Und zum Wochenanfang dann „Klima-Entscheidungen“.
Zunächst hier zwei schon etwas ältere Entscheidungen aus Bremen, auf die ich im Zusammenhang mit der Recherche wegen einer anderen Frage gestoßen bin. Ich stelle sie trotz ihres Alters noch vor.
Folgender Sachverhalt: Die Staatsanwaltschaft Bremen hat dem Beschuldigten vier Nötigungen in Bremen vorgeworfen. Der Beschuldigte soll als Kontaktstelle und Sprecher der mindestens ca. 120-130 Mitglieder umfassenden Gruppe „Extinction Rebellion“ (?) an der Planung, Vorbereitung und Organisation einer im Stadtgebiet Bremen durchgeführten Aktion beteiligt, gewesen sein, in deren Zuge Aktivisten der Gruppe u. a. Straßenschilder bestiegen, um darauf Plakate für den Klimawandel und die Verkehrswende zu befestigen, was teilweise mit einem Abseilen von den Schildern in Richtung der Straße verbunden war. Dabei kam es zu Verkehrsbehinderungen. Der Beschuldigte selber soll persönlich bei einer Aktion beteiligt gewesen sein.
Die Staatsanwaltschaft hat die Durchsuchung beim Beschuldigten beantragt. Das AG Bremen hat das im AG Bremen, Beschl. v. 18.05 – 92b Gs 448/21 (225 Js 25762/21) – abgelehnt:
„Die Voraussetzungen für den Erlass der beantragten Anordnung liegen nach Auffassung des Gerichts jedoch nicht vor, da die Tat nicht als verwerflich i.S.v. § 240 Abs. 2 StGB anzusehen ist. Demnach ist die Tat rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Verwerflichkeit meint einen erhöhten Grad sittlicher Missbilligung, vgl. Fischer, StGB-Kommentar, 68. Aufl. 2021, § 240, Rn. 40. Nach der vierten Blockadeentscheidung des BVerfG aus dem Jahre 2001 muss im Rahmen des § 240 Abs. 2 StGB auch das Grundrecht aus Art. 8 GG Berücksichtigung finden. Dabei ist die Strafzumessungslösung praktisch verworfen und der Weg der praktischen Konkordanz im Rahmen der Verwerflichkeitsklausel gewählt worden. Bei der vorzunehmenden Gesamtbewertung des Geschehens und der Frage, ob die Tathandlung als verwerflich anzusehen ist, ist die soziale Gewichtigkeit des Blockadeanliegens ausschlaggebend, vgl. für Vorstehendes MüKo § 240, Rn. 143 f. Dabei ist nicht jede Gewaltanwendung, die darauf ausgelegt ist, die Bewegungsfreiheit Dritter zu beeinträchtigen, als verwerflich anzusehen. Die Handlungen des Beschuldigten fallen solange unter den Schutz von Art. 8 GG, als dass sie nicht unfriedlich sind. Unfriedlichkeit ist erst bei Handlungen von einiger Gefährlichkeit anzunehmen (Eisele, in Schönke/Schröder Strafgesetzbuch, § 240, 30. Aufl. 2019, Rn. 28). Auch daraus, dass eine Handlung nicht mehr verwaltungsmäßig ist, folgt nicht die Strafrechtswidrigkeit, so dass auch eine fortgesetzte Versammlung nach erfolgter Auflösung nicht per se verwerflich ist (Eisele, a.a.O. Rn. 28). Daneben ist bei der erforderlichen Gesamtabwägung auf die soziale Gewichtigkeit des verfolgten Anliegens abzustellen, wobei existenziellen Fragen der Allgemeinheit grundsätzlich größeres Gewicht zukommt als Eigeninteressen. Im Ergebnis ist der Grad der Beeinträchtigung einerseits und die Art der Demonstrationsmotive zu berücksichtigen (Eisele, a.a.O. Rn. 29).
Bei der Frage der Verwerflichkeit der Tathandlung ist somit der Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit der stehenden Autofahrer und das Ziel der Demonstranten gegeneinander abzuwägen. Dabei kommt dem Ziel, auf die Notwendigkeit des Klimaschutzes hinzuweisen, erhebliches Gewicht zu, wobei nach Auffassung des Gerichts die Fortbewegungsfreiheit der im Stau stehenden Autofahrer nicht erheblich beeinträchtigt ist, zumal es insbesondere auf Autobahnen und insbesondere auf der Lesumbrücke schon aufgrund der nunmehr mehrere Jahre andauernden Bauarbeiten stets zu verkehrsbedingten Behinderungen kommen kann. Bei der Frage der Verwerflichkeit ist hier auch zu berücksichtigen, dass eine Gefährlichkeit für Dritte bislang nicht festgestellt worden ist. Ein erhöhter Grad sittlicher Missbilligung kann in diesem Fall nach Auffassung des Gerichts nicht angenommen werden, so dass die dem Beschuldigten vorgeworfenen Handlungen nicht als verwerflich anzusehen sind. Trotz zielgerichteter Blockade des Verkehrs ist den Demonstrant:innen ein Akt der auf das Ziel hinweisenden Kommunikation zuzugestehen, der in diesem Fall noch nicht derart tief in die Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer eingreift, als dass er eine Strafbarkeit gem. § 240 StGB begründen und die Anordnung einer Durchsuchung rechtfertigen würde.“
Die Staatsanwaltsschaft hat dann dagegen Beschwerde eingelegt. Die hat das LG Bremen mit dem LG Bremen, Beschl. v. 22.06.2021 – 2 Qs 213/21 – zurückgewiesen. Zur Abwäging führt das LG u.a. noch aus:
„Ein gewichtiger Umstand im Rahmen der Abwägung ist der Sachbezug der von der Blockade betroffenen Personen – nämlich die Teilnehmer des Individualverkehrs. Stehen die äußere Gestaltung der Blockademaßnahme und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema und/oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und damit in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und inwieweit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen auf die Feststellung der Verwerflichkeit einwirkenden Bezug zum Versammlungsthema haben (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 08. Januar 2015 – 1 (8) Ss 510/13 –, juris).
Vor diesem Hintergrund ist die Einordnung des Geschehens als Meinungsäußerung und nicht nur als längerfristige Verhinderung des Verkehrs in der Gesamtschau der bisher bekannten bzw. ermittelten Umstände auch aus Sicht der Kammer nicht zu beanstanden.“