Schlagwort-Archive: Geschwindigkeitsüberschreitung

Fahrtenbuch I: Innerorts 40 Km/h zu schnell gefahren, oder: Das reicht für eine Auflage

© euthymia – Fotolia.com

Heute stelle ich dann zwei Entscheidungen zur Fahrtenbuchauflage (§ 31a StVZO) vor.

Zunächst kommt hier der BayVGH, Beschl. v. 13.10.2022 – 11 CS 22.1897. Nichts Besonderes, sondern nur weitgehend das Übliche in diesen Fällen. Gestritten worden ist um eine Anordnung nach einer Geschwindigkeitsüberschreitung innerhalb geschlossener Ortschaft um 40 km/h.

Der Antrag des Betroffenen auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Anordnung hatte keinen Erfolg:

„b) Die Fahrtenbuchauflage ist auch materiellrechtlich nicht zu beanstanden.

aa) Der festgestellte Verkehrsverstoß ist hinreichend gewichtig, um die Anordnung des Führens eines Fahrtenbuchs zu rechtfertigen (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, U.v. 28.5.2015 a.a.O. Rn. 15 m.w.N.). Auch ein erst- oder einmaliger Verkehrsverstoß von erheblichem Gewicht kann unabhängig von der konkreten Gefährlichkeit eine Fahrtenbuchauflage rechtfertigen. Dies kann in der Regel angenommen werden, wenn der Verstoß im Fahreignungs-Bewertungssystem (§ 4 des Straßenverkehrsgesetzes – StVG, § 40 der Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV) mit mindestens einem Punkt eingestuft ist (vgl. OVG LSA, B.v. 2.2.2020 a.a.O. Rn. 17; OVG NW, B.v. 21.3.2016 – 8 B 64/16 – juris Rn. 31). Nr. 2.2.3 der Anlage 13 zur § 40 FeV i.V.m. Nr. 11.3.6 der Tabelle 1 zur Bußgeldkatalog-Verordnung (BKatV) sieht bei einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften (§ 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVO) um 31 bis 40 km/h eine Bewertung mit zwei Punkten vor. Somit war hier von einem hinreichend gewichtigen Verkehrsverstoß auszugehen.

bb) Ohne Erfolg beruft sich der Antragsteller darauf, dass die Verwaltungsgemeinschaft Oettingen ihn als Fahrzeughalter im Rahmen der Ermittlungen nicht innerhalb von zwei Wochen nach dem Verstoß erstmals angehört und zur Mitteilung des Fahrzeugführers aufgefordert habe.

Die Feststellung des Kraftfahrzeugführers ist im Sinne von § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO unmöglich, wenn die Behörde nach den Umständen des Einzelfalls alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um ihn zu ermitteln. Art und Ausmaß der Ermittlungen hängen insbesondere von der Art des jeweiligen Verkehrsverstoßes und der Bereitschaft des Kraftfahrzeughalters zur Mitwirkung bei der Feststellung des Fahrers ab (vgl. etwa BVerwG, U.v. 17.12.1982 – 7 C 3.80BayVBl 1983, 310; BayVGH, B.v. 26.3.2015 – 11 CS 15.247 – juris Rn. 12). Zwar gehört zu einem angemessenen Ermittlungsaufwand grundsätzlich die unverzügliche, d.h. regelmäßig innerhalb von zwei Wochen durchzuführende Benachrichtigung des Fahrzeughalters von der mit seinem Kraftfahrzeug begangenen Zuwiderhandlung (vgl. BVerwG, U. v. 13.10.1978 – VII C 77.74 – Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 5), da die Wahrscheinlichkeit, dass der Fahrzeughalter die Frage nach dem Fahrzeugführer noch zuverlässig beantworten kann, mit zunehmendem Zeitabstand geringer wird. Diese Frist hat die Verwaltungsgemeinschaft mit ihrer erstmaligen Anhörung vom 5. August 2021 sieben Wochen nach der Tat deutlich überschritten. Allerdings ist die Nichteinhaltung der Zweiwochenfrist unschädlich, wenn sie für die Nichtfeststellung des Fahrzeugführers nicht kausal ist, etwa weil die Ergebnislosigkeit der Ermittlungen nicht auf Erinnerungslücken des Fahrzeughalters beruht (vgl. etwa BayVGH, B. v. 20.7.2016 – 11 CS 16.1187 – juris Rn. 11; OVG Saarl, B.v. 18.7.2016 – 1 B 131/16 – juris Rn. 20 f. m.w.N.). So liegt es hier. Der Antragsteller hat als Reaktion auf die verspätete Anhörung keine Erinnerungslücken geltend gemacht, sondern auf dem von ihm zurückgesandten Anhörungsbogen handschriftlich vermerkt, der oder die Fahrzeugführer/in sei „nicht bekannt“. Gegenüber der von der Verwaltungsgemeinschaft um Amtshilfe gebetenen Polizeiinspektion Dinkelsbühl hat er erklärt, er wolle sich nicht zur Sache äußern. Beides bringt, wie das Verwaltungsgericht zutreffend feststellt, etwas Anderes zum Ausdruck als fehlendes Erinnerungsvermögen aufgrund der vergangenen Zeit. Erst im Rahmen der vom Landratsamt durchgeführten Anhörung zur Fahrtenbuchauflage gab der Antragsteller am 28. Oktober 2021 an, er könne aufgrund der verstrichenen Zeit keine Angaben darüber machen, wer Fahrer des Fahrzeugs gewesen sei. Auf diese Erklärung kommt es jedoch für die Frage der Kausalität der verspäteten Anhörung zur Person des Fahrers im Rahmen des Bußgeldverfahrens für die Unmöglichkeit der Fahrerfeststellung vor Eintritt der Verfolgungsverjährung drei Monate nach der Tat nicht an. Etwaige Erinnerungslücken nach Einstellung des Bußgeldverfahrens stehen der Fahrtenbuchauflage nicht entgegen.

c) Schließlich bestehen auch keine Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit gegen die Dauer der Verpflichtung zur Führung des Fahrtenbuchs. Maßgeblich hierfür ist vor allem das Gewicht der festgestellten Verkehrszuwiderhandlung. Je schwerer das mit dem Kraftfahrzeug des Halters begangene Verkehrsdelikt wiegt, desto eher ist es gerechtfertigt, dem Fahrzeughalter eine nachhaltige Überwachung der Nutzung seines Fahrzeuges für einen längeren Zeitraum zuzumuten. Denn mit zunehmender Schwere des ungeahndet gebliebenen Delikts wächst das Interesse der Allgemeinheit, der Begehung weiterer Verkehrsverstöße vergleichbarer Schwere entgegenzuwirken. Das Bundesverwaltungsgericht sieht es als naheliegend an, wenn sich die zuständige Behörde für die konkrete Bemessung der Dauer der Fahrtenbuchauflage am Punktesystem der Anlage 13 zu § 40 FeV ausrichtet (BVerwG, U.v. 28.5.2015 BVerwGE 152, 180 Rn. 20 ff., ebenso BayVGH, B.v. 31.1.2022 – 11 CS 21.3019 – juris Rn. 11).

Gemessen daran erweist sich die Verpflichtung zur Führung eines Fahrtenbuchs für die Dauer von zwölf Monaten hier nicht als unverhältnismäßig. Die Geschwindigkeitsüberschreitung am 17. Juni 2021 innerorts um 40 km/h wiegt durchaus schwer und ist, wie bereits ausgeführt, mit zwei Punkten bewertet. Bereits die erstmalige Begehung eines solchen Verkehrsverstoßes rechtfertigt die Anordnung einer zwölfmonatigen Fahrtenbuchauflage unabhängig davon, ob es zu einer konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer gekommen ist oder nicht.“

OWi II: Vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung?, oder: War das Streckenverbot entfallen?

Bild von succo auf Pixabay

Bei der zweiten OWi-Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Brandenburg, Beschl v. 17.11.2022 – 2 OLG 53 Ss-OWi 388/22. 

Er behandelt bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung die Frage des Vorsatzes in Zusammenhang mit einem sog. Zusatzschild. Alles Weitere ergibt sich aus dem Beschluss, und zwar:

„Das Amtsgericht Cottbus verhängte gegen den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerorts um 35 km/h eine Geldbuße von 240 EUR.

Nach den getroffenen Feststellungen befuhr der Betroffene am 17. Juli 2021 mit einem Pkw außerorts die Bundesautobahn 15 in Fahrtrichtung Osten/Grenze und überschritt in Höhe Kilometer 40,2 die zuvor in Trichterform und durch beidseitige Beschilderung mit Zusatzzeichen 112 („unebene Fahrbahn“) angeordnete Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um mindestens 35 km/h. Er beschleunigte vor der Messstelle bewusst von 100 km/h auf 135 km/h, weil er keine Fahrbahnschäden mehr feststellen konnte, auch andere Verkehrsteilnehmer wieder beschleunigten und er davon ausging, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung nicht mehr galt. Tatsächlich bestand die Gefahr von Fahrbahnaufwölbungen noch fort. Das Amtsgericht hat das Verhalten des Betroffenen als vorsätzlich gewertet. „Seine völlig eigenmächtige Auslegung“ könne „nicht als Irrtum zu seinen Gunsten gewertet werden.“

Der Betroffene hat durch seinen Verteidiger zur Fortbildung des Rechts die Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen dieses Urteil beantragt, die Verletzung materiellen Rechts gerügt und beanstandet, dass das Amtsgericht rechtsfehlerhaft eine vorsätzliche Tatbegehung zu Grunde gelegt habe.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

1. Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, weil es geboten ist, die Nachprüfung des Urteils zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG). Die entscheidungserhebliche Frage, inwieweit eine Fehlvorstellung über das Ende einer streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkung eine vorsätzliche Tatbegehung begründet, hat grundsätzliche Bedeutung, weil in gleich gelagerten Fällen mit vergleichbaren Entscheidungen des Amtsgerichts zu rechnen ist (vgl. hierzu Göhler/Seitz/Bauer, OWiG 18. Aufl. § 80 Rn. 4, 5). Die Sache wird insoweit dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen (§ 80a Abs. 3 OWiG)

2. Die zugelassene Rechtsbeschwerde hat mit der Sachrüge insoweit Erfolg, als eine Überprüfung des angefochtenen Urteils hinsichtlich der subjektiven Tatseite einer Nachprüfung in der Rechtsbeschwerdeinstanz nicht standhält.

Das Amtsgericht ist rechtsfehlerhaft von einem vorsätzlichen Verhalten des Betroffenen ausgegangen. Der Betroffene hat nach den getroffenen Feststellungen die Beschilderung zur Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h zwar wahrgenommen und sich sodann auch bewusst — in der irrigen Annahme, diese gelte nicht fort — zur Beschleunigung auf 135 km/h entschlossen. Er hat sich insoweit jedoch nicht über die geltende Geschwindigkeitsregelung an sich geirrt, was einen — vermeidbaren — Verbotsirrtum zur Folge hätte (§ 11 Abs. 2 OWiG) und der Annahme von Vorsatz nicht entgegenstünde. Sein Irrtum betraf vielmehr äußere Umstände, die zum Tatbestand gehören und die er falsch beurteilt hat, so dass ein Vorsatz entfällt (§ 11 Abs. 1 Satz 1 OWiG).

Ein Streckenverbot, das wie hier zusammen mit einem Gefahrenzeichen angeordnet ist, entfällt auch ohne Aufhebungszeichen (Zeichen 282) dann, wenn sich aus der Örtlichkeit zweifelsfrei ergibt, von wo an die angezeigte Gefahr nicht mehr besteht (Erläuterung Nr. 55 Satz 2 der Anlage 2 zu § 41 StVO; vgl. OLG Celle, Beschl. v. 8. November 2018 — 3 Ss [OWi] 190/18, zit. nach Juris). Über diesen Regelungsgehalt der geltenden Norm und deren rechtliche Bedeutung hat der Betroffene sich nach den Urteilsgründen nicht geirrt. Sein Irrtum bezieht sich vielmehr auf den äußeren, die Örtlichkeit betreffenden Umstand, dass die Gefahrenstelle hier entgegen seiner Annahme nicht zweifelsfrei geendet hatte, sondern die Gefahr weiterhin bestand und die streckenbezogene Geschwindigkeitsbeschränkung deshalb noch fort galt. Dem liegt eine fahrlässige Fehleinschätzung der Örtlichkeit und damit eines Umstandes zugrunde, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Bei dieser Sachlage ist für die Annahme vorsätzlichen Verhaltens kein Raum (§ 11 Abs. 1 Satz 1 OWiG). Der Betroffene handelte vielmehr fahrlässig (§ 11 Abs. 1 Satz 2 OWiG).

Die aufgrund der Sachrüge veranlasste Überprüfung der angefochtenen Entscheidung hat ansonsten materiell-rechtliche Fehler zum Nachteil der Betroffenen nicht ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

Da weitere Feststellungen nicht zu erwarten sind, kann der Senat selbst abschließend entscheiden (§ 79 Abs. 6 OWiG) und den Schuldspruch ändern sowie den Rechtsfolgenausspruch entsprechend dem hier geltenden Regelsatz für fahrlässiges Verhalten festsetzen (Anhang Nr. 11.3.6 BKatV a.F.).“

OWi III: Vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung?, oder: Verfahrensaussetzung und BVerfG 2 BvR 1167/20?

Und als dritte Entscheidung stelle ich dann heute den OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 397/22 – vor. In ihm nimmt das OLG noch einmal u.a. zur Frage des Vorsatzes bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung Stellung.

Das OLG hat die Annahme von Vorsatz durch das AG nicht beanstandet:

„b) Die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des Schuldspruchs lässt keine Rechtsfehler erkennen. Die Feststellungen des Bußgeldgerichts tragen die Verurteilung des Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 52 km/h, §§ 3 Abs. 3, 49 StVO, 24, 25 StVG, 3, 4 BKatV, Ziff. 11.3.8 der Anlage zur BKatV.

aa) Insbesondere ist nicht zu beanstanden, dass das Tatgericht aus objektiven Umständen, namentlich der erheblichen Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung, auf ein vorsätzliches Handeln des Betroffenen geschlossen hat (std. Rspr. des Senats, vgl. statt vieler Beschluss vom 19. Februar 2021, 1 OLG 53 Ss-OWi 864/20; Beschluss vom 22. Oktober 2020, (1 B) 53 Ss-OWi 433/20 [264/20]; Beschluss vom 22. September 2020, (1 B) 53 Ss-OWi 374/20 [220/20]; Beschluss vom 24. Juli 2020, (1 B) 53 Ss-OWi 318/20 [193/20]; jeweils m. w. N.; so auch BGH DAR 1997, 497; KG NZV 2004, 598; VRS 109, 132; OLG Rostock VRS 108, 376; OLG Bamberg DAR 2006, 464; OLG Jena VRS 111, 52). Bloße Fahrlässigkeit hätte nur damit begründet werden können, dass der Betroffene nicht bemerkt hätte, dass und in welchem Ausmaß er das generell auf Landstraßen außerhalb geschlossener Ortschaften geltende Tempolimit auf 100 km/h (§ 3 Abs. 3 Ziff. 2 c) S. 1 StVO) überschritt. Dies war nach den vom Bußgeldgericht getroffenen Feststellungen indes fernliegend. Schon angesichts des massiven Ausmaßes der Geschwindigkeitsüberschreitung um 52 km/h drängte sich die Annahme vorsätzlicher Begehung geradezu auf (vgl. BGH DAR 1997, 497). Die Differenz zwischen erlaubter und gefahrener Geschwindigkeit war damit so erheblich, dass jeder Kraftfahrer merken musste, dass er nicht nur zu schnell, sondern erheblich zu schnell fuhr (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1995, 161, 162). Auch ohne ständigen Blick auf den Tachometer seines Fahrzeugs kann im Normalfall davon ausgegangen werden, dass ein geübter Kraftfahrer, der die erlaubten 100 km/h um mehr als 50 % überschreitet, dies beispielsweise anhand der Motorengeräusche des ihm vertrauten Fahrzeugs, der sonstigen Fahrgeräusche, der Fahrzeugvibration und anhand der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung um ihn herum verändert, zuverlässig einschätzen und dadurch erkennen kann, dass er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit erheblich überschreitet (BGH NJW 1993, 3081, 3084 m. w. N.). Selbst wenn der Betroffene nicht auf den Tachometer geschaut hätte, würde dies aus den genannten Gründen der Annahme von Vorsatz nicht entgegenstehen. Der Betroffene hatte auch ohne ständige Beobachtung des Tachometers eine ungefähre Vorstellung von der Größenordnung der gefahrenen Geschwindigkeit.

Dass dem Betroffenen der Umfang einer Geschwindigkeitsüberschreitung möglicherweise nicht exakt bekannt war, steht der Annahme von Vorsatz nicht entgegen. Vorsätzliches Handeln setzt eine solche Kenntnis nicht voraus, vielmehr genügt das Wissen, schneller als erlaubt zu fahren (KG, Beschluss vom 10. Dezember 2003, 3 Ws (B) 500/03 – 345 OWi 401/02, Juris; BayObLG NZV 1999, 97; OLG Koblenz DAR 1999, 227; OLG Jena VRS 111, 52). Dem Betroffenen war damit bewusst, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit jedenfalls erheblich überschritt. Wenn er es im Bewusstsein dieses stark überhöhten Tempos unterließ, seine Geschwindigkeit durch den ihm jederzeit problemlos möglichen Blick auf den Tachometer zu kontrollieren und herabzusetzen, brachte er dadurch hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass er eine Geschwindigkeitsüberschreitung auch in dem tatsächlich realisierten Ausmaß von 52 km/h zumindest billigend in Kauf nahm. Vorsatz setzt – wie dargelegt – nicht die positive Kenntnis von der exakten Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung im Zeitpunkt der Messung voraus (std. Rspr. des Senats, vgl. statt vieler Beschluss vom 22. Oktober 2020, (1 B) 53 Ss-OWi 433/20 [264/20]; Beschluss vom 22. September 2020, (1 B) 53 Ss-OWi 374/20 [220/20]; Beschluss vom 24. Juli 2020, (1 B) 53 Ss-OWi 318/20 [193/20]; Beschluss vom 06. Juli 2020, (1 B) 53 Ss-OWi 286/20 [178/20]; s. a. OLG Düsseldorf NZV 1996, 463).“

Das OLG nimmt außerdem zur Höhe der Geldbuße bzw. zu den insowiet zu treffenden tatsächlichen Feststellungen Stellung – insoweit verweise ich auf den verlinkten Volltext – und macht Ausführungen zur Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf BVerfG 2 BvR 1167/20:

„bb) Das Verfahren ist nicht mit Blick auf das vor dem Bundesverfassungsgericht zum Aktenzeichen 2 BvR 1167/20 anhängige Verfassungsbeschwerdeverfahren auszusetzen. Eine Grundrechtsverletzung ist nicht zu besorgen. Die fehlende Reproduzierbarkeit der zum einzelnen Messwert führenden Berechnung wegen fehlender Rohmessdaten berührt weder den Anspruch des Betroffenen auf ein faires Verfahren noch denjenigen auf eine effektive Verteidigung (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 01. Dezember 2021, 1 OWi 2 SsBs 100/21, Rz. 15 m. w. N., Juris).“

OWi I: Kontrolle der metrologischen Kennzeichnung, oder: Nur für das Inverkehrbringen erforderlich

entnommen wikimedia.org
Urheber KarleHorn

So, heute dann mal wieder – seit längerem – OWi-Entscheidungen. Die lange Pause zeigt, dass sich in dem Bereich im Moment wenig tut. Hoffentlich nicht die Ruhe vor dem Sturm 🙂 .

Ich beginne mit dem OLG Oldenburg, Beschl. v. 28.07.2022 – 2 Ss(OWi) 105/22. Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße und einem einmonatigen Fahrverbot verurteilt. Die Geschwindigkeitsüberschreitung war mit einem geeichten Messgerät Poliscan speed M1 /FM 1 festgestellt worden. Im Rahmen der Rechtsbeschwerde hat der Betroffene –zutreffend – gerügt, dass die metrologische Kennzeichnung vom Messbeamten nicht kontrolliert worden sei.

Die Rechtsbeschwerde hatte beim OLG keinen Erfolg:

„Die Metrologiekennzeichnung wird beim Inverkehrbringen des Gerätes angebracht.

Der Betroffene trägt selbst vor, dass die metrologische Kennzeichnung Auskunft über die Konformität gibt. Nach den Feststellungen des Amtsgerichtes war das Gerät geeicht. Schon daraus lässt sich die Konformität und das ordnungsgemäße Inverkehrbringen ersehen:

„Dementsprechend impliziert der Umstand, dass das Messgerät geeicht war, dass der Eichbehörde die Konformitätsbescheinigung und die Konformitätserklärung vorgelegen haben und das Messgerät ordnungsgemäß in den Verkehr gebracht worden ist (vgl. KG Berlin VRS 134, 156 = BeckRS 2018, 31315; OLG Zweibrücken BeckRS 2020, 32678). Es erscheint ausgeschlossen, dass – wie der Verteidiger meint – ein „nicht eichfähiges“ Messgerät durch die Eichbehörde geeicht wird.“ (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Januar 2021 – IV-2 RBs 1/21 –, Rn. 25, juris).

Darüber hinaus hat der Senat u.a. folgende Anfrage an die PTB gerichtet:

Wenn es auf S. 24 PTB-A 12.10 (Nov 2019) heißt, das Messprotokoll soll Angaben über die Gültigkeit und Unversehrtheit des „Eichkennzeichens/der metrologischen Kennzeichnung“ enthalten – ist das kumulativ oder alternativ gemeint?

Die PTB hat daraufhin geantwortet:

„…mit Inkrafttreten des neuen Mess-und Eichgesetzes am 01.01.2015 müssen Geschwindigkeitsmessgeräte beim Inverkehrbringen gem. §14 (4) MessEV eine so genannte Metrologie-Kennzeichnung tragen. Die Metrologie-Kennzeichnung besteht aus der Zeichenfolge „DE-M“, die von einem Rechteck mit einer Höhe von mindestens 5 Millimetern eingerahmt ist, nachfolgend mit den beiden letzten Ziffern der Jahreszahl des Jahres, in dem die Metrologie-Kennzeichnung angebracht wurde.

Spätestens zum Ende der Eichfrist werden die Geräte dem Eichamt zur erstmaligen eichtechnischen Prüfung vorgestellt. Das Eichamt kennzeichnet die Eichung durch Anbringung des Eichkennzeichens gem. §38 (1) MessEV. Nach Aussage des Landesamtes für Mess- und Eichwesen Berlin-Brandenburg verliert dann die Metrologie-Kennzeichnung ihre Bedeutung, da diese nur für die ordnungsgemäße Kennzeichnung der Inverkehrbringung erforderlich ist.

Mit den o. g. Ausführungen ergibt sich für das Messprotokoll eines Geschwindigkeitsmessgerätes, dass für den Zeitraum des Inverkehrbringens bis zur ersten Eichung die entsprechenden Angaben zur Gültigkeit und Unversehrtheit bezüglich der Metrologie-Kennzeichnung aufzuführen sind. Nach entsprechender erstmaliger Eichung sind die Angaben zur Metrologie-Kennzeichnung ohne Belang und müssen nicht mehr aufgeführt werden. Anstelle dessen müssen jetzt die entsprechenden Informationen bezüglich der Gültigkeit und Unversehrtheit des Eichkennzeichens im Messprotokoll vermerkt werden.

Ich werde Ihre Anfrage zum Anlass nehmen, die entsprechenden PTB-Anforderungen, in denen die Angaben zum Messprotokoll aufgeführt sind, entsprechend klarer zu formulieren.“

Damit ist die fehlende Überprüfung der metrologischen Kennzeichen nach erfolgter Eichung unerheblich.

Die Verhängung des  Fahrverbots ist mit dieser Entscheidung rechtskräftig. Der Führerschein ist spätestens am 28.11.2022 bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück als der zuständigen Vollstreckungsbehörde in amtliche Verwahrung zu geben.“

Na ja. Ich habe immer Probleme, wenn der Aufsteller der Bedienungsanleitung erklären darf, warum eine (potentieller) Fehler keiner ist.

OWi I: Vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung, oder: Überschreitung von nur 37 %

© psdesign1 – Fotolia

It´s „OWi-Day“ 🙂 . Und da stelle ich heute zunächst den OLG Zweibrücken, Beschl. v. 11.07.2022 – 1 OWi 2 SsBs 39/22 – vor. Der befasst sich noch einmal mit der Frage des Vorsatzes bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung.

Das AG hat den Betroffenen wegen vorsätzlichen Überschreitens der erlaubten Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 22 km/h zu einer Geldbuße von 140,– EUR verurteilt. Nach den Feststellungen des AG befuhr der Betroffene am 14.08.2021 um 00:30 Uhr die BAB 6 in Fahrtrichtung Saarbrücken, wobei in Höhe des Fahrtrichtungskilometers 625,8 im Bereich einer dort eingerichteten Baustelle seine Geschwindigkeit (toleranzbereinigte) 82 km/h betrug. Damit überschritt er die an der Messstelle zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 22 km/h. Im Streckenverlauf vor der Messstelle war die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch jeweils beidseitig aufgestellte Verkehrszeichen zunächst auf 100 km/h, sodann auf 80 km/h und zuletzt – etwa 150 – 200 m vor der Messstelle, auf 60 km/h beschränkt. Zudem waren weitere Verkehrszeichen, die auf die Baustelle und eine Baustellenausfahrt hinwiesen, aufgestellt. Das Amtsgericht hat ferner festgestellt, dass dem Betroffenen die Geschwindigkeitsüberschreitung bewusst war und er diese billigend in Kauf genommen hat.

Das OLG hat – nach Zulassung der Rechtsbeschwerde – das amtsgerichtliche Urteil aufgehoben:

„Die Ausführungen, mit denen das Amtsgericht ein vorsätzliches Verhalten des Betroffenen begründet hat, begegnen jedoch durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Auf die neben der Sachrüge erhobenen Verfahrensbeanstandung kommt es somit nicht an.

1. Der Betroffene hat über seinen Verteidiger die Fahrereigenschaft eingeräumt und erklären lassen, er „habe den Tempomat eingestellt gehabt und die gemessene Geschwindigkeit könne nicht stimmen“ (UA S. 3).

Seine Annahme vorsätzlichen Verhaltens hat das Amtsgericht demgegenüber beweiswürdigend wie folgt begründet:

„Aufgrund der gut sichtbaren Beschilderung, die in Form eines Geschwindigkeitstrichters (100 km/h – 80 km/h – 60 km/h) aufgestellt ist, geht das Gericht davon aus, dass der Betroffene das Verkehrszeichen wahrgenommen hat, zumal sich die Messstelle in einer Baustelle befindet, bei der mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung zu rechnen ist. Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte für eine abweichende Einschätzung vor. Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von vorliegend 22 km/h geht das Gericht davon aus, dass aufgrund der sensorischen Eindrücke, des Motorgeräusches, der Fahrzeugvibrationen und der Schnelligkeit, mit welcher sich die Umgebung verändert, der Betroffene die Geschwindigkeitsüberschreitung jedenfalls billigend in Kauf nahm. Dies gilt umso mehr, als die vorliegende Gefahrenstelle durch die weiteren, gut erkennbaren Verkehrszeichen (Gefahrenzeichen) beschildert war.“

2. Mit diesen Ausführungen hat das Amtsgericht ein vorsätzliches Verhalten des dies bestreitenden Betroffenen nicht hinreichend belegt.

a) Zwar kann der Bußgeldrichter in aller Regel davon ausgehen, dass ordnungsgemäß aufgestellte Verkehrszeichen von einem aufmerksamen Verkehrsteilnehmer auch bemerkt werden. Dies gilt jedoch nur dann, wenn der Betroffene nicht lediglich pauschal (vgl. Senat, Beschluss vom 03.02.2022 – 1 OWi 2 SsBs 113/21, juris Rn. 10) einwendet, das Verkehrszeichen übersehen zu haben oder andere greifbare Anhaltspunkte für ein solches Geschehen nicht vorliegen (Senat, Beschluss vom 14.04.2020 – 1 OWi 2 SsBs 8/20, juris Rn. 9). Denn dann muss der Bußgeldrichter durch auf den konkreten Fall bezogene Erwägungen begründen, weshalb er der Einlassung des Betroffenen nicht glaubt und davon ausgeht, dass der Betroffene das den konkreten Geschwindigkeitsvorwurf betreffende Schild wahrgenommen hat. Dem werden die Ausführungen des Amtsgerichts hier nicht gerecht.

b) Das Amtsgericht hat sich bereits nicht hinreichend mit der Einlassung des Betroffenen befasst, sondern das Vorliegen der kognitiven Vorsatzkomponente durch lediglich allgemeine Erwägungen (Geschwindigkeitstrichter in einer Baustelle) bejaht. Dies reicht hier nicht aus. Die Einlassung des Betroffenen kann bei lebensnaher Betrachtung nur so verstanden werden, dass er zwar zumindest eine der beiden vorangegangenen Beschränkungen (100 km/h bzw. 80 km/h) registriert und seinen Tempomat entsprechend darauf eingestellt, die Anordnung der maßgeblichen Beschränkung auf 60 km/h jedoch übersehen hat. Diese Angaben können nicht, jedenfalls nicht allein mit dem Hinweis auf den vorhandenen „Geschwindigkeitstrichter“ und die Baustellenbeschilderung widerlegt werden.

c) Hinzu tritt, dass das Amtsgericht auch den voluntativen Teil des Vorsatzvorwurfs nicht tragfähig begründet hat. Nach der Rechtsprechung des Senats (sowie – soweit ersichtlich – der überwiegenden Zahl der anderen Oberlandesgerichte) kann bei Übertretungen von zumindest 40 % der angeordneten Höchstgeschwindigkeit davon ausgegangen werden, dass dem Betroffenen, der die Begrenzung kennt, deren Überschreiten nicht verborgen geblieben ist (Senat, Beschluss vom 14.04.2020 – 1 OWi 2 SsBs 8/20, juris Rn. 11 ff. m.w.N.). Bei einer solchermaßen erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass der Fahrer anhand der Motorengeräusche, der sonstigen Fahrgeräusche, der Fahrzeugvibration und der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung ändert, zuverlässig einschätzen kann, dass er die erlaubte und ihm bekannte zulässige Höchstgeschwindigkeit wesentlich überschreitet (OLG Celle, Beschluss vom 28.10.2013 – 322 SsRs 280/13, juris Rn. 10 m.w.N.). Ihr kommt mithin eine erhebliche Indizwirkung zu. Dabei kommt es auf eine Kenntnis vom exakten Maß der Überschreitung nicht an; es genügt, wenn der Fahrer weiß, schneller als erlaubt zu fahren (KG Berlin, Beschluss vom 09.02.2007 – 2 Ss 16/073 Ws (B) 69/07, juris Rn. 3; Krenberger, jurisPR-VerkR 9/2022 Anm. 5 m.w.N.). Liegt das Maß der Überschreitung unterhalb dieser Grenze, müssen regelmäßig zusätzliche Indizien hinzutreten, die die Annahme vorsätzlichen Verhaltens begründen (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 26.08.2019 – (2 B) 53 Ss-OWi 444/19 (175/19), juris Rn. 10).

Der Betroffene hat an der Messstelle die zugelassene Höchstgeschwindigkeit um ca. 37 %, mithin weniger als 40 % überschritten. Weitere, auf den konkreten Fall bezogene Indizien einer vorsätzlichen Begehungsweise sind den schriftlichen Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Zudem darf das absolute Maß der Übertretung nicht völlig außer Betracht bleiben. Geht es um eine im absoluten Maß vergleichsweise niedrige Übertretung – hier von 22 km/h – ist nicht ohne weiteres und stets anzunehmen, der Fahrer habe die Übertretung anhand der oben genannten äußeren Kriterien zwanglos erkannt. Die sensorisch wahrnehmbaren Merkmale eines zu schnellen Fahrens – Fahrzeugvibrationen, Motorgeräusche, Änderung der Umgebung – fallen umso geringer aus, je geringer der Abstand zwischen zugelassener und tatsächlicher Geschwindigkeit ausfällt. So ist eine Differenz zwischen erlaubter 100 km/h und tatsächlich gefahrener 140 km/h für den Fahrer weit deutlicher erkennbar, als eine Differenz zwischen 60 km/h und 84 km/h, obgleich das relative Maß der Überschreitung jeweils gleich ist. Dies gilt erst recht innerhalb einer Baustelle, bei der aufgrund von Fahrbahnunebenheiten auch bei Einhaltung der erlaubten Geschwindigkeit regelmäßig mit höheren Fahrgeräuschen zu rechnen ist.“