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Corona II. Sitzungspolizeiliche „Corona-Anordnung“, oder: Es gilt die 3-G Regel und das Maskengebot

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Und als zweite Entscheidung kommt hier dann der VGH Mannheim, Beschl. v. 01.08.2022 – 2 S 437/22 – zur sitzungspolizeilichen Anordnung wegen Corona. Gestritten wird um die sitzungspolizeiliche Anordnung einer Einzelrichterin einer Kammer des VG Freibur. Die hatte

„auf der Grundlage von § 176 Abs. 1 GVG Folgendes bestimmt:

1. 3-G Regel: Die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung ist für gegen COVID-19 geimpfte oder von COVID-19 genesene Personen gestattet.

Nicht immunisierten Personen ist die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung nur nach Vorlage eines auf sie ausgestellten Antigen- oder PCR-Testnachweises mit negativem Ergebnis gestattet. Die zugrundeliegende Testung darf im Falle eines Antigen-Schnelltests maximal 24 Stunden, im Falle eines PCR-Tests maximal 48 Stunden zurückliegen. Ein Testnachweis ist ein Nachweis über einen Test, der von einem der folgenden Leistungserbringer vorgenommen oder überwacht wurde.

Zur Vornahme oder Überwachung des Tests sind berechtigt:

• die zuständigen Stellen des öffentlichen Gesundheitsdienstes und die von ihnen betriebenen Testzentren,

• die von diesen Stellen als weitere Leistungserbringer beauftragten Dritten und

• Arztpraxen, Zahnarztpraxen, Apotheken, medizinische Labore, Rettungs- und Hilfsorganisationen, und die von den Kassenärztlichen Vereinigungen betriebenen Testzentren.

Der Impf-, Genesenen- oder Testnachweis ist zur Kontrolle bereitzuhalten.

2. Abstandsgebot…

3. Mund-Nasen-Schutz

Die Beteiligten und ihre Bevollmächtigten sowie Zeugen, Sachverständige und Dolmetscher und die als Teil der Öffentlichkeit an der mündlichen Verhandlung teilnehmenden Personen haben im Gerichtssaal einen Atemschutz, welcher die Anforderungen der Standards FFP2 (DIN EN 149:2001), KN95, N95 oder eines vergleichbaren Standards erfüllt, zu tragen.“

Gegen diese Anordnung hatte der Kläger, der Rechtsanwalt ist und sich in dem Verfahren vor dem VG, in dem er sich gegen die Zahlung eines Rundfunkbeitrags wandte und die Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht für eine Zweitwohnung rückwirkend ab 01.01.2013 begehrte, Beschwerde eingelegt. Ohne Erfolg. Hier die Leitsätze zu der Entscheidung:

1. Ein Rechtsbehelf gegen eine auf § 176 GVG gestützte sitzungspolizeiliche Anordnung ist grundsätzlich nicht statthaft.

2. Eine Ausnahme gilt, wenn der sitzungspolizeilichen Anordnung eine über die Dauer der Hauptverhandlung oder sogar über die Rechtskraft des Urteils hinausgehende Wirkung zukommt und Grundrechte oder andere Rechtspositionen des von einer sitzungspolizeilichen Maßnahme Betroffenen dauerhaft tangiert und beeinträchtigt werden.

3. Es ist nicht zu beansatnden, wenn ein Gericht eine Testung von Verfahrensbeteiligten zumindest mit einem Antigen- oder PCR-Test für geeignet hält/hielt, um das Risiko einer Ansteckung mit dem Corona-Virus SARS-Cov-2 während der mündlichen Verhandlung zu reduzieren.

Die Entscheidung/Grundsätze gelten nicht nur im Verwaltungsgerichtsverfahren, sondern auch im Straf- und/oder Zivilverfahren.

StPO I: Ist das Schreiben an die StA eine „Beschwerde“?, oder: Wo ist der Anfechtungswille?

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Heute machen wir dann mal wieder ein wenig StPO, und zwar mit zwei LG- und einer AG-Entscheidung.

Ich beginne mit dem LG Hechingen, Beschl. v. 28.03.2022 – 3 Qs 7/22. Der Beschluss ist schon etwas älter, er ist mir leider immer wieder „durchgegangen“. Heute dann aber endlich.

In der Entscheidung geht es um die Auslegung eines Schreiben des Beschuldigten an die Staatsanwaltschaft, dass dieser, nachdem ihm einem Ermittlungsverfahren wegen Trunkenheit im Verkehr vom AG nach § 111a StPO die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden war, an die Staatsanwaltsschaft gerichtet hat. In der Adresszeile des Schreibens heißt es „Herr Leitenden Oberstaatsanwalt G.“. Im Schreiben trägt der Beschuldigte im Wesentlichen vor, dass nach Aktenlage keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Feststellung relativer Fahrunsicherheit bestehen. Jedenfalls dürfte das Übersehen eines Fußgängers an einem Zebrastreifen kein konkreter, alkoholtypischer Fahrfehler sein. Insofern solle es insgesamt bei einer Ordnungswidrigkeit verbleiben. Die StA wertet das Schreiben als „Beschwerde“, legt die Ermittlungsakte dem AG vor und beantragt, der „Beschwerde …. nicht abzuhelfen und die Akte unmittelbar dem LG, wo beantragt werde, die „Beschwerde“ aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zu verwerfen.

Das LG hat die Sache ohne Sachentscheidung zurück gegeben:

„Bei dem Schriftsatz des Beschuldigten vom 11. Februar 2022 handelt es sich nicht um eine Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hechingen vom 20. Januar 2022.

Eine Erklärung kann nur als Rechtsmittel ausgelegt werden, wenn aus ihr ein Anfechtungswille hervorgeht (Löwe-Rosenberg/Jesse, StPO, 26. Aufl. 2014, § 300 Rn. 5; KK/Paul, StPO, 8. Aufl. 2019, § 300 Rn. 2). Der Anfechtungswille beschreibt hierbei den Willen, ein zulässiges Rechtsmittel gegen eine bestimmte Entscheidung einzulegen (Löwe-Rosenberg/Jesse, StPO, 26. Aufl. 2014, § 300 Rn. 4). Aus der abgegebenen Erklärung muss also deutlich zum Ausdruck kommen, dass der Erklärende sich mit einer ihn beschwerenden gerichtlichen Entscheidung nicht abfinden wolle (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 4. April 2013 – 2 Ws 86/13, BeckRS 2013, 15473; OLG Bamberg, Beschluss vom 8. September 2016 – 3 OLG 7 Ss 78/16, BeckRS 2016, 111077). Maßgebend sind stets der Gesamtinhalt der Verfahrenserklärungen und die Erklärungsumstände (BGH, Beschluss vom 25. Januar 1952 – 2 StR 3/52, BGHSt 2, 41 (43)), wobei jedoch nur solche Erklärungen relevant sind, die innerhalb der Anfechtungsfrist abgegeben werden (BeckOK/Cirener, StPO, 42. Ed. 1. Januar 2022, § 300 Rn. 2; Löwe-Rosenberg/Jesse, StPO, 26. Aufl. 2014, § 300 Rn. 8). Für die Auslegung der Erklärung sind zudem die Rechtskenntnisse des Erklärenden beachtlich (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2019 – 5 StR 499/18, BeckRS 2019, 1966). Ein Anfechtungswille wird indes nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass die sprachliche Form der abgegebenen Erklärung ihrerseits missverständlich oder uneindeutig ist (LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 24. Juni 2021 – 12 Qs 39/21, BeckRS 2021, 15647). Bleibt auch nach der Auslegung der Erklärung der Anfechtungswille unklar, sind verbleibende Zweifel durch eine Nachfrage zu klären (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 1951 — 3 StR 691/51, BGHSt 2, 63 (67); BayObLG, Beschluss vom 28. November 1994 – 2 St RR 221/94, NJW 1995, 1230; KK/Paul, StPO, 8. Aufl. 2019, § 300 Rn. 2).

Ausgehend hiervon war der Kammer bei Anwendung der herkömmlichen Auslegungsmethoden unklar, ob sich der Beschuldigte gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hechingen vom 20. Januar 2022 mittels einer Beschwerde erwehren wollte, ob also ein Anfechtungswille vorlag. Hierfür könnte zwar auf den ersten Blick sprechen, dass der Beschuldigte in seinem Schriftsatz betont, dass nach Aktenlage keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Feststellung relativer Fahrunsicherheit bestünden und es jedenfalls an einem Regelfall für die Entziehung der Fahrerlaubnis feh-le. Insoweit wollte er zum Ausdruck bringen, dass er die Sach- und Rechtslage anders als das Amtsgericht Hechingen mit seinem Beschluss vom 20. Januar 2022 bewertet. Bei näherer Betrachtung der schriftsätzlichen Erklärung war das Anliegen des Beschuldigten jedoch dahingehend gerichtet, lediglich zur Sach- und Rechtslage gegenüber der Staatsanwaltschaft Hechingen Stellung zu nehmen. Dies ergibt sich zum einen bereits aus der Angabe der Staatsanwaltschaft Hechingen in der Adresszeile und der konkret gewählte Anrede („Sehr geehrter Herr Leitender Oberstaatsanwalt Gruhl“). Zum anderen verwendet der Beschuldigte in dem gesamten Schriftsatz das Wort „Beschwerde“ oder einen entsprechenden Begriff, der auf die Einlegung eines Rechtsmittels hindeuten könnte, nicht. Es fehlt zudem an einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die amtsgerichtliche Entscheidung vom 20. Januar 2022. Unter Berücksichtigung der Rechtskenntnisse des erklärenden Verteidigers ist dem gewählten Wortlaut insoweit auch eine entscheidende Bedeutung beizumessen (vgl. KK/Paul, StPO, 8. Aufl. 2019, § 300 Rn. 2). Verbleibende Zweifel über das Vorliegen eines Anfechtungswillens konnten schließlich durch Nachfrage seitens des Amtsgerichts Hechingen mit Verfügung vom 3. März 2022 und hierauf erfolgter schriftsätzlicher Antwort des Beschuldigten vom 23. März 2022 ausgeräumt werden.

Nach alledem war eine Sachentscheidung der Kammer nicht veranlasst.“

Nebenklage III: Nochmals Akteneinsicht des Verletzten, oder: Tief greifender Grundrechtseingriff

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Und im letzten Posting geht es noch einmal zurück zur Akteneinsicht des Verletzten. Der ehemalige Angeklagte ist wurde durch Urteil des AG vom 03.07.2020 wegen Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung verurteilt worden. Mit Schriftsatz vom 07.07.2020 – eingegangen am 09.07.2020 – zeigte Rechtsanwalt R. unter Vorlage einer auf ihn lautenden Vollmacht die Vertretung des Verletzten, von dem er mit der Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche beauftragt worden sei, an und bat um Akteneinsicht.

Mit Schriftsatz vom 09.07.2020 legte der Verteidiger gegen das Urteil des Amtsgerichts „Rechtsmittel” ein. Nachdem in der Folge keine nähere Wahl hinsichtlich des Rechtsmittels getroffen worden war, legte die Staatsanwaltschaft die Akte dem LG zur Entscheidung über das als Berufung auszulegende Rechtsmittel vor.

Dort ist dann Termin zur Berufungshauptverhandlung bestimmt worden und, ohne den Angeklagten oder seinen Verteidiger zuvor anzuhören, die Übersendung der Akte an Rechtsanwalt R. zur Einsichtnahme angeordnet worden. Nachdem der Verteidiger durch ihm in Vorbereitung auf den Berufungshauptverhandlungstermin antragsgemäß gewährte Akteneinsicht Kenntnis von der Rechtsanwalt R. gewährten Einsicht in die Akte erlangt hatte, hat er mit – in der Berufungshauptverhandlung vom 17.11.2020 zur Akte gereichtem – Schriftsatz  gegen die Rechtsanwalt R. gewährte Akteneinsicht Beschwerde eingelegt und beantragt, „festzustellen, dass die dem Rechtsanwalt R. für den angeblich Geschädigten R. T. erteilte Akteneinsicht rechtswidrig war.” Das LG, das die Berufung des Angeklagten mit – inzwischen rechtskräftigem – Urteil vom 17.11.2020 verworfen hat, hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Das OLG hat die Beschwerde als unzulässig angesehen. Hier die Leitsätze der Entscheidung des OLG Saarbrücken, Beschl. v. 18.01.2021 – 1 Ws 4/21:

  1. Vor der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht an den Verletzten ist der Beschuldigte regelmäßig anzuhören.

  2. Hat der Verletzte tatsächlich Einsicht in die Akten genommen, ist die vorangegangene richterliche Anordnung der Akteneinsicht prozessual überholt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschuldigten ist daher grundsätzlich unzulässig.

  3. Der Verstoß gegen das Recht des Beschuldigten auf rechtliches Gehör begründet für sich allein die Zulässigkeit der Beschwerde nicht. Dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn ein anerkannter Ausnahmefall (Wiederholungsgefahr, fortwirkende Beeinträchtigung, tiefgreifender Grundrechtseingriff) vorliegt.

OWi I: Umsetzung von BVerfG 2 BvR 1616/18, oder: OLG Jena macht es richtig

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Urheber Jepessen

Heute dann ein Tag mit OWi-Entscheidungen.

Und ich beginne mit zwei Entscheidungen zur Umsetzung des Beschlusses des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18. Daran arbeiten sich die Gerichte ja gerade ab. Hier eine OLG-, und eine LG-Entscheidung, einmal positiv, einmal negativ.

Zunächst dann der Hinweis auf den OLG Jena, Beschl. v. 17.03.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20, über den ja auch schon der Kollege Gratz berichtet hat. Der Betroffene hatte in einem Verfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung, dem eine Messung mit Poliscan zugrunde gelegen hat,  Einsicht in Messunterlagen verlangt. Die war ihm nicht gewährt worden. Das OLG hat auf die Rechtsbeschwerde hin aufgehoben:

„d) Hiervon ausgehend, ist der Betroffene durch die Vorenthaltung der mit seiner verfahrensgegenständlichen Messung in Zusammenhang stehenden Messreihe, d. h. der gesamten am Tattag an der Messstelle zum Nachweis von Verkehrsverstößen angefallenen und gespeicherten digitalen Falldatensätze (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 17.06,2018, Az. 1 OWi 6 SsBs 19/18, bei juris) in seinem Anspruch auf faire Verfahrensgestaltung verletzt worden.

aa) Nach dem i. S. v. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässigen, durch die Sachakte bestätigen Rügevorbringen hat die Verteidigung mit Schriftsatz vom 16.04.2019 gegenüber der Bußgeldbehörde die bis zu diesem Zeitpunkt gewährte Akteneinsicht als unvollständig beanstandet und vergeblich u. a. die noch ausstehende Überlassung der gesamten Messserie gefordert, das hierauf bezogene Einsichtsbegehren mit- durch Beschluss des Amtsgerichts Gera vom 25.06.2019 zurückgewiesenem – Antrag auf gerichtliche Entscheidung weiter verfolgt und ihren – mit einem Aussetzungsantrag verbundenen – Antrag auf Überlassung der Messreihe in der Hauptverhandlung vom 12.12.2019 – wiederum erfolglos – wiederholt.

Zur Begründung hat die Verteidigung jeweils geltend gemacht, dass der Betroffene den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf auf breiterer Grundlage prüfen und insbesondere nach etwaigen, allen Messungen anhaftenden, aber der Messung des Betroffenen nicht zu entnehmenden Fehlern suchen wolle, die die Messbeständigkeit des Gerätes in Frage stellen könnten, und nach denkbaren, auf einen Umbau oder eine ungewollte Neuausrichtung während des Messbetriebes hindeutenden Veränderungen der Bildausschnitte.

bb) Dem Betroffenen stand gegenüber der Bußgeldbehörde ein aus dem Recht auf faire Verfahrensgestaltung resultierender Anspruch auf die am Tattag an der ihn betreffenden Messstelle generierten Falldateien anderer Verkehrsteilnehmer zu, weil die geforderten Informationen in sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem ihm angelasteten Geschwindigkeitsverstoß stehen und aus Sicht des Betroffenen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung bedeutsam sein können.

Die Kenntnis der dort zeitnah gewonnenen Messdaten, die sich nicht auf die ihm vorgeworfene Tat beziehen, verschafft dem Betroffenen eine breitere Grundlage für die Prüfung, ob im konkreten Fall tatsächlich ein standardisiertes Messverfahren ordnungsgemäß zur Anwendung gekommen ist und das Messgerät fehlerfrei funktioniert hat (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.07.2015, Az. IV-2 RBs 63/15; KG Berlin, Beschl. v. 05.12.2018, Az. 3 Ws (B) 266/18, bei juris), indem sie anhand der Daten, die im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Messung an gleicher Stelle erhoben worden sind, die Suche nach Hinweisen auf etwaige Fehlfunktionen des Messgeräte oder Fehler bei der Durchführung eröffnet, die eventuell Rückschlüsse auf die Fehlerhaftigkeit auch der eigenen Messung erlauben (OLG Düsseldorf; a. a. O.). Dass ein die Messreihe insgesamt betreffender Fehler, der sich in anderen Dateien abbildet, aus der Messdatei des konkreten Verkehrsverstoßes ebenfalls hervorgehen müsste (so OLG Koblenz, a. a. O.), trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Bestimmte Auffälligkeiten wie etwa fehlende Vollständigkeit der Aufnahmen, Unregelmäßigkeiten bei der Dateneinblendung, eine hohe Anzahl verworfener Messungen, Stellungs- oder Standortveränderungen des Messgerätes, stark abweichende Positionen mehrerer der aufgenommenen Fahrzeuge zur Fotolinie oder gehäuftes Auftreten unsinniger Messergebnisse sind für den Betroffenen bzw. einen von ihm beauftragten Sachverständigen nur durch Betrachtung aller Aufnahmen zu ermitteln (Cierniak, Prozessuale Anforderungen an den Nachweis von Verkehrsverstößen, zfs 2012, 664, 672). Ein dahingehendes, das Einsichtsgesuch legitimierendes Interesse hat der Betroffene jeweils vorgetragen.

cc) Die vom Bundesverfassungsgericht für die Gewährung des Informationszugang geforderte Relevanz der begehrten Informationen für die Verteidigung lässt sich nicht mit der Erwägung verneinen, dass aus der Betrachtung der gesamten Messreihe ohnehin kein für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen betreffenden Einzelmessung erheblichen Erkenntnisse gezogen werden könnten (so BayObLG, Beschl. v. 04.01.2021, a. a. O.). Die insoweit erhobenen Einwände, dass die Messreihe selbst bei einer Einzelmessung, die aus dem Bereich der üblicherweise am Messort festgestellten (überhöhten) Geschwindigkeiten deutlich herausrage, “keine verwertbare Aussage bringe”, weil geringe Geschwindigkeitsüberschreitungen vieler Verkehrsteilnehmer nicht ausschließen, dass jemand auch deutlich schneller unterwegs gewesen sein könne (PTB, “Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung”, Stand 30.03.2020; BayObLG, Beschl. v. 04.01.2021, Az. 202 ObOWi 1532/20, bei juris), oder dass eine etwa feststellbare hohe Annullierungsrate keinen Anhalt dafür biete, dass gerade die nicht verworfene Messung im Einzelfall fehlerhaft sei, sondern gerade für die Richtigkeit dieser Messung spreche, die trotz funktionierender Selbstkorrektur des Gerätes keinen Anlass zur Verwerfung gegeben habe (PTB, a. a. O.; OLG Frankfurt, Beschl v. 26.08.2016, Az. 2 Ss- OWi 589/16; OLG Koblenz, Beschl. v. 17.07.2018, Az. 1 OWi 6 SsBs 19/18; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 27.10.2020, Az. 1 OWi 2 SsBs 103/20; bei juris), reichen nicht aus, um schon die Möglichkeit etwa aus der Messreihe insgesamt abzuleitender Entlastungsmomente schlechthin auszuschließen und der Messreihe von vornherein eine potentielle Beweiserheblichkeit abzusprechen.

Ob bestimmte Informationen für die Verteidigung von Bedeutung sein können, unterliegt allein ihrer Einschätzung (BGH, Beschl. v. 04.10.2007, Az. KRB 59/07 [(Kartellbußgeldverfahren]), bei juris), wobei sie – wie in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich dargelegt – auch rein theoretischen Entlastungsmöglichkeiten nachgehen kann. Dass die dem Gericht obliegend Aufklärungspflicht sich nicht auf Ermittlungen erstreckt, “die sich auf die nur theoretische, nicht tatsachengestützte Möglichkeit einer Entlastung gründen”, so dass der Betroffene derartige Ermittlungen vom Gericht nicht verlangen kann (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 17.07. 2018, a. a. O.), ist für den Umfang des vorgelagerten Informationsanspruchs des Betroffenen gegenüber der Behörde ohne Belang.

Ob anhand des Messfilms ermittelte Auffälligkeiten (für sich genommen oder auch erst bei einem etwaigen Zusammentreffen) geeignet sind, die einer Messung im Standardisierten Messverfahren zugebilligte Beweiskraft zu erschüttern, oder ob das Gericht sich dennoch vom Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann, ist letztlich eine Frage der Beweiswürdigung im Einzelfall.

dd) Das Einsichtsrecht in verfahrensfremde Messdaten lässt sich auch nicht wegen entgegenstehender Interessen der betreffenden Verkehrsteilnehmer ablehnen.

Zwar enthält jede weitere Falldatei ein digitales Beweisfoto mit personenbezogenen Informationen in Form des Fahrzeugs, seines Kennzeichens und einer Abbildung des Fahrers, aus der sich nicht nur ableiten lässt, das er einen bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt passiert hat, sondern auch, dass dies höchstwahrscheinlich mit überhöhter Geschwindigkeit geschehen und er deshalb in einem anderweitigen Bußgeldverfahren dem Vorwurf einer von ihm begangenen Ordnungswidrigkeit ausgesetzt ist (vgl. OLG Koblenz, a. a. O.).

Gegenüber der gebotenen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren sind die Persönlichkeitsrechte Dritter regelmäßig nachrangig (BVerfG, Beschl. v. 12.01.1983, Az. 2 BvR 864/81, bei juris); dem diesbezüglichen Interesse des Betroffenen auch im Bußgeldverfahren ist deshalb ebenfalls erhebliches Gewicht beizumessen, selbst wenn man diesem Interesse wegen der geringeren Schwere des erhobenen Vorwurfs und der drohenden Sanktionen nicht schlechthin Vorrang einräumt. Bei der vorzunehmenden Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht der anderen, in der Messserie abgebildeten Verkehrsteilnehmer ist demgegenüber zu berücksichtigen, dass diese sich durch ihre Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und der Kontrolle ihres Verhaltens durch die Polizei ausgesetzt haben und der festgehaltene Lebenssachverhalt jeweils auf einen sehr kurzen Zeitraum begrenzt ist, so dass die Aufzeichnung nicht dem Bereich der engen Privatsphäre berührt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.05.2011, Az. 2 BvR 2072/10, bei juris). Es kann daher für diese Personen keinen tiefgreifenden Eingriff in ihr Persönlichkeitsrecht darstellen, wenn sie im Zusammenhang mit einer polizeilichen oder ordnungsbehördlichen Maßnahme mit einer äußerst geringen Wahrscheinlichkeit dem Risiko ausgesetzt sind, zufällig erkannt zu werden (Krumm, Fahrverbot in Bußgeldsachen, § 5 (Regel-)Fahrverbots-Ordnungswidrigkeiten des § 25 Abs. 1 S. 1 StVG Rn. 12, beck-online). Die konkrete Gefahr einer nachhaltigen Bloßstellung Dritter, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts trotz des anzuerkennenden Entlastungsinteresses des Betroffenen die Zurückhaltung verfahrensfremder Informationen rechtfertigen kann, ist deshalb nicht zu besorgen. Das gilt auch deshalb, weil die Messdaten lediglich an den Verteidiger und einen von ihm beauftragten Sachverständigen herausgegeben werden, was datenschutzrechtliche Bedenken weiter verringert (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019, 1 Rb 10 Ss 291/19; LG Köln Beschl. v. 11.10.2019, 323 Qs 106/19, bei juris). Das Interesse der in den Falldateien der Messreihe erfassten sonstigen Verkehrsteilnehmer muss daher gegenüber dem aus dem fair-trial-Anspruch resultierenden Einsichtsrecht des Betroffenen zurückstehen.“

Und dann noch – negativ – der LG Wiesbaden, Beschl. v. 24.02.2021 – 3 Qs 2/21. Das LG hat eine Beschwerde gegen die Versagung der Einsicht durch das (erkennende) AG unter Hinweis auf § 305 StPO als unzulässig angesehen. Die Ablehnung der Einsichtnahme in Unterlagen, wie z.B.  Messreihe, Lebensakte usw.,  sei zwar grundsätzlich geeignet, den Betroffenen möglicherweise in seinem Recht auf ein faires Verfahren zu verletzen. Zur Geltendmachung des Verstoßes sei er aber auf das Rechtsbeschwerdeverfahren zu verweisen. Das steht m.E. mit den Grundsätzen der Entscheidung des BVerfG, wenn man mit denen Ernst mnachen will, nicht in Einklang. Und: Was soll ich nach der Hauptverhandlung noch mit den Daten/Unterlagen?