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Rechtsmittel III: Vertretung des Angeklagten in der HV, oder: Erforderlichkeit der Anwesenheit

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Und dann als dritte Entscheidung der BayObLG, Beschl. v. 20.03.2024 -204 StRR 77/24, der sich mit verfahrensrechtlichen Fragen des Berufungsverfahrens befasst, nämlich Vertretung des Angeklagten und Erforderlichkeit seiner Anwesenheit in der Hauptverhandlung.

Dazu hat das BayObLG umfassend Stellung genommen, und zwar so umfangreich, das man das hier nicht alles einstellen kann. Ich nehme als „Appetizer“ nur die Leitsätze und verweise wegen der Einzelheiten auf den verlinkten Volltect.

Die Leitsätze lauten:

1. Bei sowohl vom Angeklagten als auch von der Staatsanwaltschaft eingelegten Berufungen ist § 340 StPO grundsätzlich nicht anwendbar.

2. Das Berufungsgericht muss auch bei Vertretung des Angeklagten durch einen mit besonderer Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger ausreichende Feststellungen dazu treffen, ob die Voraussetzungen für eine Verhandlung über beide Berufungen gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO in Abwesenheit des Angeklagten vorliegen.

3. Zur „Erforderlichkeit“ der Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung.

4. Vorliegend kann der Senat wegen der zulässig erhobenen Verfahrensrüge aufgrund der Aktenlage selbst feststellen, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben ist.

OWi III: Verwerfungsurteil und Verfahrensverzögerung, oder: Begründung der (Verfahrens)Rüge

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Und dann als dritte Entscheidung der BayObLG, Beschl. v. 24.04.2024 – 201 ObOWI 339/24 – zur Begründung der Verfahrensrüge zur Beanstandung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung bei Verwerfungsurteil-

Das AG hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid wegen Geschwindigkeitsverbot mit einem Fahrverbot von einem Monat mit Urteil vom 24.03.2021 gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Das Urteil wurde dem Verteidiger am 26.03.2021 zugestellt. Das Hauptverhandlungsprotokoll wurde am 29.03.2021 fertiggestellt. Gegen das Urteil hat der Betroffene am 29.03.2021 Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der er die Verletzung „formellen und materiellen Rechts“ rügte. Er hat mit Verteidigerschriftsatz vom 13.10.2023 beantragt, eingegangen bei Gericht am 21.11.2023, das Verfahren wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung einzustellen. Am 27.11.2023 wurde dem Verteidiger das Urteil nochmals zugestellt. Eine ergänzende Rechtsbeschwerdebegründung ist nicht erfolgt. Die Rechtsbeschwerde wurde vom BayObLG als unbegründet verworfen:

„b) Das vom Betroffenen geltend gemachte Verfahrenshindernis der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bedurfte vorliegend auch nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils der Erhebung einer formalen Rüge. Eine solche wurde jedoch nicht in zulässiger Weise ausgeführt (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

aa) Will der Beschwerdeführer die Verletzung des Beschleunigungsgebotes geltend machen, erfordert dies grundsätzlich die Erhebung einer Verfahrensrüge (st.Rspr., vgl. u. a. BGH, Beschl. v. 20.06.2007 – 2 StR 493/06 bei juris Rn. 9; zuletzt BGH, Beschl. v. 15.03.2022 – 4 StR 202/21 bei juris Rn. 16, jew. m.w.N.). Ein Ausnahmefall, für den die höchstrichterliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren angenommen hat, das Rechtsmittelgericht habe wegen eines Erörterungsmangels auf die Sachrüge hin einzugreifen, liegt hier schon deshalb nicht vor, weil die Verzögerung erst nach Urteilserlass eingetreten ist und sich nicht aus den Urteilsgründen ergibt.

Allerdings kann für Verzögerungen nach Urteilserlass die bloße Erhebung der Sachrüge ausreichend sein, wenn der Betroffene die Gesetzesverletzung deshalb nicht form- und fristgerecht rügen konnte, weil die Verzögerung erst nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist eingetreten ist und deshalb vom Beschwerdeführer nicht (mehr) mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden konnte (BGH NStZ 2001, 52; BGH, Beschl. v. 20.06.2007 a.a.O. Rn. 10). Ein solcher Fall liegt jedoch nicht vor, da die Frist zu Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde erst mit Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe begann (§ 345 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 OWiG). Die am 26.03.2021 erfolgte Zustellung des Urteils konnte die Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde nicht in Lauf setzen, weil nach § 273 Abs. 4 StPO das Urteil nicht zugestellt werden durfte, bevor das Protokoll fertiggestellt war. Der Verstoß hiergegen machte die Zustellung wirkungslos und setzte deshalb die genannten Fristen nicht in Lauf (st.Rspr., vgl. zuletzt zur Revisionsbegründungsfrist BGH, Beschl. v. 24.11.2020 – 5 StR 439/20 bei juris = NStZ-RR 2021, 57 = StraFo 2021, 164 = BeckRS 2020, 36921 m.w.N.). Der Betroffene war von daher nicht gehindert, zu den Verfahrenstatsachen vorzutragen, aus denen er das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung herleiten will, zumal er vor der zweiten Zustellung Akteneinsicht hatte.

bb) Die Erhebung einer Verfahrensrüge war auch nicht deshalb entbehrlich, weil bei Vorliegen einer zulässigen Rechtsbeschwerde grundsätzlich (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 66. Aufl. Einl. Rn. 150 m.w.N.) das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses von Amts wegen zu prüfen ist (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. und Art. 6 EMRK Rn. 9g; Meyer-Goßner NStZ 2003, 173; a.A. Wohlers JR 2005, 189; offengelassen: BGH, Beschl. v. 10.09.2003 – 5 StR 330/03 bei juris). Dies gilt jedenfalls in den Fällen, in denen der Tatrichter lediglich den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verwirft.

(1) Aus rechtsstaatlichen Gründen kann die Verfahrenseinstellung wegen überlanger Verfahrensdauer dann unabweisbar sein, wenn sie auf einer außergewöhnlichen, vom Betroffenen nicht zu vertretenden und auf Versäumnisse der Justiz zurückzuführenden Verfahrensverzögerung beruht, die den Betroffenen im Lichte der Gesamtdauer des Verfahrens unter Abwägung der Gesamtumstände des Einzelfalls, namentlich des Tatvorwurfs, des Umfangs und der Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes, des festgestellten oder voraussichtlich feststellbaren Schuldumfangs sowie möglicher Belastungen durch das Verfahren, in unverhältnismäßiger Weise belastet und der Verzögerung im Rahmen der Sachentscheidung nicht mehr hinreichend Rechnung getragen werden kann (vgl. BGHSt 35, 137 ff.; BGHSt 46, 159 ff.).

(2) Die Frage, ob und in welchem Umfang eine Kompensation bei Vorliegen einer Verfahrensverzögerung erforderlich ist, ist somit das Ergebnis einer Abwägung der Gesamtumstände des Einzelfalls. Ob eine Verfahrensverzögerung unerheblich ist, ob die bloße Feststellung der Verfahrensverzögerung dem Betroffenen ausreichende Kompensation verschafft (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 02.10.2018 – 6 Kart 6/17 [OWi] bei juris Rn. 1269; OLG Stuttgart, Beschl. v.04.06.2018 – 3 Rb 26 Ss 786/17 bei juris), ob ein „Normalfall“ überlanger Verfahrensdauer vorliegt, der durch die Anrechnung eines Teils der verhängten Geldbuße oder des Fahrverbots kompensiert werden kann (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 11.02.2021 – 4 RBs 13/21 bei juris; beim Verwerfungsurteil verneinend: OLG Rostock, Beschl. v. 27.01.2016 – 21 Ss OWi 2/16 [B] bei juris Rn. 11) oder ob sich der Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot als derartig schwer und außergewöhnlich darstellt, dass ihm nur durch die Einstellung des gesamten Verfahrens Rechnung getragen werden kann, kann nicht ohne Kenntnis der verhängten Sanktion und der damit verbundenen Belastungen für den Betroffenen beantwortet werden, wobei sich letztere oftmals der genauen Kenntnis der Justiz entziehen.

In einem Fall, in dem der Tatrichter lediglich den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verwirft, kommt hinzu, dass sich, anders als bei einem Urteil in der Sache, Tatunrecht und Verfahrensverzögerungen bis zum Erlass des Urteils schon nach der Natur der Entscheidung nicht aus den Urteilsgründen selbst ergeben, während der Betroffene hierzu unschwer Ausführungen machen kann. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von Amts wegen bei zulässiger Rechtsbeschwerde zu berücksichtigen, widerspräche somit der differenzierten geltenden rechtlichen Systematik, wonach der Betroffene gehalten ist, alle diesbezüglichen Umstände vorzutragen, es sei denn sie würden sich aus der Entscheidung selbst ergeben, die Entscheidung wäre lückenhaft oder die Umstände würden sich, weil sie erst nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist entstanden sind, der formgerechten Begründung entziehen.

cc) Die Rechtsbeschwerdeausführungen genügen nicht, um das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung aufzuzeigen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 OWiG).

(1) Die Rechtsbeschwerde teilt zwar mit, dass mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 27.04.2021 der Antrag des Betroffenen nach § 74 Abs. 4 OWiG auf Wiedereinsetzung in die versäumte Hauptverhandlung zurückgewiesen wurde. Sie verhält sich in diesem Zusammenhang aber nicht zu der Frage, wann dem Betroffenen der Beschluss zugestellt wurde, ob er dagegen Rechtsmittel eingelegt hatte und wann gegebenenfalls seitens des Rechtsmittelgerichts hierüber entschieden wurde. Ausführungen hierzu erweisen sich jedoch als notwendig, weil bis zur Rechtskraft des die Wiedereinsetzung versagenden Beschlusses das Rechtsbeschwerdeverfahren von Gesetzes wegen ruhte (§ 342 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG). Der Senat kann daher nicht prüfen, ob und in welchem Umfang die Notwendigkeit der Bearbeitung eines Rechtsmittels des Betroffenen mit dazu beigetragen hat, dass die Akten nicht dem Rechtsbeschwerdegericht vorgelegt wurden.

(2) Es fehlen auch sonst jegliche Darlegungen für den betreffenden Zeitraum vom 27.04.2021 bis 26.09.2023. Die Frage, ob und in welchem Umfang eine Verfahrensverzögerung eine Kompensation erforderlich macht und welcher Art diese gegebenenfalls sein muss, setzt, wie ausgeführt, eine wertende Betrachtung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls voraus. Maßstab ist der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Verfolgungsorgane und die daraus folgenden individuellen Belastungen für den Betroffenen (BGH, Urt. v. 13.03.2011 – 5 StR 411/11 bei juris Rn. 8; BGH, Urt. v. 23.10.2013 – 2 StR 392/13 bei juris Rn. 9). Der Senat kann jedoch, da Einzelheiten für den Grund der Verzögerung nicht genannt werden, nicht prüfen, ob und in welchem Umfang der Betroffene in ihm zurechenbarer Weise selbst zu der Verfahrensverzögerung beigetragen hat.

(3) Der vorliegende Fall weist zudem die Besonderheit auf, dass dem Kraftfahrtbundesamt nach dem Vorbringen des Betroffenen (fälschlicherweise) die Rechtskraft der Entscheidung vom 24.03.2021 mitgeteilt worden war. Nachdem es nicht der Lebenserfahrung entspricht, dass eine von der Vollstreckungsbehörde für rechtskräftig gehaltene Entscheidung nicht auch vollstreckt wird, liegt der Schluss nahe, dass der Betroffene seine Fahrerlaubnis in amtliche Verwahrung gegeben und die Geldbuße bezahlt hat, obwohl er damit rechnen musste, dass die zugrunde liegende Entscheidung noch gar nicht rechtskräftig war, nachdem er gegen sie Rechtsbeschwerde eingelegt hatte und eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nicht ergangen war. Im Rahmen der Gesamtbetrachtung zu Notwendigkeit und Art der Kompensation, bei der auch die Folgen der Verfahrensverzögerung speziell für den Betroffenen und sein Umgang mit dieser von Bedeutung sind, hätte dieser Umstand nicht unberücksichtigt bleiben dürfen und es hätte hierzu von der Rechtsbeschwerde vorgetragen werden müssen.

dd) Ob im vorliegenden Fall dem Grunde nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung der nicht ordnungsgemäß ausgeführten Verfahrensrüge hätte in Betracht kommen können, braucht nicht entschieden zu werden. Eine solche ist auch nach Mitteilung der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft München vom 20.03.2024, aus der hervorging, dass die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde erst mit der am 27.11.2023 bewirkten Zustellung zu laufen begonnen hatte, und zur Geltendmachung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung die Erhebung einer Verfahrensrüge erforderlich war, nicht nachgeholt worden.“

StPO II: Fristversäumung bei der Anhörungsrüge, oder: Wiedereinsetzung, ja aber

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Und als zweite Entscheidung dann etwas vom BayObLG zur Anhörungsrüge.

In dem Verfahren hatte das BayObLG die Revision des Angeklagten verworfen. Der will Anhörungsrüge erheben, versäumt aber die Frist. Er stellt einen Wiedereinsetzungsantrag, der ohne Erfolg bleibt, das BayObLG hat den Antrag im BayObLG, Beschl. v. 26.02.2024 – 203 StRR 511/23 – zurückgewiesen.

„1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach §§ 44, 45 StPO hat keinen Erfolg. Der Vortrag des Verurteilten schließt ein eigenes Verschulden an der Fristversäumnis nicht aus. Für die Entscheidung kann der Senat dahin stehen lassen, welcher der sich widersprechenden anwaltlichen Versicherungen Glauben zu schenken ist.

Nach § 356a S. 2 und 3 StPO ist der Antrag auf Zurückversetzung des Verfahrens in die Lage vor der Senatsentscheidung vom 22. Januar 2024 nur zulässig bei Wahrung der dort genannten Frist und Form. Danach ist der Antrag binnen einer Woche nach Kenntniserlangung von der Verletzung des rechtlichen Gehörs schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle bei dem Revisionsgericht anzubringen und zu begründen. Kenntnis von der Gehörsverletzung bedeutet die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, aus denen sich die Verletzung ergibt (st. Rspr., vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. März 2005 – 2 StR 444/04-, vom 7. März 2006 – 5 StR 362/05 – und vom 16. Mai 2006 – 4 StR 110/05 -, jeweils juris). Der Zeitpunkt seiner Kenntniserlangung ist vom Antragsteller innerhalb der Wochenfrist glaubhaft zu machen. Ein entsprechender Vortrag im weiteren Verlauf des Verfahrens reicht nicht (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 2005 – 2 StR 444/04 –, juris; BGH, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 1 StR 633/12 –, juris Rn. 8). Wird die Frist unverschuldet versäumt, ist eine Wiedereinsetzung grundsätzlich möglich (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Januar 2021 – 6 StR 238/20 –, juris; BGH, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 1 StR 633/12 –, juris). An die Voraussetzungen fehlenden Verschuldens sind im Interesse der Rechtssicherheit bei § 356a StPO hohe Anforderungen zu stellen (BGH, Beschluss vom 27. Januar 2021 – 6 StR 238/20 –, juris Rn. 6). Der Angeklagte muss sich das Verschulden seines Verteidigers an der Fristversäumung zurechnen lassen (st. Rspr., vgl. BGH a.a.O.; BGH, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 1 StR 633/12 –, juris Rn. 9; BGH, Beschluss vom 13. August 2008 – 1 StR 162/08 –, juris; BGH, Beschluss vom 20. Mai 2011 – 1 StR 381/10 –, juris; Gericke in KK-StPO, 9. Aufl., § 356a Rn. 11; Temming in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 356a StPO Rn. 4).

Danach hat der Verteidiger weder im Schriftsatz vom 8. Februar 2024 noch im Schriftsatz vom 15. Februar 2024 einen Sachverhalt vorgetragen, der ein Verschulden des Verurteilten an der Fristversäumnis ausschließen würde. Der Verteidiger hat es vielmehr vorwerfbar und somit dem Verurteilten zurechenbar versäumt, in seinem Schriftsatz vom 8. Februar 2024 hinreichend dazu vorzutragen, wann der Verurteilte, der selbst Rechtsanwalt ist und den selbst die Pflicht trifft, sich über eröffnete Rechtsbehelfe zu informieren, Kenntnis von dem Senatsbeschluss vom 22. Januar 2024 erlangt hat. Auf diesen Vortrag durfte der Verteidiger bereits in der Antragsschrift vom 8. Februar 2024 nicht verzichten, da es für die Frage der Fristeinhaltung im Sinne des § 356a S. 2 StPO entgegen der Rechtsansicht des Verteidigers nicht auf seine Kenntnis, sondern alleine auf den Zeitpunkt der Kenntniserlangung des Verurteilten ankommt (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 28. November 2023 – 1 StR 311/23 –, juris Rn. 2).

Somit war die Gehörsrüge vom 8. Februar 2024 – endgültig – unzulässig, weil der anwaltlich vertretene Antragsteller nicht innerhalb der Wochenfrist mitgeteilt sowie nicht glaubhaft gemacht hat und auch sonst nicht ersichtlich ist, wann der Verurteilte vom Verwerfungsbeschluss des Senats vom 22. Januar 2024, der nach dem Abvermerk der Geschäftsstelle am 24. Januar 2024 an diesen abgeschickt worden war, erstmals Kenntnis erlangt hat. Die Mitteilung dieses Tages in der Antragsschrift vom 8. Februar 2024 war unerlässlich, zumal dem Verteidiger mit der Übermittlung des Senatsbeschlusses, den er nunmehr am 1. Februar 2024 erhalten haben will, auch der Hinweis erteilt worden ist, dass der Senatsbeschluss auch unmittelbar seinem Mandanten bekannt gemacht würde. Der Verteidiger hätte bei dieser Konstellation, seinen krankheitsbedingten Ausfall bis zum 1. Februar 2024 unterstellt, am 1. Februar 2024 von einer früheren Kenntniserlangung des – nicht erkrankten – Verurteilten ausgehen müssen, hätte diesen Zeitpunkt mit dem Mandanten klären müssen und hätte mit der Antragstellung nicht bis zum 8. Februar 2024 abwarten dürfen.

Darauf, dass der Verteidiger, die Richtigkeit des Vortrags vom 15. Februar 2024 unterstellt, in seinem Antrag vom 8. Februar 2024 schuldhaft zum Zeitpunkt der Kenntniserlangung (25. Januar 2024) falsch vorgetragen hätte, kommt es nicht mehr maßgeblich an. Es spielt auch keine Rolle, dass die nicht mit weiteren Beweismitteln unterlegte anwaltliche Behauptung im Schriftsatz vom 15. Februar 2024, er hätte krankheitsbedingt erst am 1. Februar 2024 von dem Senatsbeschluss Kenntnis erlangt, dem Senat als Mittel der Glaubhaftmachung hier nicht genügt hätte, nachdem diese Erklärung in einem nicht auflösbaren Widerspruch zu der anwaltlichen Behauptung vom 8. Februar 2024 (Kenntniserlangung bereits am 25. Januar 2024) steht.

Neuigkeiten zum CanG/KCanG I: Verfahrensrecht, oder: Wirksamkeit einer „alten“ Berufungsbeschränkung

Heu

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te gibt es hier dann „Neuigkeiten“ zum KCanG, also neue Entscheidungen. Da haben sich ein paar angesammelt, so dass es für einen ganzen Tag reicht.

Ich beginne mit einer verfahrensrechtlichen Problematik, nämlich der Frage nach der Wirksamkeit der Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch und Schuldspruchänderung  bei Delikten mit Cannabis nach Inkrafttreten des CanG. Dazu gibt es zwei unterschiedliche OLG-Entscheidungen, von denen ich hier nur die Leitsätze vorstelle, und zwar.

1. Die Beschränkung eines Rechtsmittels auf den Rechtsfolgenausspruch kann dann keinen Bestand haben, wenn es sich bei dem angewendeten Gesetz um eine nichtige oder – wie seit Inkrafttreten des CanG für Delikte mit Cannabis – nicht mehr geltende Strafvorschrift handelt. Das Revisionsgericht trifft gemäß § 2 Abs. 3 StGB, § 354a StPO Verpflichtung und Befugnis, bei seiner Prüfung das erst im Laufe des Revisionsverfahrens in Kraft getretene (mildere) Recht anzuwenden. Dies führt dazu, dass die eingetretene Rechtskraft des Schuldspruchs zu durchbrechen ist.

2. Stellt das Revisionsgericht fest, dass die Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil nicht wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt war, kann es den Schuldspruch selbst ändern, wenn zweifelsfrei feststeht, dass das Berufungsgericht denselben Sachverhalt wie das Amtsgericht festgestellt hätte. Das ist vorliegend der Fall, denn die Feststellungen des Berufungsgerichts lassen die Erfüllung aller tatbestandlichen Voraussetzungen sowohl des damals maßgeblichen § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG als auch des nun anzuwendenden § 34 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) KCanG lückenlos erkennen.

1. Beim Handeltreiben mit Cannabis steht der Wirksamkeit einer Berufungsbeschränkung auf den Strafausspruch nicht das zwischenzeitliche Inkrafttreten des Cannabisgesetzes entgegen, wenn die Tat auch nach neuem Recht strafbar ist (entgegen BayObLG).

2. Bei der rechtlichen Beurteilung durch das Berufungsgericht findet jedoch § 354a StPO entsprechende Anwendung.

3. Bezüglich des Handeltreibens mit Cannabis sind die Regelungen im Konsumcannabisgesetz gegenüber den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes regelmäßig das mildere Gesetz im Sinn des § 2 Abs. 3 StGB.

 

StGB III: Halb SS-Totenkopf, halb Söder als Graffiti, oder: Kennzeichen verfassungswidriger Organisation?

entnommen obenclipart.org

Und dann zum Tagesschluss noch etwas aus Bayern, und zwar der BayObLG, Beschl. v. 08.05.2024 – 204 StRR 452/23. Es geht um das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (§ 86a StGB).

Das AG hat den Angeklagten wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Das LG hat die hiergegen eingelegte Berufung des Angeklagten als unbegründet verworfen. Dagegen die Revision.

Das LG hatte folgende Feststellungen getroffen:

„Zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt zwischen dem 08.06.2022 und dem 20.07.2022 sprühte der Angeklagte ein mehrere Meter hohes und mehrere Meter breites Graffiti an die Wand einer Feldscheune am Anwesen (…). Es kann, wie von dem Angeklagten beabsichtigt, von einer nicht überschaubaren Anzahl an Personen zur Kenntnis genommen werden.

Das Graffiti ähnelt einer gemalten Postkarte, die unter anderem eine Person mit schwarzer Uniform nebst Schirmmütze zeigt, welche wie vom Angeklagten beabsichtigt, einer SS-Uniform zum Verwechseln ähnlich sieht. So ist auf dem linken Kragen der Uniform das Abzeichen des Dienstgrades eines SS-Sturmbannführers abgebildet, welches aus vier kleinen hellen Quadraten auf einem dunklen, hell umrandeten rechteckigen Untergrund besteht. Auf der schwarzen Schirmmütze ist über dem Schirm – so wie es auch bei den Dienst-Schirmmützen insbesondere für Offiziere der SS der Fall war – eine zweizügige helle Kordel abgebildet, sowie darüber mittig das bayerische Wappen mit zwei Flügeln, welches dem auf den Dienst-Schirmmützen der SS angebrachten Hoheitszeichen ähnelt.

Das Gesicht der dargestellten Person besteht aus einem halbseitig skelettierten Kopf, welcher, wie von dem Angeklagten ebenfalls beabsichtigt, dem von der SS verwendeten Totenkopfabzeichen jedenfalls zum Verwechseln ähnlich sieht. Die andere Gesichtshälfte zeigt das Konterfei des bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Söder. Unter diesem Bild sind zwei kleinere Bilder angeordnet, welche zeigen, wie drei Personen, deren Kleidung sehr stark bayerischen Polizeiuniformen ähnelt, eine wehrlose Person misshandeln. Der Gesichtsausdruck des bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Söder scheint dies zu billigen. Ferner ist auf dem Graffiti der Schriftzug „Liebesgrüße aus Bayern“ aufgebracht. Der Angeklagte beabsichtigt damit, gegenüber dem bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Söder seine Missachtung kundzutun.

Der Angeklagte wusste, dass es sich bei den genannten Zeichen um Kennzeichen der ehemaligen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei handelte.“

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts habe der Angeklagte angegeben, dieses Graffiti an die Feldscheune gesprüht, hierfür sechs Stunden benötigt und einen Tag vorher bereits die Grundierung vorgenommen zu haben. Er habe hiermit einen einige Zeit vorher selbst erlebten Fall von Polizeigewalt darstellen und ihn „in visueller Form“ verarbeiten wollen. Bei der dargestellten Person handele es sich nicht um den bayerischen Ministerpräsidenten, sondern um „irgendeine Autoritätsperson“. Auch handle es sich nicht um eine SS-Uniform; schwarz sei diese, weil diese Farbe negative Emotionen ausdrücke. Das Graffiti sei immer noch vorhanden.

Demgegenüber hat das Berufungsgericht zum Tatsachverhalt festgestellt, dass die auf dem Graffiti zu sehende schwarze Uniform nebst Schirmmütze einer SS-Uniform jedenfalls zum Verwechseln ähnlich sieht (BU 3), und ist beweiswürdigend davon ausgegangen, dass es sich bei der Uniform, die die dargestellte Person trägt, eindeutig um eine SS-Uniform handele (BU 6).“

Die fRevision des Angeklagten hatte mit der Sachrüge Erfolg und führt, da nach Auffassung des BayObLG die vom LG festgestellten und vom Anklagevorwurf erfassten Handlungen des Angeklagten keinen Straftatbestand erfüllen, zum Freispruch des Angeklagten.

Ich beschränke mich hier auf die Leitsätze des BayObLG, da die Gründe zu lang sind, um sie hier einzustellen. Insoweit ist also Selbststudium angesagt, aber: Vorsicht, denn es ist schwere Kost auf über 30 Seiten.

Hier die Leitsätze:

1. Zur Frage, ob ein Graffiti, das eine Person mit einer als Schädel ausgeformten Gesichtshälfte und mit an eine SS-Uniform erinnernden Uniformteilen zeigt, in der erforderlichen Gesamtschau ein Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation darstellt.

2. Ein Graffiti stellt bereits bei ausschließlich formaler Betrachtungsweise grundsätzlich Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG dar, da es die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps, nämlich der Malerei, erfüllt.

Es unterfällt auch dem inhaltsbezogenen Kunstbegriff, wenn es in der Art seiner bildhaften Umsetzung einer Geschichte schöpferische Elemente enthält, wodurch der Künstler seine persönlichen Erfahrungen – wie hier mit der Staatsgewalt – ausdrückt und zu unmittelbarer Anschauung bringt.

Auch wenn der Künstler durch die Abbildungen eines Polizeieinsatzes Vorgänge des realen Lebens schildert, unterfällt ein Graffiti dem sog. offenen Kunstbegriff, wenn die Wirklichkeit im Kunstwerk „verdichtet“ wird, indem die Realität aus den Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten der empirisch-geschichtlichen Wirklichkeit gelöst und in neue Beziehungen gebracht wird, für die nicht die „Realitätsthematik“, sondern das künstlerische Gebot der anschaulichen Gestaltung im Vordergrund steht, es somit eine Reihe von Interpretationen zulässt und damit in seiner Aussage vieldeutig bleibt.

3. Die Kunsteigenschaft eines Graffiti wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Künstler damit über die künstlerische Ausdrucksform hinaus eine politische Meinung äußern wollte und hierbei eine satirische Ausdrucksform gewählt hat, die durch Übertreibungen, Verzerrungen und Verfremdungen gekennzeichnet ist.

4. Dies gilt auch, wenn das Graffiti ein verfassungswidriges Kennzeichen und eine Beleidigung beinhalten würde.

5. Gegenüber der Kunstfreiheit hat das Persönlichkeitsrecht der abgebildeten Person zurückzutreten, wenn sich deren karikaturhaft verzerrtes Abbild nicht unerheblich von deren Urbild entfernt, sich nicht ausschließen lässt, dass diese lediglich als Symbol der Staatsmacht dargestellt wurde, wobei nicht grundlos deren oberster Repräsentant, sondern das Handeln der Exekutive kritisiert werden sollte, und eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts bei der gebotenen kunstfreiheitsfreundlichen Betrachtung unter dem Aspekt der satirischen Machtkritik auch sonst nicht vorliegt.

6. Zum Verhältnis von Kunstfreiheit und verfassungsrechtlich gewährleisteter Ordnung.