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U-Haft I: Was ist eine kleine Verfahrensverzögerung?, oder: Dauerhafte Überlastung des Gerichts

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Ich mache heute dann einen „Hafttag“, und zwar mit zwei verfassungsgerichtlichen Entscheidungen und einem OLG-Beschluss zur Telefonerlaubnis.

Ich beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 17.01.2024 – 2 BvR 1756/23. Ergangen ist der Beschluss in einem in Schleswig-Holstein anhängigen Verfahren.In dem wird dem Angeklagten, der sich seit dem 04.05.2023 aufgrund eine auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls ununterbrochen in Untersuchungshaft befindet, in 14 tatmehrheitlichen Fällen, davon in vier Fällen gemeinschaftlich handelnd, jeweils unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben und davon in drei Fällen Betäubungsmittel in nicht geringer Menge eingeführt zu haben.

Die StA hat am 31.05.2023 Anklage zum LG Itzehoe erhoben. Mit Verfügung vom 26.10.2023 legte der Vorsitzende der zuständigen großen Strafkammer die Akten dem OLG zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft nach § 121, § 122 Abs. 1 StPO vor. Zur Begründung führte der Vorsitzende aus, die Kammer sei aufgrund einer vorübergehenden Überlastung durch andere Haftsachen, insbesondere vier bereits vor der Anklage in dieser Sache eingegangene umfangreiche Schwurgerichtsverfahren, bereits rein terminlich an der Durchführung einer Hauptverhandlung vor Fristablauf gehindert. Eine Eröffnungsentscheidung sei insbesondere auch deshalb zurückgestellt worden, weil eine Terminierung der Hauptverhandlung im Jahr 2023 nicht durchführbar erschienen sei. Der Beginn der Hauptverhandlung sei ab dem 23.01.2024 vorgesehen.

Der Verteidiger des Angeklagten hat imHaftprüfungsverfahren die Aufhebung des Haftbefehls verlangt, da der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verletzt sei. Aus anderen Verfahren sei bekannt, dass die Strafkammer bereits seit 2022 dauerhaft mit Haftsachen ausgelastet sei. Mit Beschluss vom 10.11.2023 hat das OLG die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Die Haftfortdauer über sechs Monate hinaus sei aus wichtigem Grund gerechtfertigt und auch nicht unverhältnismäßig. Zur Begründung schloss sich das OLG den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft an: Es sei der bei der Jahresgeschäftsverteilung 2023 nicht vorhersehbaren ungewöhnlich hohen Belastung der Kammer geschuldet, dass der Beginn der Hauptverhandlung erst ab dem 23.01.2024 vorgesehen sei. Die Kammer verhandele derzeit zwei umfangreiche Schwurgerichtsverfahren mit 77 beziehungsweise 127 in den Anklagen benannten Zeugen, weshalb Hauptverhandlungstermine nicht mehr zur Verfügung stünden. Bis Jahresende müsse die Kammer eine weitere, bereits länger eingegangene Haftsache gegen einen minderjährigen Angeklagten verhandeln. Die kurzfristige Überlastung der Kammer beruhe nicht auf gerichtsorganisatorischen Gründen, so dass die Verfahrensverzögerung insbesondere angesichts der Schwere der dem Angeschuldigten vorgeworfenen Straftaten keinen durchgreifenden Bedenken begegne. Das OLG führte am Ende seines Beschlusses aus, ein Schriftsatz der Verteidigung vom 09.11.2023 dem Senat vorgelegen habe.

Der Angeklagte hat Verfassungsbeschwerde erhoben und mit der eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebotes im Zwischenverfahren geügt. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angeommen.

Nach Auffassung des BVerfG ist zwar, soweit der Angeklagte die Haftfortdauerentscheidung des OLG angreift, zwar der Rechtsweg erschöpft, weil eine Anhörungsrüge nur im Falle der Geltendmachung einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zum Rechtsweg gehört (vgl. BVerfGE 122, 190, 198; 126, 1, 17; 134, 106, 113 Rn. 22). Die Erhebung einer Anhörungsrüge sei hier jedoch mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde geboten gewesen.

Dazu nur der Leitsatz zu der Entscheidung:

Der Subsidiaritätsgrundsatz (§ 90 Abs 2 S 1 GG) verlangt die Erhebung einer Anhörungsrüge im fachgerichtlichen Verfahren auch dann, wenn mit der Verfassungsbeschwerde zwar keine Verletzung des Gehörsanspruchs (Art 103 Abs 1 GG) gerügt werden soll, den Umständen nach jedoch ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte naheliegt und zu erwarten ist, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden.

Nach Auffassung des BVerfG wäre das OLG zu Ausführungen dazu verpflichtet gewesen, weshalb es das substantiierte Kernvorbringen des Verteidigers in dessen Schriftsatz vom 09.11.2023 gegen die Fortdauer der Untersuchungshaft für nicht relevant oder überzeugend hielt. Mit dieser Anhörungsrüge hätte der Angeklagte die Möglichkeit gewahrt, dass eine Grundrechtsverletzung durch dasOLG selbst beseitigt wird.

Zur Sache führt das BVerfG dann aber trotz der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde dennoch aus, und zwar:

„3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird den verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht gerecht. Das Verfahren wurde nach Eingang der Anklageschrift beim Landgericht nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs gebotenen Zügigkeit gefördert.

a) Es handelt sich bei der hier eingetretenen Verzögerung nicht um eine nur kleinere Verfahrensverzögerung, die entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18 -, Rn. 29). Das Landgericht hatte trotz Ablaufs von mehr als fünf Monaten seit dem Eingang der Anklage am 31. Mai 2023 noch nicht über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 199 ff. StPO) entschieden. Anhaltspunkte dafür, dass jedenfalls nach Ablauf der Frist zur Stellungnahme des Beschwerdeführers am 4. Juli 2023 noch keine Eröffnungsreife vorgelegen haben könnte, sind nicht ersichtlich. Noch ausstehende Ermittlungen sind nicht genannt. Die Bezeichnung dieser Verzögerung im angefochtenen Beschluss als „kurzfristig“ ist nicht nachvollziehbar.

b) Die vom Oberlandesgericht für die Verzögerung im Zwischenverfahren angeführten Gründe rechtfertigen den Eingriff in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG nicht.

Die „ungewöhnlich hohe Belastung der Kammer“ durch bereits vor der Anklage des Beschwerdeführers eingegangene Schwurgerichtsverfahren stellen vom Beschwerdeführer nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte Umstände dar. Diesen Umständen kann zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nicht allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung entgegengehalten werden (vgl. BVerfGK 7, 140 <155 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 51; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 2020 – 2 BvR 225/20 -, Rn. 61; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1853/20 -, Rn. 28). Da die Überlastung eines Gerichts in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft fällt, kommt es jedenfalls angesichts der hier gegebenen, nicht nur kurzfristigen Überlastung auf deren Vorhersehbarkeit nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18 -, Rn. 30).

Der vom Oberlandesgericht für die Verzögerung zusätzlich angeführte Umstand, der Kammer stünden vor dem Sechsmonatstermin keine Hauptverhandlungstermine mehr zur Verfügung, stellt bereits keine schlüssige Begründung dafür dar, weshalb zumindest eine Eröffnung des Hauptverfahrens noch nicht hatte erfolgen können. Auch im Zwischenverfahren muss das Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit gefördert werden, um bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10 -, Rn. 15; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1853/20 -, Rn. 27 m.w.N.). Jedenfalls kann allein die Üblichkeit, die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Verfügung des Vorsitzenden über die Terminierung der Hauptverhandlung zeitlich zusammen vorzunehmen, keine Verzögerung einer Eröffnungsentscheidung rechtfertigen, sollte eine Terminierung der Hauptverhandlung noch nicht möglich sein.“

BVerfG II: Erfolglose VB im Klageerzwingungsverfahren, oder: Hat sich das OLG mit der Sache befasst?

Mit der zweiten Entscheidung des BVerfG, die ich vorstelle, wird ein Klageerzwingungsverfahren abgeschlossen, das beim OLG Oldenburg anhängig war. Das OLG hatte den Klageerzwingungsantrag mit dem OLG Oldenburg, Beschl. v. 24.02.2022 – 1 Ws 360/21 – zurückgewiesen. Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die das BVerfG mit dem BVerfG, Beschl. v. 20.12.2023 – 2 BvR 559/22 – nicht zur Entscheidung angenommen hat.

Das BVerfG führt aus:

BVerfG I: VB gegen abgelehnte Wiederaufnahme, oder: Klatsche für GBA und OLG Frankfurt aus Karlsruhe

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Und dann auf die in 5. KW., und zwar mit zwei Entscheidungen des BVerfG.

Zunächst weise ich hin auf den  BVerfG, Beschl. v.  04.12.2023 – 2 BvR 1699/22. Auf den ist ja in der vergangenen Woche schon an verschiedenen Stellen hingewiesen worden. Es handelt sich um die (teilweise) erfolgreiche Verfassungsbeschwerde einer rechtskräftig verurteilten Frau gegen die Ablehnung einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens durch das OLG Frankfurt am Main, und zwar durch den OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 08.07.2022 – 1 Ws 21/22.

Ich mache es mir mit der Sache einfach, vor allem auch weil der Beschluss des BVerfG so umfangreich ist, dass man ihn hier kaum vorstellen kann. Ich nehme also nur die Pressemitteilung des BVerfG und verweise im Übrigen auf den verlinkten Volltext der Entscheidung.

In der PM heißt es:

„Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde einer wegen Mordes rechtskräftig Verurteilten teilweise stattgegeben. Diese wendet sich gegen die fachgerichtliche Ablehnung einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt hatte.

Das Recht auf ein faires Verfahren ist verletzt, wenn Zweifel an der Unparteilichkeit eines Gerichts durch objektive Kriterien begründet sind. War ein Richter mit der Tat in einem früheren Verfahren gegen andere Tatbeteiligte befasst, können sich solche Kriterien bereits aus dem früheren Urteil ergeben.

Die Beschwerdeführerin wurde wegen Mordes an ihrem damaligen Ehemann zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. An dem Urteil wirkte ein Richter mit, der auch schon an der Verurteilung des ehemaligen Lebensgefährten der Beschwerdeführerin wegen derselben Tat mitgewirkt hatte. Nachdem der EGMR aufgrund dieser Mitwirkung einen Konventionsverstoß festgestellt hatte, beantragte die Beschwerdeführerin die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen sie. Das Landgericht lehnte dies ab. Das Oberlandesgericht wies die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde als unbegründet zurück. Die Beschwerdeführerin habe nicht dargelegt, dass das Urteil auf dem Konventionsverstoß beruhe.

Das Oberlandesgericht hat den allgemeinen Justizgewährungsanspruch der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) verletzt. Es stellt Anforderungen, die im Fall der Beschwerdeführerin unerfüllbar und unzumutbar sind. Damit erschwert es den Zugang zu einer erneuten Hauptverhandlung in einer Weise, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist.

Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt:

Der ehemalige Lebensgefährte der Beschwerdeführerin wurde 2011 wegen gemeinschaftlichen Mordes an ihrem damaligen Ehemann zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Am Urteil wirkte ein Richter als Berichterstatter mit, der im späteren Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin den Vorsitz führte.

Im Verfahren gegen die Beschwerdeführerin lehnte diese den Vorsitzenden Richter gestützt auf diesen Umstand wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das Ausgangsgericht wies das Ablehnungsgesuch zurück und verurteilte die Beschwerdeführerin im April 2014 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Hiergegen legte die Beschwerdeführerin – jeweils erfolglos – Revision zum Bundesgerichtshof und Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein.

Auf ihre daraufhin erhobene Individualbeschwerde stellte der EGMR wegen der Mitwirkung des Vorsitzenden Richters einen Konventionsverstoß fest. Zwar gebe es nach subjektiven Kriterien keine Anzeichen dafür, dass der Richter im Verfahren gegen die Beschwerdeführerin mit persönlicher Voreingenommenheit vorgegangen wäre. Allerdings seien ihre Zweifel, dass der am Urteil gegen ihren ehemaligen Lebensgefährten mitwirkende Richter bereits zu einer vorgefassten Meinung über ihre Schuld gelangt sei, aufgrund objektiver Kriterien gerechtfertigt. Das Ausgangsgericht habe in diesem früheren Urteil seine Feststellungen die Beschwerdeführerin betreffend als Tatsachen mit entsprechender rechtlicher Einordnung und nicht als reine Vermutungen dargestellt. Dies gehe über das hinaus, was notwendig gewesen sei, um die Tat ihres ehemaligen Lebensgefährten rechtlich einzustufen (EGMR, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17).

Die Beschwerdeführerin beantragte daraufhin beim Landgericht die Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Das Landgericht verwarf den Antrag als unzulässig. Die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 8. Juli 2022 als unbegründet. Zur Begründung führte es unter anderem aus, dass nach dem Gesetzeswortlaut für eine Wiederaufnahme das Urteil auf dem Konventionsverstoß beruhen müsse. Es sei Aufgabe der Beschwerdeführerin, Anhaltspunkte dafür darzulegen, dass sich der Konventionsverstoß auf die Verurteilung ausgewirkt haben könne und ihre Verurteilung bei Beachtung der verletzten Konventionsnorm möglicherweise anders ausgefallen wäre. Der EGMR habe festgestellt, dass von der persönlichen Unparteilichkeit des Richters auszugehen sei. Auch vor diesem Hintergrund habe Vortrag dazu erfolgen müssen, aufgrund welcher Umstände davon auszugehen sei, dass das Urteil auf dem festgestellten Konventionsverstoß beruhe.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts richtet, ist sie zulässig und begründet. Das Oberlandesgericht hat den allgemeinen Justizgewährungsanspruch der Beschwerdeführerin (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt. Es stellt Anforderungen an die Darlegung, dass das Urteil auf dem festgestellten Konventionsverstoß beruhe, die im Fall der Beschwerdeführerin unerfüllbar und unzumutbar sind und damit den Zugang zu einer erneuten Hauptverhandlung in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist.

  1. a) Das Oberlandesgericht fordert von der Beschwerdeführerin eine Darlegung dazu, dass sich im Urteil gegen sie Anhaltspunkte für eine Begründung der Besorgnis der Befangenheit finden. Es sei nicht Aufgabe des Wiederaufnahmegerichts zu untersuchen, ob in dem umfangreichen Urteil gegen sie Feststellungen getroffen oder im Rahmen der Beweiswürdigung Schlüsse gezogen wurden, die auf einer Voreingenommenheit beruhen könnten.

Hiermit verlangt das Oberlandesgericht Anhaltspunkte, die in einem Fall wie dem streitgegenständlichen nicht vorliegen können. Denn in einem Fall der Vorbefassung können sich aus dem späteren Urteil Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts dann ergeben, wenn zum einen Indikatoren gegen die Unparteilichkeit vorliegen und zum anderen solche fehlen, die für sie sprechen. Nach der Rechtsprechung des EGMR spricht für die Unparteilichkeit, dass das im Folgeprozess ergangene Urteil keine Verweise oder Bezugnahmen auf die Feststellungen im früheren Urteil enthält. Umgekehrt spricht die Zitierung von Auszügen aus dem früheren Urteil in der späteren Rechtssache gegen die Unparteilichkeit. Fehlen – wie im vorliegenden Fall – im späteren Urteil gegen die Unparteilichkeit sprechende Gesichtspunkte, können gleichwohl objektiv begründete Zweifel an der Unparteilichkeit bestehen, wenn sich dies aus der Prüfung des früheren Urteils ergibt.

Wird für die Wiederaufnahme nach § 359 Nr. 6 Strafprozessordnung (StPO) dennoch gefordert, trotz der im Urteil des EGMR festgestellten Indikatoren für die Unparteilichkeit im späteren Urteil dem entgegenstehende gegen sie sprechende Anhaltspunkte in eben diesem Urteil darzulegen, wird Unmögliches verlangt. Denn beides schließt sich gegenseitig aus. Enthält ein Urteil keine Verweise oder Bezugnahmen auf Feststellungen im früheren Urteil und beruht es auf einer eigenständigen Beweiserhebung und Beweiswürdigung, können Auszüge aus dem früheren Urteil oder Bezugnahmen auf seine Feststellungen ohne eigene Beweiserhebung und Beweiswürdigung im späteren nicht enthalten sein. Jedenfalls ist eine solche Darlegung unzumutbar. Denn es ist nicht erkennbar, welche hiervon unabhängigen Anhaltspunkte gegen die Unparteilichkeit gemeint sein könnten, wenn die in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Indikatoren im späteren Urteil gerade nicht vorliegen.

In der Sache verkennt das Oberlandesgericht, dass der vom EGMR festgestellte Konventionsverstoß nicht darin liegt, dass (möglicherweise) ein tatsächlich voreingenommener Richter an dem gegen die Beschwerdeführerin geführten Verfahren und an der gegen sie ergangenen Entscheidung beteiligt war, sondern darin, dass ein Richter mitgewirkt hat, bezüglich dessen Unvoreingenommenheit bei objektiver Betrachtung aus Sicht der Beschwerdeführerin gerechtfertigte Zweifel bestanden. Dieser Konventionsverstoß wirkte sich bereits in der Einflussnahme dieses Richters im gegen die Beschwerdeführerin geführten Verfahren als solcher und nicht nur dann aus, wenn eine etwaige Voreingenommenheit in der Entscheidung ihren Niederschlag gefunden hätte.

b) Die vom Oberlandesgericht aufgestellten Anforderungen sind auch sachlich nicht gerechtfertigt.

Wegen der Bedeutung der Rechtskraft ist die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens grundsätzlich nur unter engen Voraussetzungen möglich ist. Dies rechtfertigt jedoch keine Auslegung, durch die bestimmte Fälle, in denen ein Verstoß gegen die EMRK festgestellt wurde, schon dem Grunde nach von einer Wiederaufnahme gemäß § 359 Nr. 6 StPO ausgeschlossen sind. Das wäre indes die Folge der unerfüllbaren Darlegungsanforderungen der Fachgerichte. Sie lassen die Wiederaufnahme schon dem Grunde nach nicht zu, wenn im Fall der Vorbefassung eines Richters der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen objektiv begründeter Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts allein auf Anhaltspunkte im früheren Urteil stützt.

Der Gesetzgeber hat mit § 359 Nr. 6 StPO die Möglichkeit zur Korrektur eines Verstoßes gegen die EMRK geschaffen. Das Beruhenserfordernis schließt dabei die Wiederaufnahme in den Fällen aus, in denen sich ein Konventionsverstoß nicht ausgewirkt hat. Dies darf aber nicht dazu führen, dass bestimmte, in der Rechtsprechung des EGMR anerkannte Konstellationen einer Verletzung der EMRK von vorneherein ausgeschlossen sind.

Andernfalls bestünde ein Wertungswiderspruch zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die aus einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG folgen. Verlangt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, dass bei fehlerhafter Besetzung des Gerichts Strafurteile aufgehoben werden – was im Rahmen der Revision gemäß § 338 Nr. 3 StPO gerügt und gegebenenfalls erreicht werden kann –, kann eine gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßende Besetzung des Gerichts nicht weniger schwer wiegen. Dies ist auch bei der Auslegung und Anwendung des § 359 Nr. 6 StPO zu berücksichtigen.“

Wenn man den Volltext liest, kann man nur sagen: Das haben das OLG Frankfurt am Main und auch der GBA aber ganz schön „einen auf den Deckel bekommen“. Der GBA fängt sich einen für die Forderung, dass habe vorgetragen werden müssen, dass „ein anderer Richter bei einer rational begründeten Entscheidungsfindung aufgrund der durchgeführten Hauptverhandlung auch zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können„. Das sieht das BVerfG als „unzumutbar“ an. Und das OLG darf lesen: „Das Oberlandesgericht stellt für den Wiederaufnahmeantrag Anforderungen an die Darlegung des Beruhens gemäß § 359 Nr. 6 StPO, die im Fall der Beschwerdeführerin unerfüllbar und unzumutbar sind, und erschweren damit den Zugang zu einer erneuten Hauptverhandlung in einer Weise, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist. „

StGB I: „…Sie „fetter Anwalt“ und „Rumpelstilzchen, oder: Ist das noch „Kampf ums Recht“?

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Und heute dann StGB-Delikte, und zwar zwei Mal etwas zu „Äußerungsdelikten“ und einmal Brandstiftung.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem BVerfG, Beschl. v. 24.11.2023 – 1 BvR 1962/23 -, der gestern ja schon an verschiedenen Stellen über die „Ticker gelaufen“ ist.

Es geht um ein einstweiliges Verfügungsverfahren. In dem ist die Antragstellerin, eine Rechtsanwältin (?), vom AG/LG Dresden verurteilt worden, „es zu unterlassen, auf ihrer Internetseite „(…)“ über die Inhalte der nichtöffentlichen Sitzung eines Familiengerichts zu berichten, für die sie am 16. November 2021 als Verfahrensbeistand zugelassen worden war, und einen darin auftretenden Rechtsanwalt – den Verfügungskläger des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Verfügungskläger) – als „fetten Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“ zu bezeichnen. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist darüber hinaus eine weitere Verurteilung der Beschwerdeführerin, es zu unterlassen, Schriftstücke aus dem familiengerichtlichen Verfahren zu verbreiten sowie Dritte im Internet dazu anzustiften, dem Verfügungskläger – unter anderem durch Abgabe negativer Bewertungen im Internet ohne bestehendes Mandatsverhältnis – zu schaden.“

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung genommen, da sie wohl nicht den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1, § 92 BVerfGG genügt und deshalb unzulässig ist. Das BVerfG bemängelt. dass sie „nicht dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität gerecht wird.“

Aber: Das BVerfG hat dennoch etwas zur Sache gesagt, und m.E. recht deutlich und recht viel. Nämlich:

„1. Allerdings lässt die Verfassungsbeschwerde eine Verletzung von Rechten im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG inhaltlich nachvollziehbar erkennen, soweit sie beanstandet, das Amtsgericht und ebenso das Landgericht hätten für ihre Annahme einer Beleidigung des Verfügungsklägers durch die Worte „fetter Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“ den Kontext dieser Äußerungen nicht erörtert, zudem fehle es an einer Abwägung zwischen der persönlichen Ehre des Verfügungsklägers und ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Meinungsäußerungen, dass ihr Sinn zutreffend erfasst worden ist. Maßgeblich ist hierfür der Sinn, den die Äußerung nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat. Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Rezipienten erkennbar waren. Urteile, die den Sinn der umstrittenen Äußerung erkennbar verfehlen und darauf ihre rechtliche Würdigung stützen, verstoßen gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit (vgl. BVerfGE 93, 266 <295>; 124, 300 <345>; stRspr). Diese Anforderungen verfehlen die Ausgangsgerichte bereits insoweit, als es den angegriffenen Entscheidungen sowohl an einer Betrachtung des Kontextes der auf der Internetseite „(…)“ veröffentlichten Äußerungen ermangelt, wie schon an jeglichen kontextbezogenen Feststellungen.

b) Ebensowenig in Einklang zu bringen mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es überdies, wenn das Amtsgericht seine Annahme einer Beleidigung nach § 185 StGB allein darauf stützt, die Bezeichnungen „fetter Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“ seien „ein Werturteil, welches ehrverletzenden Charakter“ habe, und das Landgericht ausführt, das Verhalten der Beschwerdeführerin verletze den Verfügungskläger „wie zutreffend erstinstanzlich ausgeführt“ in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Damit lassen die Ausgangsgerichte jede Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen vermissen, die aber nur ausnahmsweise entbehrlich ist, wenn sich eine Äußerung als Schmähung oder Schmähkritik im verfassungsrechtlichen Sinne, als Angriff auf die Menschenwürde oder als Formalbeleidigung darstellt (vgl. BVerfGE 82, 43 <51>; 85, 1 <16>; 90, 241 <248>; 93, 266 <293 f.>; 99, 185 <196>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2397/19 -, Rn. 14 ff.; vom 21. März 2022 – 1 BvR 2650/19 -, Rn. 26 ff.). Einen solchen Fall haben die Ausgangsgerichte indes nicht angenommen.

c) Aus dem Blick verloren haben die Ausgangsgerichte zudem, dass die untersagten Äußerungen im Kontext eines gerichtlichen Verfahrens gefallen sind, in dem die Beschwerdeführerin als Verfahrensbeistand bestellt worden war. Den Ausgangsgerichten war es daher verwehrt, eine Ehrverletzung des Verfügungsklägers anzunehmen, ohne zuvor auch nur in Erwägung zu ziehen, dass es unter dem Gesichtspunkt des sogenannten „Kampfs um das Recht“ im Kontext rechtlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich erlaubt ist, auch besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Rechtspositionen und Anliegen zu unterstreichen (vgl. BVerfGE 76, 171 <192>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28. Juli 2014 – 1 BvR 482/13 -, Rn. 13; Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2397/19 -, Rn. 33; vom 16. Oktober 2020 – 1 BvR 1024/19-, Rn. 20).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist aber dennoch unzulässig, da sie nicht dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität gerecht wird…..“

Nun ja. Polmeik hin, Polmeik her. Aber ich „fetter Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“ ist mir dann doch ein wenig viel. Ich weiß auch nicht, welche „widerstreitenden grundrechtlichen Interessen“ vorliegen sollen, um jemanden so zu bezeichnen. Aber ich bin ja auch nicht beim BVerfG.

StPO I: Wohnungsdurchsuchung wegen sog. Adbusting, oder: Unverhältnismäßige Maßnahme

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Und dann die ersten StPO-Entscheidungen 2024. Und die erste kommt dann vom BVerfG. Das hat im BVerfG, Beschl. v. 05.12.2023 – 2 BvR 1749/20 -, über den ja auch anderweitig schon berichtet worden ist noch einmal zur Rechtsmäßigkeit einer Durchsuchungsmaßnahme Stellung genommen.

Folgender Sachverhalt: Am 13.05.2019 wurde die Beschwerdeführerin von zwei Polizisten dabei beobachtet, wie sie mit einer weiteren Person einen Schaukasten öffnete, um das dortige Werbeplakat der Bundeswehr abzuhängen und durch ein optisch sehr ähnliches, aber verfälschtes Plakat zu ersetzen. Der ursprüngliche Text des Plakats war in sinnentstellender Weise so verändert worden, dass es, dem Werbezweck des Plakats zuwider, Kritik an der Bundeswehr und einem Rüstungsunternehmen zum Ausdruck brachte; sog. Adbusting. Die Polizisten unterbanden den Versuch und stellten das Werkzeug und das mitgebrachte verfremdete Plakat sicher. Das Originalplakat wurde wieder im Schaukasten aufgehängt.

Im Juni 2019 stellte die Polizei weitere, auf die bereits beschriebene Weise veränderte Werbeplakate der Bundeswehr fest. Nach Auffassung der Polizei waren Parallelen zum Fall der Beschwerdeführerin zu erkennen.

Mit Beschluss vom 17.07. 2019 ordnete dann das AG die Durchsuchung der Wohnung der Beschwerdeführerin an. Die Beschwerdeführerin sei wegen des Geschehens am 13.05.2019 u.a. des besonders schweren Falles des Diebstahls verdächtig. Am 06.092019 wurde der Durchsuchungsbeschluss vollstreckt. Daraufhin legte die Beschwerdeführerin gegen den Durchsuchungsbeschluss Beschwerde ein, die das LG als unbegründet verwarf. Der Anfangsverdacht einer Straftat habe vorgelegen, weil das Verhalten der Beschwerdeführerin als versuchter Diebstahl und Sachbeschädigung einzustufen sei. Die Durchsuchung sei auch nicht unzulässigerweise im Hinblick auf andere Fälle des sog. „Adbustings“ erfolgt, sondern zur Untermauerung des Tatverdachts in dem konkret gegen die Beschwerdeführerin geführten Verfahren. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei noch gewahrt worden.

Mit ihrer gegen die Beschlüsse des AG und des LG gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin insbesondere die Verletzung ihres Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Sie hatte Erfolg. Das BVerfG bejaht zwar einen Anfangsverdacht, es verneint aber die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Es führt u.a. aus:

„(3) Die so auszulegenden Durchsuchungsbeschlüsse genügen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht. Die Anordnung der Durchsuchung war unangemessen, da die Schwere des Eingriffs außer Verhältnis zu dem mit ihm verfolgten Zweck steht (vgl. BVerfGE 42, 212 <220>; 59, 95 <97>; 96, 44 <51>; 115, 166 <198>). Zwar wurde die Beschwerdeführerin im Moment der Abnahme des Plakats von zwei Polizeibeamten beobachtet, sodass der Verdacht des versuchten Diebstahls besteht. Im Rahmen einer umfassenden Gesamtabwägung, die die hohe Bedeutung der Unverletzlichkeit der Wohnung in den Blick nimmt, sprechen jedoch der allenfalls schwache Anfangsverdacht einer vollendeten Sachbeschädigung, die fehlende Schwere der Taten, die geringe Wahrscheinlichkeit des Auffindens der erhofften Beweismittel und deren untergeordnete Bedeutung für das Strafverfahren gegen die Angemessenheit der Durchsuchungsanordnungen.

(a) Die angegriffenen Entscheidungen setzen sich mit der Schwere der Taten und der zu erwartenden Strafe nicht hinreichend auseinander. Der pauschale Verweis auf den Strafrahmen – so wie durch das Beschwerdegericht geschehen – reicht nicht aus, um die Schwere der verfolgten Taten zu begründen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Mai 2008 – 2 BvR 384/07 -, juris, Rn. 18).

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit kann lediglich berücksichtigt werden, welche Strafe hinsichtlich der konkreten Tat zu erwarten war, die durch die Durchsuchung aufgeklärt werden sollte. Wie bereits dargestellt, beschränkt die Durchsuchungsanordnung den Zweck der Durchsuchung auf die Aufklärung der Geschehnisse vom 13. Mai 2019. Ob die Durchsuchung eventuell zur Aufklärung bislang ungeklärter Fälle des „Adbustings“ hätte beitragen können, muss bei der Frage nach der Schwere der aufzuklärenden Tat daher außer Betracht bleiben. Die zu erwartende Strafe – hätte sich der Tatverdacht des versuchten Diebstahls und der vollendeten Sachbeschädigung im Rahmen der Durchsuchung bestä-tigt – wäre daher voraussichtlich niedrig ausgefallen. Zwar spricht aus den Taten die Bereitschaft, sich über fremde Eigentums- und Besitzrechte hinwegzusetzen. Zudem übersteigt der Werbewert der Plakate deren materiellen Wert, sodass voraussichtlich keine Bagatellstraftaten anzunehmen gewesen wären. Da es sich bei Erhärtung des Tatverdachts jedoch lediglich um einen versuchten Diebstahl und eine Sachbeschädigung einer jeweils nicht wertvollen Sache gehandelt hätte, wäre die zu erwartende Strafe aufgrund der fehlenden Schwere der Taten wohl dennoch gering.

(b) Zudem ist äußerst unwahrscheinlich, dass die Durchsuchung tatsächlich zum Auffinden von Beweismitteln geführt hätte, die den Verdacht hinsichtlich der Vorgänge vom 13. Mai 2019 hätten erhärten können. Selbst wenn – wie in den Durchsuchungsanordnungen angegeben – in der Wohnung der Beschwerdeführerin andere Werbeplakate, Werkzeuge zum Öffnen der Schaukästen, Schablonen und sonstige Materialien zur Umgestaltung von Plakaten sowie Mobiltelefone oder Tablets, die die Umgestaltung der Plakate dokumentierten, gefunden worden wären, so könnten diese Gegenstände allenfalls belegen, dass die Beschwerdeführerin wohl für die „Adbusting“-Szene aktiv ist. Einen Rückschluss darauf, ob die Beschwerdeführerin am 13. Mai 2019 in Zueignungsabsicht gehandelt hat, ließen diese Gegenstände hingegen kaum zu. Es bliebe trotz des Auffindens der Beweismittel möglich, dass es der Beschwerdeführerin an diesem Tag nur darum gegangen war, das verfremdete Plakat aufzuhängen, ohne das Originalplakat mitzunehmen. Auch könnten derartige Beweismittel kaum belegen, dass das am 13. Mai 2019 sichergestellte, veränderte Plakat in fremdem Eigentum steht und von der Beschwerdeführerin beschädigt worden ist. So ist bereits unklar, welches Beweismittel zur Klärung der Frage, wer Eigentümer des Plakats ist, geeignet sein sollte. In Betracht kämen hier wohl lediglich persönliche oder digitale Aufzeichnungen über die Entwendung des konkret sichergestellten Plakats. Da die Existenz eines solchen Beweismittels höchst zweifelhaft ist, kann auch die Auffindewahrscheinlichkeit nur als äußerst gering betrachtet werden.

b) Demgegenüber verstoßen die Beschlüsse des Amtsgerichts Tiergarten vom 17. Juli 2019 und 6. September 2019 sowie des Landgerichts Berlin vom 24. August 2020 nicht gegen die Grundrechte der Beschwerdeführerin auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG). Zum einen ist nicht substantiiert dargelegt oder anderweitig ersichtlich, warum die Meinungs- oder die Kunstfreiheit, sofern denn deren Schutzbereiche eröffnet sein sollten, einer je nach Begehungsweise in Betracht kommenden (vgl. hierzu Lampe/Uphues, NJW 2021, S. 730 ff.) Strafbarkeit des „Adbustings“ und damit der Annahme eines strafprozessualen Anfangsverdachts durchgreifend entgegenstehen sollten. Zum anderen ist nicht anzunehmen, dass in den Durchsuchungen selbst wegen des mit ihnen einhergehenden Abschreckungseffekts Eingriffe in die Meinungs- und Kunstfreiheit liegen. Derartige Wirkungen einer strafprozessualen Ermittlungsmaßnahme müssten im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in Art. 13 Abs. 1 GG berücksichtigt werden; sie begründen aber keine eigenständigen Eingriffe in die Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 und 3 GG (zu vergleichbaren Auswirkungen einer Durchsuchung auf die Berufsfreiheit vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. März 2009 – 2 BvR 1036/08 -, juris, Rn. 64).“