanden. Da es den Gefangenen erlaubt sei, in ihrer eigenen Zelle zu rauchen, dringe dieser Rauch durch die offenen Türen auf den Gemeinschaftsflur und könne auch durch die Türschlitze in die Zellen der weiteren Gefangenen gelangen. Dies macht den Vortrag des Beschwerdeführers, wonach Rauch in seine Zelle dringe und auf dem Gemeinschaftsflur vorhanden sei, plausibel. Die Kammer geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer – unabhängig von der Frage, ob Mitgefangene tatsächlich nicht nur in ihren Zellen, sondern auch auf dem Flur geraucht haben – jedenfalls für einen erheblichen Zeitraum dem Rauch, der von den Zellen der Mitgefangenen durch geöffnete Türen austrat und durch den Schlitz der Zellentür in die Zelle des Beschwerdeführers eintrat, ausgesetzt war.

c) Der Schutz vor Passivrauchen war jedenfalls in der Zelle des Beschwerdeführers, in der er sich nicht nur kurzfristig aufhielt, zu gewährleisten. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass sich der Beschwerdeführer aufgrund seiner Inhaftierung einer Beeinträchtigung seiner Gesundheit nicht in gleicher Weise entziehen kann, wie eine Person, die sich auf freiem Fuß befindet und ohne Weiteres den Ort wechseln kann, um einer Raucheinwirkung zu entgehen. Angesichts der nicht auszuschließenden gesundheitsgefährdenden Wirkungen des Passivrauchens greift die gemeinschaftliche Unterbringung eines Rauchers und eines Nichtrauchers – jedenfalls wenn der Betroffene ihr nicht zustimmt – in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ein. Der nichtrauchende Gefangene hat Anspruch auf Schutz vor Gefährdung und erheblicher Belästigung durch das Rauchen von Mitgefangenen und Aufsichtspersonal (BayObLG, Beschluss vom 17.11.2020 – 204 StObWs 277/20, juris Rn. 25 f. m.w.N.).

Auf welche Weise die JVA den Nichtraucherschutz umsetzen hätte müssen, hat die Kammer nicht zu entscheiden. Die JVA hat jedenfalls im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens mit geeigneten Maßnahmen dafür zu sorgen, dass dort einsitzende Nichtraucher auf ihrer Zelle keiner Beeinträchtigung durch Zigarettenrauch ausgesetzt sind. Die Kammer verkennt nicht, dass die effektive Umsetzung des Nichtraucherschutzes angesichts der Vielzahl an Rauchern in der JVA nicht einfach ist. Im Falle der Unterbringung eines Nichtrauchers in einer Abteilung, in der sich Gefangene mehr oder weniger frei bewegen können und es somit zu offenstehenden oder häufig geöffneten Türen kommt, muss die JVA jedenfalls mit zusätzlichen Maßnahmen sicherstellen, dass kein Zigarettenrauch in die Zelle von nichtrauchenden Mitgefangenen eindringt.“

Pflichti I: Wieder etwas zu Beiordnungsgründen, oder: Schwere der Tat, Waffengleichheit, Beweisverwertung

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag. Es haben sich wieder ein paar Entscheidungen angesammelt. Nichts Weltbewegendes, aber es lohnt sich :-).

Zunäch dann die Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – und auch ein wenig Verfahrensrecht. Ich stelle aber nur die Leitsätze vor, und zwar:

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

1. Gegen die Versagung der Bestellung eines Pflichtverteidigers steht dem Beschuldigten ein Beschwerderecht zu, nicht aber dem nicht beigeordneten Rechtsanwalt. Im Zweifel ist zwar davon auszugehen, dass eine Einlegung eines Rechtsmittels nicht im eigenen Namen des Verteidigers erfolgt. Dies gilt allerdings nicht, wenn sich aus den Umständen die Beschwerdeeinlegung im eigenen Namen des Verteidigers ergibt.

2. Die Schwere der dem Beschuldigten drohenden Rechtsfolgen, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile, wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.

3. Zur Frage, wann weitere laufende Verfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordern.

Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert beim Vorwurf einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung, sowie der Tatsache, dass sowohl die beiden als Haupttäter Mitangeklagten als auch der Nebenkläger anwaltlich vertreten sind, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn das Amtsgericht aufzuklären hat, ob es sich bei einer Äußerung des Beschuldigten um eine verwertbare Spontanäußerung gehandelt hat oder ob ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen §§ 163a Abs. 4 Satz 2, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO in Betracht kommt.

Na, zufrieden? Ich denke, dass man das sein kann, denn insbesondere die Entscheidungen des LG Magdeburg und des LG Nünrberg-Fürth sind „sehr schön“.

Zu der verfahrensrechtlichen Porblematik bei LG Koblenz kann man nur sagen: Selbst schuld, denn warum macht man nicht deutlich, dass der Mandant Rechtsmittel einlegt?

StPO III: Einseitiger Widerruf der Zustellungsvollmacht, oder: Geht das?

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und dann noch zum Schluss hier noch der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 24.05.2023 – 12 Qs 38/23. In ihm hat das LG zur (weiteren) Wirksamkeit einer nach § 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO erteilte Zustellungsvollmacht Stellung genommen.

Der einer Körperverletzung verdächtige Beschuldigte wurde am 01.02.2022 von der Polizei zur Sache vernommen. Weil er keine feste Wohnadresse im Inland angeben konnte, ordnete der zuständige Staatsanwalt an, der Beschuldigte solle einen Zustellungsbevollmächtigten benennen. Daraufhin unterschrieb der Beschuldigte ein Formular, in dem er dem Polizeibeamten POM S von der Polizeiinspektion F „unwiderruflich … Vollmacht zum Empfang sämtlicher gerichtlicher Mitteilungen, Zustellungen und Ladungen“ erteilte. Auf dem Formular finden sich oberhalb der Unterschrift des Beschuldigten die von ihm handgeschriebenen, durchgestrichenen Worte „unter Vorbehalt“. Am 02.02.2022 ging ein Fax des Beschuldigten bei der Polizeiinspektion F ein. Dieses bestand aus seiner Kopie des Formulars, auf das er – mit seiner Unterschrift versehen – geschrieben hatte: „Hiermit widerrufe ich die Zustellvollmacht“.

Am 01.02.2022 erließ das AG einen Strafbefehl gegen den Beschuldigten. Dieser wurde vom Postboten am 06.09.2022 in der Polizeiinspektion F übergeben. Nach Anbringung des Rechtskraftvermerks leitete die Staatsanwaltschaft die Vollstreckung ein.

Am 22.02.2023 wurde der Beschuldigte am Flughafen Berlin bei der Ausreise kontrolliert und aufgrund des zwischenzeitlich erlassenen Vollstreckungshaftbefehls angehalten. Nach Zahlung der Geldstrafe konnte er seinen Flug antreten. Am 01.03.2023 ging beim AG der Einspruch der Verteidigerin gegen den Strafbefehl samt Wiedereinsetzungsantrag ein. Der Beschuldigte habe, so die Begründung, von dem gegen ihn erlassenen Strafbefehl keine Kenntnis gehabt dieser sei nicht wirksam zugestellt worden. Das AG hat Einspruch und Wiedereinsetzungsantrag verworfen. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Beschuldigten. Ohne Erfolg:

„1. Der Strafbefehl wurde am 6. September 2022 wirksam an den Zustellungsbevollmächtigten zugestellt, sodass die Einspruchsfrist zwei Wochen später ablief. Demgemäß hat das Amtsgericht den Einspruch zutreffend als verfristet verworfen.

a) Der Beschuldigte hat – nach entsprechender Anordnung (§ 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 StPO) – POM S wirksam zur Entgegennahme von Zustellungen bevollmächtigt. Unschädlich ist, dass er dabei auf dem Vollmachtformular die Worte „unter Vorbehalt“ angebracht hat. Selbst wenn man der Verteidigung darin folgt, dass diese Bemerkung vom Beschuldigten nicht durchgestrichen, sondern unterstrichen worden sei, entfaltet sie keine Rechtswirkungen, weil Aussage und Gehalt des Vorbehalts unklar blieben und der Vorbehalt angesichts der Unterzeichnung der Vollmacht nach Lage der Dinge ohnehin eine unbeachtliche protestatio facto contraria darstellte.

b) Die Zustellungsvollmacht wurde nicht wirksam widerrufen. Vor Abschluss des Verfahrens kann diese vom Vollmachtgeber nämlich nicht einseitig zum Erlöschen gebracht werden (KG, Beschluss vom 19. September 2011 -1 Ss 361/11, juris Rn. 7; OLG Koblenz, Beschluss vom 1. Juni 2004 – 1 Ss 311/03, NStZ-RR 2004, 373, 375; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Juli 1986 – 5 Ss [OWi] 237/86-197/86 I, VRS 71, 369, 370; Claus in SSW-StPO, 5. Aufl., § 37 Rn. 43; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 116a Rn. 6; Lind in LR-StPO, 27. Aufl., § 116a Rn. 29; Graf in KK-StPO, 9. Aufl., § 116a Rn. 9). Der abweichenden Auffassung, die Zustellungsvollmacht bleibe gegenüber dem Gericht (nur) so lange wirksam, bis ihm deren Erlöschen angezeigt worden ist (Graalmann-Scheerer in LR-StPO, 27. Aufl., § 37 Rn. 6), folgt die Kammer nicht. Zwar hat diese Auffassung die Wertung des § 170 BGB für sich, allerdings wird diese dadurch überlagert, dass die Erteilung der Zustellungsvollmacht der Durchführung eines hoheitlichen Verfahrens dient, was leerliefe, wäre die Vollmacht widerruflich.

c) Die Zustellung konnte wirksam in der Dienststelle des Bevollmächtigten ausgeführt werden, denn bei dieser handelt es sich um dessen Geschäftsraum i.S.d. § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO i.V.m. § 37 Abs. 1 StPO (vgl. Graalmann-Scheerer in LR-StPO, 27. Aufl., § 37 Rn. 71; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 37 Rn. 13). Daher konnte ein an ihn gerichtetes Schriftstück bei Nichtantreffen des Bevollmächtigten an eine dort beschäftigte Person übergeben werden. So war das hier, als der Postbote den Strafbefehl an D aushändigte. Zu Unrecht beruft sich die Verteidigung in dem Zusammenhang auf den Beschluss der Kammer vom 23. August 2021 (12 Qs 57/21, juris). Dort scheiterte die Zustellung daran, dass der benannte Bevollmächtigte bei Zugang des Schriftstücks bereits aus dem Polizeidienst ausgeschieden und sein Nachfolger nicht bevollmächtigt war. Hier geht es dagegen lediglich darum, dass der Bevollmächtigte bei Eintreffen des Postboten gerade nicht auf der Wache anwesend war und deshalb eine Ersatzzustellung vorgenommen wurde.

d) Nach allem wahrte der Einspruch vom 1. März 2023 die zweiwöchige Einlegungsfrist (§ 410 Abs. 1 Satz 1 StPO) nicht, sodass er zu verwerfen war (§ 411 Abs. 1 Satz 1 StPO).

2. Zu Recht hat das Amtsgericht dem Beschuldigten keine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist gewährt, denn er hat die Frist nicht ohne Verschulden versäumt.

a) Dem Angeklagten obliegt nach der Erteilung der Zustellungsvollmacht, selbst dafür zu sorgen, dass der Bevollmächtigte ihn zuverlässig unterrichten kann. Gegebenenfalls muss er sich beim Bevollmächtigten über den etwaigen Eingang von Schriftstücken informieren (Kammer, Beschluss vom 23. August 2021 – 12 Qs 57/21, juris Rn. 10 m.w.N.). Das hat der Beschuldigte unterlassen. Auf fehlendes Verschulden (§ 44 Satz 1 StPO) kann er sich dabei nicht berufen. Am 1. Februar 2022 hat nämlich eine körperliche Auseinandersetzung des Beschuldigten mit dem Zeugen K stattgefunden, die bei letzterem nicht unerhebliche Verletzungen zur Folge hatte. Der Beschuldigte wurde daraufhin von der Polizei als Beschuldigter belehrt und vernommen, wobei er behauptete, selbst angegriffen worden zu sein. Damit war ihm jedenfalls klar, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet worden ist. In dieser Situation oblag es ihm, sich nach dessen Fortgang zu erkundigen. Er konnte nicht darauf vertrauen, dass seine – auch von der Verteidigerin vorgetragene – Sichtweise, er habe in Notwehr gehandelt und sei deshalb unschuldig, sich im Verfahrensfortgang durchsetzt, weshalb er auch keinen amtlichen Schriftverkehr zu erwarten hätte. Im Gegenteil, Staatsanwaltschaft und Amtsgericht haben den Akteninhalt gegen den Beschuldigten gewertet, weshalb der hier angegriffene Strafbefehl erging.

b) Schuldhaft, weil durch schutzwürdiges Vertrauen nicht gedeckt, meinte der Beschuldigte, es werde deshalb keine Post für ihn beim Bevollmächtigten eingehen, weil er die Zustellungsvollmacht widerrufen habe. Gegen das Vertrauen auf die Wirksamkeit seines Widerrufs spricht allerdings schon, dass er die Vollmacht ausdrücklich unwiderruflich erteilt hat und dies auch aus der ihm mitgegebenen Kopie des Formulars, die er für den Widerruf nutzte, ersichtlich war.

c) Schließlich durfte der Beschuldigte nicht darauf vertrauen, er müsse deshalb mit keiner Zustellung rechnen, weil er die Zustellungsvollmacht „unter Vorbehalt“ unterschrieben habe. Unbeschadet der rechtlichen Unbestimmtheit dessen wurde der Beschuldigte nach dem glaubhaften und unwidersprochen gebliebenen Vermerk der polizeilichen Sachbearbeiterin POM´in B ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein solcher Zusatz „nicht geht“, woraufhin der Beschuldigte ihn selbst durchgestrichen habe. Das ist in sich schlüssig. Demgegenüber ist die Behauptung des Beschuldigten, bei dem Strich handele es sich um eine (bekräftigende) Unterstreichung, schon deshalb unplausibel, weil der Strich die Buchstaben augenscheinlich nicht unter-, sondern durchstreicht.

d) Darauf, dass die Ausführungen der Verteidigerin keinerlei Glaubhaftmachung (§ 45 Abs. 2 Satz 1 StPO) zur Stützung des Wiedereinsetzungsantrags enthielten, kam es nach alldem nicht mehr an.“

Haft II: Verhältnismäßigkeit des Sitzungshaftbefehls, oder: Vorführung geht vor Verhaftung

Bild von Free-Photos auf Pixabay

Im zweiten Posting dann noch einmal etwas zur Verhältnismäßigkeit eines „Sitzungshaftbefehls“, also § 230 Abs. 2 StPO.

Dazu führt das LG Nürnberg-Fürth im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 13.03.2023 – 7 Qs 17/23 – aus:

„Die zulässige Beschwerde ist begründet, weshalb der Haftbefehl vom 07.03.2023 aufzuheben war.

Zwar liegen die Voraussetzungen des § 230 Abs. 2 StPO insoweit vor, als der Angeklagte zum Termin am 07.03.2023 ordnungsgemäß mit der Belehrung über die Folgen unentschuldigten Fernbleibens geladen wurde und ohne (genügende) Entschuldigung zum Termin nicht erschienen ist.

Allerdings verstößt der Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO im vorliegenden Fall gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht – wie das Amtsgericht auch erkannt hat – ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel – nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen (OLG Nürnberg. Beschluss vom 10.08.2021 – Ws 734/21). Dieser ist nach dem Willen des Gesetzgebers stets der Vorrang vor dem Haftbefehl zu geben.

Wie das OLG Nürnberg in seinem Beschluss vom 10.08.2021 (Ws 734/21) ausführte, kommt der Erlass eines Haftbefehls in der Regel nur dann in Betracht, wenn der Versuch der Vorführung zum Termin gescheitert ist und/oder mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist, dass die Anwesenheit des Angeklagten durch eine Vorführung sichergestellt werden kann (OLG Nürnberg, Be-schluss vom 10.08.2021 – Ws 734/21). Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Er-wartung gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann. Ohne eine Vorführung versucht zu haben, ist der Erlass eines Haftbefehls nur in seltenen Ausnahmefällen verhältnismäßig, etwa wenn feststeht, dass der An-geklagte auf keinen Fall erscheinen will oder die Vorführung wahrscheinlich deshalb aussichtslos sein wird, weil der Aufenthaltsort des Angeklagten unbekannt ist oder die begründete Sorge besteht, dass der Angeklagte vor einer Vorführung untertauchen wird (OLG Nürnberg, Beschluss vom 10.08.2021 – Ws 734/21).

Diese Voraussetzungen liegen nach Auffassung der Kammer nicht vor. Der Beschwerdeführer hat einen festen Wohnsitz. Zum Termin am 07.03.2023 war er zwar nicht im Sitzungssaal erschienen, bot jedoch nach telefonischer Rücksprache mit seinem Verteidiger an, sich unverzüglich von Bayreuth aus auf den Weg zum Gericht zu machen. Es ist mithin nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer auf keinen Fall zum Termin erscheinen will oder untertauchen wird, um sich der Verhandlung zu entziehen. Die Gesamtschau ergab damit für die Kammer, dass eine Vorführung durchaus geeignet ist, die Anwesenheit des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung zu gewährleisten.

Von einer eigenen Entscheidung über die Vorführung sieht die Kammer angesichts der Verfahrenslage – noch ist kein neuer Hauptverhandlungstermin bestimmt – ab.“