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Ziemlich geärgert hat mich die zweite Entscheidung, die ich heute vorstelle. Den LG Koblenz, Beschl. v. 02.01.2019 – 2 Qs 120/18 jug – hat mir der Kollege Scheffler aus Bad Kreuznach übersandt. Der Beschluss lässt sich m.E. in die Rubrik: „Der Verteidiger ist ein Störenfried“ einordnen.
Das LG hat die Ablehnung einer Pflichtverteidigerantrags des Kollegen in einem Verfahren gegen eine Jugendliche – knapp 15 Jahre alt – durch das AG abgesegnet. Grundlage ist etwa folgender Sachverhalt:
Gegen die wird wegen falscher Verdächtigung ein Strafverfahren geführt. Ihr wird vorgeworfen, sie habe den Geschädigten gegenüber der Polizei bewusst wahrheitswidrig der Vergewaltigung bezichtigt, um gegenüber ihrem Freund zu vertuschen, dass der Geschlechtsverkehr mit dem Geschädigten tatsächlich einvernehmlich war. In dem daraufhin eingeleiteten Ermittlungsverfahren konnte der Geschädigte WhatsApp-Nachrichten vorlegen, die deutliche Anhaltspunkte für die Einvernehmlichkeit des Geschlechtsverkehrs beinhalteten. Aufgrund dieser Erkenntnisse wurde die Angeklagte nochmals polizeilich vernommen. Hierbei wurde sie trotz des sich aus den WhatsApp-Nachrichten ergebenden Verdachts, bei der Anzeigeerstattung die Unwahrheit gesagt zu haben, nicht als Beschuldigte belehrt. In der Vernehmung äußerte sie, die Anzeige zurückziehen zu wollen, da der Sachverhalt anders gewesen sei als in der Anzeige niedergelegt.
Den Beiordnugsantrag hat das AG – mehr als drei Monate nach Antragstellung und nach Eröffnung des Hauptverfahrens – zurückgewiesen. Die hiergegen eingelegte Beschwerde hatte keinen Erfolg. Das LG „segnet“ wie folgt ab:;
Die Voraussetzungen, unter denen eine Beiordnung gemäß §§ 68 Nr. 1 und Nr. 4 JGG, 140 Abs. 1 oder 2 StPO erfolgt, liegen nicht vor.
Gemäß § 68 Nr. 1 JGG bestellt der Vorsitzende dem Beschuldigten einen Verteidiger, wenn einem Erwachsenen ein Verteidiger zu bestellen wäre.
Liegen – wie hier – die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO nicht vor, ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung und die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. In § 68 Nr. 1 JGG wird hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung uneingeschränkt auf das allgemeine Strafrecht verwiesen. Die zur näheren Konkretisierung und Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 140 Abs. 2 StPO im Erwachsenenrecht ergangene Rechtsprechung findet daher auch im Jugendstrafrecht Anwendung. Den Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens ist jedoch Rechnung zu tragen (vgl. KG NStZ-RR 2013, 357 m.w.N).
1. Eine Beiordnung als Pflichtverteidiger ist nicht wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage angezeigt.
Für die Schwierigkeit der Sachlage ist unter anderem auf die voraussichtliche Dauer der Haupt-verhandlung und die Schwierigkeit der Beweislage abzustellen. Dabei ist eine schwierige Sachlage nicht stets bei längerer Dauer der Hauptverhandlung oder bei schwieriger Beweislage anzunehmen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 140 Rn. 26a). Vorliegend ist mit der Durchführung einer Hauptverhandlung zu rechnen, die an einem Tag zum Abschluss kommen kann. Von der Staatsanwaltschaft sind drei Zeugen benannt. Ferner dürften die WhatsApp-Nachrichten zu verlesen sein. Es ist demnach von einer allenfalls durchschnittlichen Dauer der Haupt-verhandlung und einer zumindest nicht schwierigen Beweislage auf der Grundlage der gefundenen Beweismittel auszugehen.
Das Gericht sieht auch darin, dass sowohl das tatsächliche Geschehen am 15. April 2018 als auch die Aussagen der Angeklagten hinsichtlich dieses Geschehens zu rekonstruieren sein werden, keine Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage. Denn entweder war der Geschlechtsverkehr einvernehmlich, dann kommt in Betracht, dass die – verwertbare Aussage – vom 16. April 2018 geeignet ist, den Straftatbestand des § 164 StGB zu erfüllen oder der Geschlechtsverkehr war nicht einvernehmlich, sodass eine Strafbarkeit gern. § 164 StGB nicht in Betracht kommt. Der Sachverhalt ist daher denkbar einfach gelagert und bedarf keiner aufwendigen Rekonstruktion verschiedener Geschehensabläufe.
Die Kammer sieht auch keinen Anlass dafür, dass eine vollständige Akteneinsicht erforderlich sein soll. Maßgeblicher Akteninhalt für die Hauptverhandlung sind die Whats-App-Nachrichten, die beiden protokollierten Aussagen der Angeklagten und die protokollierte Aussage des Zeugen pp. Ihre beiden Aussagen hat die Angeklagte selbst abgegeben. An der WhatsApp-Unterhaltung mit dem Zeugen pp. war die Angeklagte unmittelbar selbst beteiligt. Eine Kenntnis über diese Beweismittel besteht bei der Angeklagten. Dass der Zeuge pp. vernommen wurde, ist ohne weiteres auch für eine nicht anwaltlich vertretene Jugendliche erkennbar, da der ursprünglich von ihr vorgebrachte Tatvorwurf gegen ihn gerichtet war. Die Kammer sieht keinen Grund dafür, dass es der Angeklagten nicht möglich sein soll, diese Aktenteile zu benennen.
Eine schwierige Rechtslage ist dann gegeben, wenn bei Anwendung des materiellen oder formellen Rechts komplexe und höchstrichterlich bis dato nicht geklärte Rechtsfragen im konkreten Fall entschieden werden müssen oder wenn die Subsumtion unter die anzuwendende Vorschrift des materiellen Rechts Schwierigkeiten bereiten wird (vgl. MüKoStPO/Kaspar, 1. Auflage 2018, JGG § 68 Rn. 14-17a).
Der Einwand, dass bei der falschen Verdächtigung gern. § 164 StGB eine Absicht erforderlich sei, gegen den Anderen ein Verfahren einzuleiten und diese Absicht von anderen Vorsatzarten abgegrenzt werden müsse, trägt die Begründung einer schweren Rechtslage nicht. Es handelt sich um ein gewöhnliches subjektives Tatbestandsmerkmal, das keine besondere rechtliche Schwierigkeit bereitet. Im Übrigen hat die Angeklagte bei ihrer polizeilichen Vernehmung am 16. April 2018 ausdrücklich gesagt, dass sie möchte, dass der Angeklagte dafür bestraft werde, so-dass sich ein Auseinandersetzen mit den verschiedenen Vorsatzformen im konkreten Fall erübrigen dürfte.
Auch ein gegebenenfalls bestehendes Beweisverwertungsverbot wegen der unterbliebenen Beschuldigtenbelehrung vor der polizeilichen Nachvernehmung der Angeklagten führt im vorliegenden Fall nicht zu einer schwierigen Rechtslage. Vorliegend geht die Kammer da-von aus, dass sich das Amtsgericht durch die Vernehmung der Zeugen pp. und pp. sowie durch die Verlesung der am 14. und 15. April 2018 geführten WhatsApp-Unterhaltung zwischen der Angeklagten und dem Zeugen pp. eine hinreichende Überzeugung darüber bilden kann, ob der Tatvorwurf zutreffend ist oder nicht, sodass es im Rahmen der Beweisaufnahme im konkreten Fall gar nicht auf die gegenüber dem Zeugen pp. im Wege der Nachvernehmung getätigten Aussage ankommen dürfte. Doch auch, wenn das Amtsgericht seine Beweiswürdigung auf die gegenüber dem Zeugen pp. abgegebene Aussage in der Nachvernehmung stützen wird, stellt die Entscheidung über ein Beweisverwertungsverbot wegen einer unterbliebenen Beschuldigtenbelehrung im Ermittlungsverfahren keine komplexe und höchstrichterlich ungeklärte Rechtsfrage dar.
Der Fall ist sowohl in sachlicher als auch in rechtlicher Hinsicht einfach gelagert.
2. Eine Pflichtverteidigerbestellung ist auch nicht deshalb erforderlich, weil die Angeklagte sich nicht selbst verteidigen könnte.
Ob der Beschuldigte in der Lage ist, sich selber zu verteidigen, ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, wobei insbesondere die Persönlichkeit mitsamt der seelischen Verfassung des Jugendlichen und der Tatvorwurf einzubeziehen sind (BeckOK/Noak, JGG, 11. Edition, § 68 Rn. 28). Relevant für die Frage der Verteidigungsfähigkeit sind etwaige Anhaltspunkte für Faktoren der Unterlegenheit im psychischen Bereich wie Schüchternheit, Empfinden des Ausgeliefertseins oder psychische Schwäche, sowie verminderte Intelligenz. Das Gleiche gilt für etwaige erhebliche Defizite im Leistungsbereich wie zum Beispiel im Elementarbildungsniveau oder das Vorhandensein einer Schreib-Leseschwäche. Ferner können etwaige Beeinträchtigungen im Sozialverhalten relevant sein, gerade auch im Zusammenhang mit Alkohol- oder Betäubungsmitteleinfluss (vgl. Eisenberg JGG, 20. Auflage 2018, § 68 Rn. 27, 27a). Solche Beeinträchtigungen liegen bei der Angeklagten nicht vor. Sie geht in die neunte Klasse der Realschule pp. und es bestehen keinerlei Hinweise auf eine verminderte Intelligenz oder erhebliche Defizite im Leistungsbereich. Auch im Sozialverhalten zeigte sich die Angeklagte nach vorläufigem Bericht der Jugendgerichtshilfe bislang nicht auffällig. Der Tatvorwurf ist vorliegend denkbar einfach gelagert und auch für die Angeklagte, die nunmehr 15 Jahre und 6 Monate alt ist, leicht überschaubar. Im Übrigen kann diese die Unterstützung ihrer Mutter vor Gericht in Anspruch nehmen. Diese war zwar weder am 15. April 2018 noch bei den beiden polizeilichen Aussagen der Tochter zugegen, sie kann sich den Sachverhalt jedoch – ebenso wie der Verteidiger – von der Angeklagten im Vorfeld schildern lassen und ihrer Tochter bei der Darlegung des Sachverhaltes in der Hauptverhandlung behilflich sein. Darauf, dass sich die Angeklagte lieber von einem Anwalt vertreten lassen will, kommt es nicht an.
3. Schließlich ist die Mitwirkung eines Verteidigers auch nicht wegen der Schwere der Tat geboten.
Für die Gewichtung des Tatvorwurfs ist auch im Jugendstrafrecht maßgeblich auf die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung abzustellen. Zu berücksichtigen sind aber auch die Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten sowie sonstige schwerwiegende Nachteile, die er infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat. Die Schwere der Tat gebietet danach die Beiordnung eines Pflicht-verteidigers grundsätzlich auch im Jugendstrafrecht jedenfalls dann, wenn nach den Gesamtumständen eine Freiheitsentziehung von mindestens einem Jahr zu erwarten ist oder jedenfalls an-gesichts konkreter Umstände in Betracht kommt.
Bei der nicht vorbestraften Angeklagten ist nicht von einer Anwendung von Jugendstrafrecht auszugehen.
Da auch ein Fall des § 68 Nr. 4 JGG nicht vorliegt, war die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.“
Ich rufe in Erinnerung: Die Angeklagte ist knapp 15 Jahre alt.
Und einer so jungen Angeklagten wird vorgehalten, dass die Frage, ob ihre Angaben in ihrer zweiten Vernehmung trotz der unterlassenen Beschuldigtenbelehrung verwertbar sind, kurzerhand für irrelevant sei und dazu lapidar ausführt, der Tatnachweis könne ja auch anderweitig geführt werden. Abgesehen davon, dass die Frage eines Beweisverwertungsverbotes in den Fällen nun wahrlich nicht zum täglichen Allerlei gehört, hängt die Frage, ob ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, doch nicht davon ab, welche sonstigen Beweismittel zur Verfügung stehen. Man kann doch auch nicht voraussetzen, dass eine 15-Jährige (!) die Rechtsprechung zur Frage eines Beweisverwertungsverbots schon kennen wird, da es ja nicht um eine höchstrichterlich ungeklärte Frage gehe. In meinen Augen: Verfehlte Argumentation. Und: Kein Wort zu anders lautender Rechtsprechung, mit der man sich lieber gar nicht erst auseinander setzt. Augen zu und durch.
Damit setzt die Kammer die Angeklagte der Gefahr ausgesetzt, eines ganz wesentlichen Strafmilderungsgrunds verlustig zu gehen, würde doch ein Strafverteidiger angesichts der aufgrund der WhatsApp-Nachrichten recht ungünstigen Beweislage zumindest erwägen, der Verwertung der Angaben trotz des Verfahrensfehlers zuzustimmen, um auf der Rechtsfolgenebene damit argumentieren zu können, dass die Tat bereits in einem eher frühen Verfahrensstadium eingeräumt wurde. Zu derartigen Erwägungen ist eine 15-Jährige offensichtlich nicht in der Lage.
Endgültig zum großen Ärgernis wird der Beschluss, wenn die Kammer die Angeklagte dann darauf verweist, sie möge doch ihre Mutter in die Sitzung mitbringen. Das Anwesenheitsrecht der Erziehungsberechtigten in der Hauptverhandlung soll doch jugendlichen Angeklagten (zuästzliche) Hilfe und Unterstützung sichern, und nicht die Bestellung von Pflichtverteidigern verhindern. Findet die Argumentation des LG Koblenz Nachahmer, wird wohl bald der erste erwachsene Angeklagte zu lesen bekommen, dass ihm kein Verteidiger bestellt wird, da er ja seine Frau in die Hauptverhandlung mitbringen könne (s. § 149 StPO). Und man fragt sich, welches Verständnis die Kammer eigentlich von den Rechten (jugendlicher) Angeklagter hat. Offensichtlich ein verfehltes.
Im Übrigen: Das AG hat es für angemessen gehalten, einen im August gestellten Beiordnungsantrag im Dezember zu bescheiden. Wie man das mit dem im JGG-Verfahren geltenden Beschleunigungsgrundsatz in Einklang bringen will, erschließt sich nicht. Dazu von der Kammer natürlich kein Wort. Warum auch? ist/war ja alles nicht schwierig und die Angeklagte kann es gut allein machen. Unfassbar.