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OWi I: Vernehmung eines „gestellten“ Zeugen, oder: Wer A sagt, muss auch mit einem Dolmetscher B sagen

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Nachdem ich Montag nur einen kleinen „OWi-Tag“ hatte, heute dann ein vollständiger. Es liegt im Moment aber auch nicht so viel an Rechtsprechung, über die man berichten könnte vor. Also: Ich kann Material gebrauchen.

Ich starte mit dem OLG Celle, Beschl. v. 21.09.2021 – 3 Ss (OWi) 220/21. Der Beschluss ist im Bußgeldverfahren ergangen, die verfahrensrechtliche Konstellation kann sich aber auch im Strafverfahren ergeben. Es geht um die unterbliebene Hinzuziehung eines Dolmetschers bei der Vernehmung eines Zeugen (§ 185 GVG, § 338 Nr. 5 StPO) Erfolg. Die Einzelheiten ergeben sich aus der Begründung des Beschlusses, mit dem das OLG aufgehoben hat:

„1. Das Rechtsbeschwerdevorbringen genügt den Begründungsanforderungen an eine solche Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG).

Der Beschwerdeführer hat vorgetragen, dass die Vorsitzende „seinen Beifahrer“ als Zeugen gefragt habe, ob er sicher sei, dass der Betroffene sein Handy nicht benutzt habe. Diese Frage habe er – der Beschwerdeführer – dem „k. Zeugen, der nur über sehr lückenhafte Deutschkenntnisse verfüge, übersetzt“. Das habe die Vorsitzende unterbunden. Sie habe sodann den Zeugen gefragt, ob er sich erinnern könne, wo die Verkehrskontrolle war, worauf der Zeuge nur „S.“ geantwortet habe. Daraufhin sei die Vernehmung beendet worden. Da der Beschwerdeführer den Zeugen „nicht als sprachunkundig angemeldet“ habe, sei ein Dolmetscher nicht anwesend gewesen.

Im Übrigen ergibt sich der maßgebliche Verfahrensgang aus den Urteilsgründen selbst (UA S. 4 unten, S. 5 oben). Danach hat der „vom Betroffenen mitgebrachte Zeuge R. J.“ mitgeteilt, dass er Beifahrer gewesen sei. Konkrete Erinnerungen an die Örtlichkeiten habe der Zeuge jedoch nicht mitteilen können. Ob es sich bei dem Zeugen tatsächlich um den Beifahrer gehandelt habe, habe auch nach Vernehmung der Polizeibeamten „nicht eindeutig verifiziert werden“ können. Aufgrund der „erheblichen Verständigungsprobleme“ sei auf eine „weitere Vernehmung verzichtet“ worden. Der Betroffene habe „keinen Beweisantrag“ gestellt.

2. Das Urteil unterliegt gemäß § 338 Nr. 5 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG der Aufhebung, weil entgegen § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG, § 46 Abs. 1 OWiG an der Hauptverhandlung kein Dolmetscher für den Zeugen J. teilgenommen hat.

a) Nach § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG, der auch im gerichtlichen Bußgeldverfahren gilt (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 22. Juli 2015 – 1 Ss (OWi) 118/15, NStZ 2015, 720), ist ein Dolmetscher hinzuzuziehen, wenn unter Beteiligung von Personen verhandelt wird, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Beteiligt in diesem Sinn sind alle Personen, mit denen eine Verständigung mittels der Sprache notwendig ist, dazu gehören auch Zeugen (BayObLG, Beschluss vom 24. September 2004 – 1 St RR 143/04, NStZ-RR 2005, 178 mwN; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 185 GVG Rn. 1).

Ausweislich des Protokolls war in der Hauptverhandlung ein Dolmetscher für den Zeugen J. nicht anwesend, obwohl sich nach den Urteilsfeststellungen während der Vernehmung des Zeugen „erhebliche Verständigungsprobleme“ zeigten, die das Gericht dazu veranlassten, auf eine „weitere Vernehmung“ zu verzichten. Unter derartigen Umständen ist gemäß § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG die Hinzuziehung eines Dolmetschers geboten, auch wenn sich deren Notwendigkeit erst im Verlauf der Vernehmung herausstellt (BayObLG aaO).

b) Eine andere Bewertung der Verfahrensweise ergibt sich auch nicht daraus, dass es sich um einen mitgebrachten („sistierten“) Zeugen handelte und ein Beweisantrag nicht gestellt wurde.

Zwar gelten die besonderen Regeln für präsente Beweispersonen nach § 245 Abs. 2 StPO nur, wenn diese vom Betroffenen förmlich nach § 38 StPO unter Einschaltung eines Gerichtsvollziehers zur Hauptverhandlung geladen werden und zudem ein förmlicher Beweisantrag gestellt wird. Die Aufklärungspflicht des Gerichts (§ 77 Abs. 1 OWiG) wird durch § 245 Abs. 2 StPO indes nicht eingeschränkt. Wenn es der Sachaufklärung dient, muss das Gericht von Amts wegen jedes erreichbare Beweismittel ausschöpfen, auch wenn ein förmlicher Beweisantrag nicht gestellt wird oder die Anwesenheit der Beweisperson nicht in der gesetzlich geforderten Form bewirkt wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 1981 – 1 StR 385/81, NStZ 1981, 401; Becker in: Löwe-Rosenberg StPO 27. Aufl. § 245 Rn. 7).

Hier hat das Amtsgericht der Beweisanregung des Betroffenen stattgegeben und den von ihm mitgebrachten Zeugen J. vernommen. Es hat damit zu erkennen gegeben, dass es die Vernehmung des Zeugen für sachdienlich erachtet. Die Annahme, dass die Vernehmung des Zeugen der gebotenen Sachaufklärung dient, hat sich auch spätestens in dem Moment bestätigt, als der Zeuge bekundet hat, er sei Beifahrer des Betroffenen – mithin unmittelbarer Tatzeuge – gewesen. Vor diesem Hintergrund war es rechtlich geboten, die Vernehmung des Zeugen ordnungsgemäß und vollständig durchzuführen. Dass sich das Amtsgericht daran aufgrund erheblicher Verständigungsprobleme gehindert sah, rechtfertigt es nicht, die Vernehmung abzubrechen und den möglichen Entlastungsbeweis nicht weiter zu erheben. Die Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung gebietet auch die erschöpfende Nutzung der zugezogenen Beweismittel; gehörte Beweispersonen müssen so vernommen werden, dass sie ihr ganzes verfahrenserhebliches Wissen offenbaren (vgl. BGH, Urteil vom 24. April 1997 – 4 StR 23/97, BGHSt 43, 63, 64; BayObLG aaO; Becker aaO § 244 Rn. 64 mwN). Das Unterbleiben einer erschöpfenden Vernehmung des Zeugen ergibt sich im vorliegenden Fall aus den Urteilsgründen selbst und ist deshalb der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht ohne eine – regelmäßig unzulässige – Rekonstruktion der Beweisaufnahme zugänglich. Soweit das Gericht auf eine weitere Vernehmung verzichtet hat, nachdem der Zeuge „konkrete Erinnerungen an die Örtlichkeiten“ nicht habe mitteilen können, ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen, ob und auf welche Weise das Gericht mit Blick auf die festgestellten erheblichen Verständigungsprobleme sichergestellt hat, dass der Zeuge die Frage richtig verstanden hat.

c) Da die Hauptverhandlung somit in Abwesenheit einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz (§ 185 Abs. 1 Satz 1 GVG) vorschreibt, stattgefunden hat, besteht der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO (BayObLG aaO; Wickern in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. § 185 GVG Rn. 37). Dieser gilt nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG auch im Rechtsbeschwerdeverfahren (vgl. KK/OWiG-Hadamitzky § 79 Rn. 109 mwN).“

M.E. zutreffend. Denn „Wer A sagt, muss auch B“ sagen = wen sich das Gericht entschieden hat, den „gestellten“ Zeugen zu vernehmen, dann ist es an diese Entscheidung gebunden und kann dan nicht – ohne Gründe – davon abweichen, hier weil es ohne Dolmetscher zu schwierig wurde.

Pflichti III: Täter/Opfer bei einer „körperlichen Auseinandersetzung, oder: Zumindest dann Pflichtverteidiger

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Die dritte Pflichtverteidigungsentscheidung kommt mit dem LG Leipzig, Beschl. v. 01.07.2019 – 1 Qs 138/19 – heute dann noch einmal aus dem Osten. Sie behandelt die Bestellung eines Pflichtverteidigers für einen ausländischen Beschuldigten im Fall der Körperverletzung, wenn er zugleich Täter und Opfer sein soll. Das AG hatte abgelehnt, das LG ordnet mit der Begründung: Sonderfall, bei:

„Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln gegen den Angeklagten wegen Vorwürfen der Körperverletzung und der Beleidigung.

Insoweit erließ das Amtsgericht Torgau am 26.04.2019 einen Strafbefehl, mit dem dem Angeklagten folgender Sachverhalt zur Last gelegt wurde:

„Am 20.02.2019 gegen 1900 Uhr verletzten Sie auf der Bahnhofstraße in 04758 Oschatz den pp., indem Sie den Geschädigten in das Gesicht und in den Bauch schlugen. Hierdurch erlitt der Geschädigte, wie von Ihnen zumindest vorhergesehen und billigend in Kauf genommen, eine blutende Nase, eine Verletzung an der Unterlippe sowie eine blutende Wunde am linken Zeigefinger. Dann bezeichneten Sie den Geschädigten mit den Worten „Hure“ und „Zuhälter“, um ihre Missachtung auszudrücken. … „

Als Rechtsfolge sollte eine Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen zu je 30 € festgesetzt werden.

Der Angeklagte legte mit Verteidigerschriftsatz vom 16.05.2019 Einspruch ein und beantragte die Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger. Dabei wurde umfangreich darauf hingewiesen, dass der Angeklagte als ausländischer Staatsangehöriger mit den Gepflogenheiten des deutschen Prozessrechts nicht ausreichend vertraut sei, eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliege und die Probleme im Rahmen einer Beweiswürdigung nicht durch die Beiordnung eines Dolmetschers gelöst werden könnten.

Darüber hinaus trug der Verteidiger vor, dass auch gegen das mutmaßliche Opfer ein Ermittlungsverfahren wegen dieses Sachverhalts anhängig sei (Az.: 951 Js 13845/19), weswegen zur Klärung des komplexen Sachverhaltes der Angeklagte eines Verteidigers bedürfe.

Durch den angefochtenen Beschluss vom 08.06.2019 wies das Amtsgericht Torgau den Antrag, dem Angeklagten einen notwendigen Verteidiger zu besteilen, zurück. Dabei wies das Gericht darauf hin, dass den Belangen des Angeklagten, insbesondere hinsichtlich der Sprachprobleme durch die Beiziehung eines Dolmetschers ausreichend begegnet werden könne. Auch sei die angeklagte Tat dem Kulturkreis des Angeklagten sicherlich nicht fremd. Eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage sei nicht zu erkennen.

Gegen diesen Beschluss wandte sich der Angeklagte mit der durch Verteidigerschriftsatz vom 13.06.2019 erhobenen Beschwerde, in dem nochmals auf das „Gegenverfahren“ des in diesem Fall mutmaßlich Geschädigten hingewiesen wurde.

Die zulässige Beschwerde ist auch begründet und führt vorliegend zur Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als notwendiger Verteidiger des Angeklagten.

Dem Amtsgericht Torgau ist zunächst insoweit Recht zu geben, dass die von dem Verteidiger vorgetragenen Argumente hinsichtlich möglicher Sprachbarrieren, anderen Kulturkreises u.a. nicht zu überzeugen vermögen. Der Angeklagte befindet sich seit mehreren Jahren in der Bundesrepublik. Auch sind Vorwürfe der Körperverletzung und Beleidigung auch dem Kulturkreis des Angeklagten in keine Weise fremd, wobei die „Besonderheiten“ des deutschen Straf- und Strafprozessrecht dem Angeklagten mittels eines Dolmetschers sicherlich problemlos vermittelt werden können. Auch der Umstand, dass eine mögliche Aussage-gegen-Aussa¬ge-Konstellation vorliegen könnte – der Angeklagte hat allerdings im Rahmen dieses Verfahren bisher von seinem Recht zu schweigen Gebrauch gemacht – rechtfertigt keine andere Entscheidung. Wollte man die Argumentation des Verteidigers zu dieser Problematik übernehmen, müsste quasi in jedem Fall, in dem ein Angeklagter nicht vollumfänglich gesteht, diesem einen Pflichtverteidiger beigeordnet werden. Dies ist von dem Gesetzgeber und der Ausgestaltung des § 140 StPO ersichtlich nicht gewollt. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass der Sachverhalt als solches übersichtlich ist, bereits auf Blatt 20 der Akte sich der Strafbefehl befindet und eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage, die gemäß § 140 Abs. 2 StPO die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebieten könnte, nach Aktenlage – isoliert betrachtet für dieses Verfahren – erkennbar nicht vorliegt.

Allerdings hatte die Kammer vorliegend folgende Besonderheit zu berücksichtigen:

Gegen den in dem hier gegenständlichen Verfahren mutmaßlich Geschädigten pp. hat die Staatsanwaltschaft Leipzig ebenfalls am 11.04.2019 folgende Anklageschrift erhoben (Az.: 951 Js 13845/19):

„Am 20.02.2019 gegen 19.00 Uhr verletzte der Angeschuldigte auf der Bahnhofstraße in 04758 Oschatz den pp., in dem der Angeschuldigte mehrfach mit dem Fuß gegen den Brustkorb des Geschädigten trat. Sodann würgte der Angeschuldigte den Geschädigten mit einem Schal, sodass der Geschädigte in der Folge etwa 30 Sekunden bewusstlos war. Währenddessen schrie der Angeschuldigte zu dem Geschädigten die Worte: „Ich bringe dich um“. Hierdurch erlitt der Geschädigte, wie von dem Angeschuldigten zumindest vorhergesehen und billigend in Kauf genommen, eine Fraktur des Brustbeins, eine Thoraxprellung, eine Verstauchung und Zerrung der Halswirbelsäule, Prellungen des Handgelenks und der Hand sowie eine Quetschung an Zahn 42 und eine Bis 2 Fraktur am Zahn 41. Aufgrund der Verletzungen, die seitens des behandelnden Arztes zunächst als lebensbedrohlich eingestuft wurden, wurde der Geschädigte stationär in der pp.-Klinik in Oschatz behandelt. Der Angeschuldigte nahm dabei zumindest billigend in Kauf, dass der Geschädigte durch die Tat lebensgefährliche Verletzungen davonträgt.“

Die Staatsanwaltschaft wertete diesen Sachverhalt als gefährliche Körperverletzung gemäß §§ 224 Abs. 1 Nr. 5, 223 Abs. 1 StGB. Insoweit geht die Staatsanwaltschaft offensichtlich von dem zeitgleichen Sachverhalt aus, wobei die beiden Kontrahenten der Auseinandersetzung einmal als Angeklagte, einmal als Opfer bezeichnet werden.

Der Kammer ist bewusst, dass gerade im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung möglicherweise beide Kontrahenten sich strafbar gemacht haben könnten. Allerdings erschließt sich der Kammer vorliegend nicht, inwieweit gerade im Falle auch der Anklageerhebung gegen beide Kontrahenten – erhoben durch denselben Staatsanwalt – keine Überlegungen zu möglichen Verteidigungsverhalten, Beginn der Auseinandersetzung u.a. ersichtlich sind. Dies gilt umso mehr, als bereits im Schlussbericht auf Blatt 14 der Akte auf die Gegenanzeige und die dort vorhandenen möglichen Angaben des Beschuldigten hingewiesen worden ist.

Insoweit sind ausnahmsweise unter dieser besonderen Konstellation – Anklageerhebung unter wechselnder Schuldzuweisung < Täter-Opfer > die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO gegeben, weshalb aufgrund des Fehlens sonstiger Gesichtspunkte, die für eine Pflichtverteidigung sprechen könnten, für diesen Sonderfall die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten war. Insoweit war Rechtsanwalt pp. zu bestellen, da in seiner Person Gründe, die der Beiordnung entgegenstehen könnten, nicht ersichtlich sind.“

In meinen Augen hat die Kammer gerade noch einmal die Kurve bekommen. Denn für mich hätten schon die übrigen Gründe gereicht, dem Beschuldigten einen Pflichtverteidiger zu bestellen. Aber das war offensichtlich nicht gewollt.

Kleine Anmerkung zur Kostenentscheidung: Die lautet: „Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last“, was zutreffend ist. Allerdings beruht die Kostenentscheidung dann nicht auf § 465 StPo, wie die Kammer im Beschluss ausführt, sondern wohl auf § 467 StPO. Kann passieren (?).

Pflichti I: Der sprachunkundige Syrer, oder: Dolmetscher als Allheilmittel

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So, heute dann „Pflichtverteidigungsentscheidungenabarbeitungstag“. Und den beginne ich mit dem LG Heilbronn, Beschl. v. 21.01.2019 – 8 Qs 2/19. Er behandelt die Frage der „Unfähigkeit zur Selbstverteidigung“ bei einem Syrer, dem ein Verstoß gegen BtMG vorgeworfen wird. Das LG sagt: Pflichtverteidiger bekommst du nicht:

„Die für eine Bestellung erforderlichen Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung liegen nicht vor. Weder ist ein Katalogtatbestand nach § 140 Abs. 1 StPO gegeben, noch erscheint die Mitwirkung eines Verteidigers nach der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO geboten.

Die Sach- und Rechtslage stellt sich nicht als schwierig dar. Hieran vermag vorliegend auch die Zahl der Aktenseiten nichts zu ändern.

Ferner sind auch die voraussichtlichen Rechtsfolgen nicht als schwerwiegend einzustufen. Die hierzu ergangene, mittlerweile als verfestigt anzusehende höchstrichterliche Rechtsprechung nimmt dies regelmäßig ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe an, die vorliegend nicht in Rede steht (statt vieler OLG Zweibrücken, Beschluss vom 13. August 2018 – 1 Ws 179/18 -, juris).

Zuletzt ist auch kein Umstand ersichtlich, aufgrund dessen der Angeschuldigte unfähig wäre sich selbst zu verteidigen.

Aus mangelnden Kenntnissen der deutschen Sprache kann die Notwendigkeit der Verteidigung regelmäßig nicht hergeleitet werden. Diese sind vielmehr durch die Hinzuziehung eines geeigneten Dolmetschers zu überwinden.

Auch das zusätzliche Entstammen aus einem anderen Kulturkreis und die fehlende Vertrautheit mit dem deutschen Rechtssystem vermögen eine Unfähigkeit zur Selbstverteidigung nur dann zu begründen, wenn weitere Umstände, wie beispielhaft der erhöhte Schwierigkeitsgrad der Sach- und Rechtslage, dies gebieten, welche durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht angemessen ausgeglichen werden können (OLG Karlsruhe StraFo 2005, 370; LG Mainz, Beschluss vom 29. Dezember 2017 – 3 Qs 43/17 -, juris). Derartige Umstände sind jedoch in dem vorliegend einfach gelagerten Fall nicht gegeben.

Soweit der Angeklagte vorträgt, er benötige einen Dolmetscher für die syrische Sprache und der seitens des Gerichtes bislang geladene Dolmetscher für arabisch sei unzureichend, wird dem ggfs. durch die Heranziehung eines anderen Dolmetschers zu begegnen sein.“

Na, ob das so richtig ist, wage ich dann doch zu bezweifeln. Der Dolmetscher als Allheilmittel.

Pflichti II: Ausländer und polizeiliche Belastungszeugen, oder: Unfähigkeit der Selbstverteidigung

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Die zweite Entscheidung kommt vom LG Dortmund. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem dem Angeklagten ein tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit (einfacher) Körperverletzung zur Last gelegt wird. Das LG nimmt in dem LG Dortmund, Beschl. v. 21.03.2019 – 35 Qs 9/19– zur Frage der Bestellung eines Pflichtverteidigers Stellung, wenn in dem Verfahren gegen einen Ausländer, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, polizeiliche Belastungszeugen eine Rolle spielen. Das LG ordnet bei:

„Gemäß § 140 Abs. 2 S. 1 StPO wird dem Angeklagten ein Verteidiger bestellt, wenn dessen Mitwirkung wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann.

Der Angeklagte kann sich dann nicht selbst verteidigen, wenn aus Gründen, die in seiner Person liegen oder die sich aus den Umständen ergeben, nicht gesichert erscheint, dass er in der Lage ist, der Verhandlung zu folgen, seine Interessen zu wahren und alle seiner Verteidigung dienenden Handlungen vorzunehmen. Eine Pflichtverteidigerbestellung ist schon dann notwendig, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (OLG Frankfurt StV 1984, 370; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Auflage, § 140 Rn. 30). Das wird vielfach bei Ausländern, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, der Fall sein (OLG Frankfurt StV 2008, 291; OLG Stuttgart NStZ-RR 2004, 338; LG Kiel StraFo 2004, 381; KG StV 1985, 184: wenn Dolmetscher nicht ausreichend).

Die Hinzuziehung eines Dolmetschers zur Hauptverhandlung genügt als Ausgleich jedenfalls nicht, wenn mehrere Zeugen vernommen werden sollen, widersprüchliche Aussagen zu erwarten sind und es daher auch auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen ankommt. Hier kann der Angeklagte auch mit Hilfe eines Dolmetschers nicht die Zeugenaussagen kritisch hinterfragen und etwaige Widersprüche aufzeigen (LSK 1998, 60623, beck-online; KK-StPO/LaufhüttelWillnow, 7. Aufl. 2013, StPO § 140 Rn. 24).

So liegt es hier. Der Angeklagte hat in seiner Beschuldigtenvernehmung vom 19.11.2018 (Blatt 22 – 23 der Akte) die ihm zur Last gelegten Tatvorwürfe vollumfänglich bestritten und angegeben, es habe in der Tatnacht eine Auseinandersetzung zwischen seinen zwei Begleitern gegeben. Er habe die beiden trennen wollen und deswegen den „Wir (Anm.: gemeint ist der Zeuge pp.) weggeschubst. Dieser sei jedoch — wie er selbst – betrunken gewesen und hingefallen. Er habe über dem all gestanden, aber „nichts gemacht“. Plötzlich habe er eine Hand auf seiner Schulter gespürt, er habe die Polizei aber vorher nicht herankommen hören. Er habe sich dann umgedreht und nur „die Arme oben“ gehabt, auf Schulterhöhe. Dann habe er auch schon auf dem Boden gelegen und Pfefferspray im Gesicht gehabt. Er habe „nicht mehr reagiert“. Er sei nicht aggressiv gewesen, sondern habe nur Schmerzen wegen des Pfeffersprays gehabt. Der Zeuge pp. hat diese Angaben des Angeklagten zum äußeren Tatgeschehen in seiner Vernehmung vom 20.12.2018 (Blatt 29— 30 der Akte) weitestgehend bestätigt.

Der den Angeklagten belastende Zeuge PKW.. hat in seiner Strafanzeige vom 30.07.2017 (Blatt 1 — 4 der Akte) der Einlassung des Angeklagten und der Aussage des Zeugen pp., diametral entgegenstehende Angaben gemacht und bekundet, von dem Angeklagten mit der Außenseite des linken Armes gegen den Schulter-/Halsbereich geschlagen und weggestoßen worden zu sein. Zuvor habe der
Angeklagte ihn — den Zeugen — von hinten umklammert und gegen eine Hauswand gedrückt. Ein weiteres Mal habe der Angeklagte in Richtung seines Gesichts geschlagen und ihn nur verfehlt, weil er zurück gewichen sei. Die Zeugen PK pp. und PK pp. haben sich in ihren dienstlichen Äußerungen vom 21.12.2018 und 22.12.2018 (Blatt 31, 32 der Akte) der Sachverhaltsschilderung des Zeugen PK pp. angeschlossen.

Ferner ist die Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht ausreichend, wenn die Annahme verminderter Schuldfähigkeit in Betracht kommt (KG Berlin, Beschluss vom 15. März 1990 — 1 AR 153/904 Ws 42/90 —, juris). Aufgrund des Umstandes, dass der Angeklagte am Tattag um 01:26 Uhr eine Atemalkoholkonzentration von 0,80 mg/I (entspricht ca. einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 %o) aufwies, kann ¬vorbehaltlich der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung — nicht ausgeschlossen werden, dass die Annahme verminderter Schuldfähigkeit in Betracht kommt. Denn bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit dürfen festgestellte BAK-Werte nicht schematisch auf die Schuldfähigkeits-Grade übertragen werden. Entscheidend ist vielmehr eine Gesamtbewertung der objektiven und subjektiven Umstände des Tatgeschehens und der Persönlichkeitsverfassung des Täters vor, während und nach der Tat (Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 20 Rn. 17). So kann verminderte Schuldfähigkeit schon bei Werten unter 2 %o zu bejahen oder jedenfalls zu prüfen sein, so z.B. bei alkoholbedingten Ausfallerscheinungen (BGH MDR/H 90, 678; Schönke/Schröder/Perron/Meißer, 30. Aufl. 2019, StGB § 20 Rn. 16c-16e).“

Ablehnung der Dolmetscherin, oder: Die Dolmetscherin als psychosoziale Prozessbegleiterin?

entnommen wikimedia.org
Author Affemitwaffe

Über das BGH, Urt. v. 04.07.2018 – 2 StR 485/17 habe ich ebenfalls bereits berichtet. Das ist das Verfahren mit dem Vorwurf der Vergewaltigung, in dem u.a. mit der Verfahrensrüge ein Beweisverwertungsverbot gegen die Verwertung eines „belauschten“ Verteidigergesprächs geltend gemacht worden war (vgl. Verteidiger III: Das “belauschte” Verteidigergespräch, oder: Mund halten, aber immer und überall.).

Ich komme dann heute auf dieses Urteil des BGH noch einmal zurück. Geltend gemacht war nämlich auch noch eine Verletzung von § 191 GVG in Verbindung mit §§ 74 Abs. 1, 24 Abs. 1 StPO dadurch, dass das Landgericht die Ablehnung der bei der Vernehmung der Nebenklägerin hinzugezogenen Dolmetscherin wegen Besorgnis der Befangenheit zu Unrecht zurückgewiesen habe. Auch die Rüge hatte keinen Erfolg:

Der Rüge lag Folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

„Im Termin zur Fortsetzung der Hauptverhandlung am 22. Mai 2017 erschien die Dolmetscherin F. und berief sich auf ihren allgemein geleisteten Dolmetschereid. Sie war sodann bei der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin anwesend und übertrug deren Äußerungen aus der polnischen Sprache ins Deutsche. Am nächsten Sitzungstag, dem 28. Juni 2017, lehnte der Beschwerdeführer die Dolmetscherin wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Diese habe schon am vorangegangenen Verhandlungstag während der Vernehmung der Nebenklägerin dieser den Arm um die Schultern gelegt, um sie zu trösten; am 8. Juni 2017 habe sie ihr bei einer Fortsetzung der Vernehmung Taschentücher gereicht und gut zugeredet. Außerdem habe sie in Sitzungspausen vor dem Gerichtsgebäude mit der Nebenklägerin und deren anwaltlichen Beistand gesprochen. Schließlich sei die Dolmetscherin am 8. Juni 2017 nach Abschluss der Vernehmung der Nebenklägerin zwischen 16.32 Uhr und 16.34 Uhr beobachtet worden, wie sie auf einer Treppe neben der Nebenklägerin gesessen, den Arm um diese gelegt und tröstend auf sie eingeredet habe. Schließlich sei zu beanstanden, dass die Dolmetscherin ihre Übersetzung mit Wertungen versehen habe.“

Dazu der BGH:

„bb) Die Verfahrensrüge ist unbegründet.

(1) Nach § 191 GVG gelten für die Ablehnung eines Dolmetschers die Regeln über die Ablehnung eines Sachverständigen entsprechend. Gemäß § 74 Abs. 1 StPO sind auf den Sachverständigen wiederum die Vorschriften über die Richterablehnung entsprechend anzuwenden.

Anders als bei der Richterablehnung prüft das Revisionsgericht bei der Sachverständigen- und Dolmetscherablehnung nicht selbständig, ob die Voraussetzungen für die Ablehnung des Sachverständigen oder Dolmetschers wegen Besorgnis der Befangenheit im konkreten Fall vorliegen. Es hat vielmehr nach revisionsrechtlichen Grundsätzen zu entscheiden, ob das Ablehnungsgesuch ohne Verfahrensfehler und mit ausreichender Begründung zurückgewiesen worden ist. Das Revisionsgericht ist dabei an die vom Tatrichter festgestellten Tatsachen gebunden (vgl. zur Dolmetscherablehnung BGH, Beschluss vom 28. August 2007 – 1 StR 331/07, NStZ 2008, 50; zur Sachverständigenablehnung Senat, Beschluss vom 23. März 1994 – 2 StR 67/94, BGHR StPO § 74 Ablehnungsgrund 3; BGH, Beschluss vom 22. Juli 2014 – 3 StR 302/14, BGHR StPO § 74 Abs. 1 Satz 1 Befangenheit 6).

(2) Danach ist kein Rechtsfehler der Entscheidung über die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs festzustellen.

In der Verweisung des § 191 GVG auf § 74 StPO und von dort auf § 24 Abs. 1 StPO kommt der gesetzgeberische Wille zum Ausdruck, die inhaltlichen Grundsätze zur Richter- und Sachverständigenablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit auf Dolmetscher zu übertragen. Eine Dolmetscherablehnung ist danach begründet, wenn vom Standpunkt des Antragstellers aus objektive Gründe bestehen, die Zweifel an der Unparteilichkeit des als Gehilfe des Gerichts herangezogenen Sprachmittlers erregen. Bei der Anwendung dieser Maßstäbe ist allerdings die besondere Funktion und Stellung des abgelehnten Dolmetschers zu berücksichtigen. Einerseits ist dieser verpflichtet, so vollständig und wortgetreu zu übersetzen, dass das rechtliche Gehör der Verfahrensbeteiligten gewahrt bleibt; bei der Erfüllung dieser Aufgabe ist ihm kein Ermessen oder ein sonstiger Entscheidungsspielraum eingeräumt (vgl. Kissel/Mayer, GVG, 9. Aufl. 2018, § 185 Rn. 10). Andererseits kann seine Tätigkeit von den Verfahrensbeteiligten regelmäßig nur schwer kontrolliert werden mit der Folge, dass deren berechtigtes Vertrauen in die Integrität und Unparteilichkeit des Dolmetschers besonderen Schutzes bedarf.

Danach ist die Annahme des Landgerichts, ein Ablehnungsgrund liege nicht vor, rechtlich nicht zu beanstanden. Dafür ist es von Bedeutung, dass die Dolmetscherin in einer besonderen Kommunikationsbeziehung zu der Nebenklägerin stand, deren Äußerungen aus dem Polnischen zu übertragen waren. Die Nebenklägerin befand sich in einer angespannten psychischen Verfassung, sie hatte Weinkrämpfe und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Bei dieser Sachlage ist das Landgericht rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, es sei nur ein Anzeichen von Mitgefühl, wenn die Dolmetscherin der Nebenklägerin den Arm um die Schulter legte und ihr Trost zusprach. Auswirkungen auf die Richtigkeit der Übertragung, die zurzeit der zuletzt beschriebenen Szene bereits beendet war, hat das Landgericht ausgeschlossen, nachdem es die Bedeutung einzelner Begriffe hinterfragt hatte; auch dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern.“

Na ja: Mir scheint, als habe die Dolmetscherin sich mehr als psychosoziale Prozessbegleiterin gesehen, so dass die Besorgnis (!) der Befangenheit aus Sicht des Angeklagten vielleicht doch nicht so fern liegt.