Schlagwort-Archive: BayObLG

Corona II: Mitfahrt eines Beschäftigten im Firmen-Kfz, oder: Gilt/galt die Maskenpflicht an der Arbeitsstätte?

Bild von Wilfried Pohnke auf Pixabay

Und im zweiten Posting dann der BayObLG, Beschl. v. 18.12.2023 – 201 ObOWi 1077/23 – zur Frage eines Verstoßes gegen pandemiebedingte Maskenpflicht an der Arbeitsstätte wegen bloßer Mitfahrt eines Beschäftigten in Firmenfahrzeug.

Das AG hat den den Betroffenen wegen eines vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit des Verstoßes gegen die Maskenpflicht gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 3 der 9. BayIfSMV zu einer Geldbuße von 250 EUR verurteilt.

Nach den Feststellungen des AG befand sich der Betroffene, der Malermeister ist, am 07.12.2020 mit weiteren fünf Personen in einem Transporter auf dem Weg zu einer Baustelle in Neumarkt in der Oberpfalz. Der Mindestabstand von 1,5 Metern im Fahrzeug wurde nicht eingehalten, keiner der Insassen trug einen Mund-Nasen-Schutz. Das AG hat in rechtlicher Hinsicht ausgeführt, dass auch ein Firmenfahrzeug, das von den Mitarbeitern genutzt wird, als Arbeitsplatz i.S.v. § 24 Abs. 1 Nr. 3 der 9. BayIfSMV anzusehen sei. Der Betroffene habe vorsätzlich gehandelt, weil er gewusst habe, dass er keinen Mund-Nasen-Schutz trage und dies auch nicht beabsichtigte. Er habe deshalb vorsätzlich gegen die Maskenpflicht nach § 24 Abs. 1 Nr. 3 der 9. BayIfSMV verstoßen.

Dagegen die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die Erfolg hatte. Das BayObLG legt – wie gewohnt 🙂 – umfangreich das, warum wegen der bloßen Mitfahrt eines Beschäftigten in einem Firmenfahrzeug kein Verstoß gegen die pandemiebedingte Maskenpflicht an der Arbeitsstätte vorliegt. Insoweit beschränke ich mich hier wegen des Umfangs der Begründung auf die Leitsätze der Entscheidung, die lauten:

    1. Die Maskenpflicht am Arbeitsplatz bzw. an der Arbeitsstätte dient dem Arbeitsschutz. Deshalb sind die Begriffe der Arbeitsstätte und des Arbeitsplatzes in der 9. BayIfSMV entsprechend der Begrifflichkeit im Arbeitsschutzgesetz und der Arbeitsstättenverordnung zu verstehen.
    2. Ein Firmenfahrzeug, das von Mitarbeitern für die Fahrt zu einer Baustelle genutzt wird, ist nicht als Arbeitsplatz oder Arbeitsstätte i.S.v. § 24 Abs. 1 Nr. 3 der 9. BayIfSMV anzusehen. Eine weitergehende Auslegung überschreitet die Grenze des möglichen Wortsinns und widerspricht den Begriffsdefinitionen aus arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen.

Die Begründung dann bitte im Volltext selbt lesen.

Aber: Frei gesprochen hat das BayObLG nicht, sondern zurückverwiesen. Begründung:

„3. Nach den insoweit getroffenen Feststellungen des Amtsgerichts kommt somit kein Verstoß gegen § 24 Abs. 1 Nr. 3 der 9. BayIfSMV in Betracht, wohl aber ein Verstoß gegen die in § 3 Abs. 1 Nr. 2 der 9. BayIfSMV angeordnete Kontaktbeschränkung. Danach war der gemeinsame Aufenthalt im öffentlichen Raum, in privat genutzten Räumen und auf privat genutzten Grundstücken nur gestattet mit den Angehörigen des eigenen Hausstands sowie zusätzlich den Angehörigen eines weiteren Hausstands, solange dabei eine Gesamtzahl von insgesamt höchstens fünf Personen nicht überschritten wird. Dies gilt nach § 3 Abs. 3 der 9. BayIfSMV nicht für berufliche und dienstliche Tätigkeiten, bei denen ein Zusammenwirken mehrerer Personen zwingend erforderlich ist.

Da sich hier nach den Feststellungen sechs Personen im Fahrzeug aufhielten, kommt eine Ordnungswidrigkeit nach § 29 Nr. 1 der 9. BayIfSMV in Betracht.

a) Hinsichtlich der möglichen Verwirklichung des Tatbestandes des Verstoßes gegen die Kontaktbeschränkung erweisen sich die Urteilsfeststellungen aber als lückenhaft (§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO, sodass dem Senat keine eigene Entscheidung möglich ist.

Zum einen gilt die Kontaktbeschränkung nicht für berufliche und dienstliche Tätigkeiten, bei denen ein Zusammenwirken mehrerer Personen zwingend erforderlich ist. In dem Urteil sind keine Feststellungen zu der Art der in Aussicht genommenen Tätigkeit und der Notwendigkeit der gemeinsamen Fahrt enthalten.

Zum anderen ergibt sich aus dem Urteil (konsequenterweise) auch nichts Tragfähiges zum subjektiven Tatbestand des Betroffenen bezüglich der Kontaktbeschränkung.

b) Da die Fahrt am 07.12.2020 erfolgte, ist im Falle des fahrlässigen Verstoßes gegen § 3 Abs. 1 Nr. 2 der 9. BayIfSMV die Tat bereits verjährt. Am 07.12.2020 waren vorsätzliche Ordnungswidrigkeiten nach § 73 Abs. 2 IfSG a.F. mit einer Geldbuße bis zu 25.000 Euro bedroht, sodass die fahrlässige Ordnungswidrigkeit nach § 73 Abs. 2 IfSG a.F., § 17 Abs. 2 OWiG mit Geldbuße bis zu 12.500 EUR bedroht war. Die Verjährungsfrist beträgt gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 OWiG zwei Jahre. Eine Anhörung (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG) erfolgte am 07.12.2020, der Bußgeldbescheid (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG) wurde erst am 12.12.2022 und damit nach Ablauf der Zwei-Jahres-Frist erlassen.

…..“

Nun ja, kann man machen. Aber m.E. schreit die Sache nach mehr als drei Jahren aber mehr nach § 47 Abs. 2 OWiG als nach einer erneuten Hauptverhandlung.

Corona I: Ausbleiben in Berufungs-HV „wegen Corona“, oder: Darlegung der genügenden Entschuldigung

Bild von Andreas Lischka auf Pixabay

Heute zum Wochenstart mal wieder drei Entscheidungen aus der Katergorie „Corona/Covid-19“. Alle drei kommen vom BayObLG, zwei sind schon etwas älter.

Ich starte dann mit den schon etwas älteren Entscheidungen, und zwar hier mit dem BayObLG, Beschl. v. 28.06.2023 – 206 StRR 174/23 – zum Ausbleiben des Angeklagten im Berufungshauptverhandlungstermin wegen geltend gemachter coronabedingter Verhandlungsunfähigkeit

Das AH hatte den Angeklagten am 12.10.2022 wegen Beihilfe zum Betrug „in einem besonders schweren Fall“  verurteilt. Die Berufung des Angeklagten hat das LG verworfen, weil der ordnungsgemäß geladene Angeklagte im Verhandlungstermin am 14.02.2023 nicht erschienen sei, obwohl ihm die Folgen eines unentschuldigten Fernbleibens mit der Ladung mitgeteilt worden seien. Allein die Übersendung einer Bescheinigung über das Vorliegen eines positiven SARS-CoV-2 Antigentests genüge ohne weitere Informationen darüber, warum der Angeklagte am Erscheinen im Hauptverhandlungstermin gehindert sei, denen das Gericht nachgehen könne, nicht.

Dagegen die Revision des Angeklagten, die beim BayObLG keinen Erfolg hatte:

„Das Rechtsmittel ist unbegründet, weil das Fernbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 14. Februar 2023 allein durch die kommentarlose Vorlage der Bescheinigung über einen positiven Antigentest auf das Vorliegen einer SARS-CoV-2 Infektion nicht genügend entschuldigt war.

Insoweit kann auf die erschöpfenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 30. Mai 2023 Bezug genommen werden. Ergänzend bemerkt der Senat auch im Hinblick auf seinen Beschluss vom 25. Oktober 2022, 206 StRR 286/22, BeckRS 2022, 30918, dass zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung, die hier am 14. Februar 2023 stattfand, im Gegensatz zu dem mit Beschluss vom 25. Oktober 2022 entschiedenen Fall, in dem am 28. Juni 2022 die Hauptverhandlung im Berufungsverfahren stattgefunden hatte, die Quarantänepflicht nach der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 12. April 2022 (BayMBl. 2022 Nr. 225 vom 12. April 2022) nicht mehr galt. Am 14. Februar 2022 galt die Allgemeinverfügung zu Schutzmaßnahmen bei positiv auf das Coronavirus SARS-CoV-2 getesteten Personen (AV Corona-Schutzmaßnahmen) gemäß Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 15. November 2022 (BayMBl. 2022 Nr. 631 vom 15. November 2022), deren Gültigkeit durch Allgemeinverfügung vom 20. Januar 2023 bis zum 28. Februar 2023 verlängert worden ist (BayMBl. 2023 Nr. 46 vom 25. Januar 2023). In der Bekanntmachung vom 15. November 2022 war in Nr. 2.1 für positiv getestete Personen unverzüglich nach Kenntniserlangung vom positiven Testergebnis Maskenpflicht nach Nr. 3 außerhalb der eigenen Wohnung für mindestens fünf Tage nach dem Erstnachweis des Erregers angeordnet, aber keine Quarantänepflicht.

Die Feststellungen des Landgerichts belegen schlüssig, dass das Nichterscheinen des Angeklagten zum Zeitpunkt des Erlasses des Verwerfungsurteils nicht ausreichend entschuldigt war. Die Gründe lassen erkennen, dass der Angeklagte lediglich die Bescheinigung über einen positiven Antigentest übersandt hatte, ohne hierzu weitere Informationen zu erteilen (UA Seite 2). Die Gründe teilen zwar weder mit, wer das Testergebnis übersandt hat, noch wann dies geschehen war. Dies wirkt sich im Ergebnis jedoch nicht aus, denn aus der bloßen Mitteilung des positiven Testergebnisses ergibt sich – wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausführt – noch keine genügende Entschuldigung des Nichterscheinens im Sinne des § 329 Abs. 1 StPO. Es ist nicht erkennbar, dass nach Art und konkreten Auswirkungen der Erkrankung eine Beteiligung des Angeklagten an der Hauptverhandlung unzumutbar gewesen sei.

Die rechtliche Prüfung des Revisionsgerichts erstreckt sich auch darauf, ob das Berufungsgericht auf der Grundlage der festgestellten Umstände die Pflicht zu weiterer Sachaufklärung im Wege des Freibeweises gehabt hätte (BGH Beschluss vom 11. April 1979, 2 StR 306/78, NJW 1979, 2319, 2320; vgl. auch BayObLG, Beschluss vom 12. September 2000, 5 StRR 259/00, juris Rn. 9). Besondere, schon aus den Feststellungen selbst ersichtliche Anhaltspunkte für ein solches Defizit liegen nicht vor. Es ist in den Urteilsgründen ausdrücklich festgestellt, dass nur das Testergebnis mitgeteilt worden war, also weder ein ärztliches Attest vorlag noch sonst ein Arzt mitgeteilt war. Ein Rechtsfehler, der darin liegen könnte, dass eine Nachfrage des Vorsitzenden bei dem betreffenden Arzt unterblieben ist, um von diesem eine Erläuterung der Krankheitssymptome zu erhalten, lässt sich aus den Urteilsgründen nicht ersehen.“

Zur Berufungsverwerfung hatte das BayObLG auch bereits im BayObLG, Beschl. v. 25.10.2022 – 206 StRR 286/22 – Stellung genommen, der folgende Leitsätze hat:

1. Macht der Angeklagte geltend, er habe einen Selbsttest auf eine Infektion mit dem Corona-Virus durchgeführt, der ein positives Ergebnis erbracht habe, ist dies wegen der bei Richtigkeit der Behauptung nicht auszuschließenden Infektionsgefahren für die Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit regelmäßig auch dann als ausreichende Entschuldigung für sein Fernbleiben anzusehen, wenn er keine körperlichen Symptome aufweist, die seine Verhandlungsunfähigkeit begründen würden.
2. Bloße Zweifel an der Richtigkeit eines schlüssig vorgebrachten Entschuldigungsgrundes rechtfertigen die Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht; ihnen hat das Gericht im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht nachzugehen. Eine Mitwirkungspflicht obliegt dem Angeklagten insoweit nicht. Kommt er der Aufforderung des Gerichts zur Vorlage eines Testergebnisses einer Schnellteststelle nicht nach, ist dies allein zur Begründung einer Verwerfung des Rechtsmittels nicht geeignet. Ist das Gericht davon überzeugt, dass der das Fernbleiben in der Hauptverhandlung ausreichend begründende Entschuldigungsgrund nur vorgeschoben ist, sind die tragenden Gründen hierfür im Urteil nachvollziehbar darzulegen.

Strafzumessung III: Verhängung einer Geldstrafe, oder: Einkommen, Tagessatzhöhe, Zahlungserleichterung

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und im Nachmittagsposting dann noch zwei Entscheidungen des BayObLG zur (Bemessung) der Geldstrafe. Von beiden Entscheidungen stelle ich aber nur die Leitsätze vor, und zwar:

1. Bei der Verhängung einer Geldstrafe ist deren möglicherweise entsozialisierende Wirkung zu berücksichtigen.
2. Verfügt der Angeklagte lediglich über Einkommen in der Nähe des Existenzminimums, hat das Gericht bei einer hohen Tagessatzanzahl schon bei der Bemessung der Höhe des einzelnen Tagessatzes in einem einheitlich ermessensähnlich ausgestalteten Strafzumessungsakt über Zahlungserleichterungen (§ 42 StGB) zu entscheiden.
3. Die Tagessatzhöhe ist in der Weise zu berechnen, dass dem Angeklagten der zur Sicherung seines Lebensbedarfs unerlässliche Betrag in Höhe von 75 % des Regelsatzes der Sozialhilfe (heute des Bürgergeldes) nach Abzug des auf die Geldstrafe zu zahlenden monatlichen Teilbetrages noch verbleibt.
4. Insoweit hängt die Tagessatzhöhe in derartigen Fällen auch von der Höhe und Dauer einer zu gewährenden Ratenzahlung ab, weil sich die verhängte Geldstrafe in der vom Gericht vorgesehenen Ratenzahlungsdauer in Raten bezahlen lassen muss, die dem Angeklagten den zur Sicherung seines Lebensbedarfs unerlässlichen Betrag belassen.

Bei der Bemessung der Tagessatzhöhe einer Geldstrafe muss das Tatgericht auch in ausreichender Weise erkennen lassen, dass es sich möglicher entsozialisierender Wirkungen der Geldstrafe bewusst gewesen ist.

 

StPO III: Berufungsverwerfung wegen Ausbleibens, oder: AG-Urteil ohne Unterschrift

Bild von Rafa Bordes auf Pixabay

Und als dritte Entscheidung dann noch der BayObLG, Beschl. v. 29.08.2023 – 203 StRR 331/23. Mit dem bin ich mal ganz mutig. In der Entscheidung spielt nämlich eine Urteil ohne Unterschrift eine Rolle. Ich befürchte, dass es nun wieder los gehen wird 🙂 : Das Kommentieren und Schreiben zu dieser wichtigen 🙂 Frage, die manche nicht verstehen.

In dem dem Beschluss zugrunde liegenden Verfahren war das Urteil des AG nicht unterschrieben. Das LG hat dann die Berufung des Angeklagten trotzdem nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen, als der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung unentschuldigt ausgeblieben ist. Und das war richtig, sagt das BayObLG:

„Ergänzend bemerkt der Senat:

Wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat, steht der Umstand, dass das erstinstanzliche schriftliche Urteil keine Unterschrift des Tatrichters aufweist, einer Verwerfung der Berufung nach § 329 StPO nicht entgegen. Das Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 setzt voraus, dass zulässig Berufung eingelegt worden ist, die Verfahrensvoraussetzungen gegeben sind, keine Prozesshindernisse vorliegen, der Angeklagte ordnungsgemäß geladen wurde, weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsmacht erschienen ist und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 329 Rn. 6 ff.; Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 329 Rn. 60, 63). Liegen diese Voraussetzungen vor, hat das Berufungsgericht das Verfahren ohne jede sachliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils zu beenden (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rn. 32). Die Bestimmung nimmt die Möglichkeit in Kauf, dass ein sachlich unrichtiges Urteil allein darum rechtskräftig wird, weil der Angeklagte in der Berufungsverhandlung ohne genügende Gründe ausgeblieben ist (BGH, Urteil vom 3. April 1962 – 5 StR 580/61 –, BGHSt 17, 188-190, juris Rn. 4). Ein Urteil ohne Gründe ist, sofern es nach § 268 Abs. 2 StPO verkündet worden ist, grundsätzlich wirksam und kann in Rechtskraft erwachsen (BGH, Urteil vom 8. Juli 1955 – 2 StR 144/55 –, BGHSt 8, 41-42, juris).“

Und ja, die Entscheidung ist zutreffend.

StPO II: Bei Urteilsverkündung Maßregel vergessen, oder: (kein) Verkündungs-/Fassungsversehen?

Bild von John Hain auf Pixabay

Und dann die zweite Entscheidung. Die kommt aus Bayern. Es handelt sich um den BayObLG, Beschl. v. 06.09.2023 – 203 StRR 342/23. Der behandelt eine Frage, die sich sicherlich gar nicht so selten stellen dürfte, nämlich: Wie geht man damit um, wenn im erstinstanzlichen Urteil eine Maßregel „vergessen“ worden ist. Zumindest im verkündeten Urteil?

Hier war der Angeklagte durch Urteil des AG wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren trotz Fahrverbots verurteilt worden. Nach der laut Hauptverhandlungsprotokoll in der Hauptverhandlung verkündeten und inhaltsgleich in der schriftlichen Urteilsurkunde wiedergegebenen Urteilsformel hat das AG den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt und ein Fahrverbot von 5 Monaten, jedoch keine Sperrfrist ausgesprochen. In den schriftlichen Gründen der Urteilsurkunde hat es allerdings eine isolierte Sperre nach § 69 a Abs. 1 Satz 3 StGB von einem Jahr begründet. Eine Protokollberichtigung ist nicht erfolgt.

In der Berufung hat das LG eine wirksame Anordnung einer Sperrfrist von einem Jahr angenommen und die Berufung des Angeklagten mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die verhängte Sperrfrist noch 9 Monate beträgt. Das Fahrverbot von 5 Monaten hat es aufrechterhalten.

Das geht so nicht, sagt das BayObLG:

„Die zulässige Revision ist teilweise begründet. Mit der – erstmaligen – Anordnung einer isolierten Sperrfrist hat das Landgericht gegen das in der Revision von Amts wegen zu prüfende (BGH, Beschluss vom 23. August 2000 – 2 StR 171/00 –, juris; Franke in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 358 Rn. 23 m.w.N.) Verbot der Schlechterstellung (§ 331 Abs. 1 StPO) verstoßen und den Umfang der von Amts wegen zu beachtenden Teilrechtskraft (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 4 m.w.N.; BGH, Beschluss vom 23. August 2000 – 2 StR 171/00 –, juris Rn. 7; Gericke in KK-StPO, 9. Aufl., § 358 Rn. 22) nicht berücksichtigt. Für die Bestimmung des Umfangs der Bestrafungsgrenze ist die verkündete Urteilsformel maßgeblich (BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 4 m.w.N.). Das Amtsgericht hat bei der Verkündung des Urteils am 1. März 2023 wie auch im Tenor der schriftlichen Urteilsurkunde keine isolierte Sperrfrist für die Erteilung der Fahrerlaubnis ausgesprochen. Auf die Streitfrage, ob in der Revision das Übereinstimmen von verkündeter und im schriftlichen Urteil niedergelegter Urteilsformel von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 3), kommt es hier nicht an.

Im einzelnen:

1. Um die Auswirkung der Rechtskraft bestimmen zu können, hat das Berufungsgericht den Verkündungsinhalt von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen (BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 4). Das Erfordernis einer Verfahrensrüge gibt es im Berufungsverfahren nicht.

2. Nach § 268 Abs. 2 S. 1 StPO wird das Urteil durch Verlesung der Urteilsformel und Eröffnung der Urteilsgründe verkündet. Nach § 260 Abs. 2 und 4 StPO sind alle Rechtsfolgen in die Urteilsformel mit aufzunehmen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 260 Rn. 38). Mit der Verkündung ist der Urteilsspruch grundsätzlich nicht mehr änderbar und nicht mehr ergänzbar. Die Urteilsformel als Grundlage für die Vollstreckung und die Eintragung der Verurteilung in die Register muss aus sich selbst heraus verständlich sein (vgl. Stuckenberg in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 260 Rn. 30, 31). Rechtsfolgen, die notwendig in die Formel aufzunehmen sind, gelten als nicht verhängt oder als abgelehnt, wenn die verkündete Urteilsformel über sie schweigt (Stuckenberg a.a.O. Rn. 34). Eine nachträgliche Ergänzung der Formel im Wege der Berichtigung ist nur zur Korrektur offensichtlicher Verkündungsversehen in Ausnahmefällen möglich (Stuckenberg a.a.O.).

3. Die verkündete Urteilsformel ist als wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung gemäß § 274 StPO zu protokollieren (vgl. Bartel in KK-StPO, a.a.O. § 268 Rn. 3). Der authentische Wortlaut der Urteilsformel ergibt sich demgemäß aus der Sitzungsniederschrift (BGH, Beschluss vom 13. September 1991 – 3 StR 315/91 –, juris; BGH, Beschlüsse vom 9. Mai 2001 – 2 StR 42/01- und vom 6. Februar 2013 – 1 StR 529/12 Rn. 3 m.w.N., zitiert nach juris; BGH, Urteil vom 10. Oktober 2019 – 1 StR 632/18-, juris). Allein das Protokoll beweist nach § 274 Satz 1 StPO, welche Urteilsformel der Vorsitzende tatsächlich verkündet hat (BGH, Urteil vom 10. Oktober 2019 – 1 StR 632/18 –, juris Rn. 15), während es auf den Wortlaut der niedergelegten Urteilsformel nicht ankommt (Bartel in KK-StPO, a.a.O., § 268 Rn. 3; Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 268 Rn. 29). Die bloße schriftliche Niederlegung der Anordnung einer Sperrfrist könnte demnach eine unterbliebene Verkündung nicht ersetzen.

4. Nach dem Hauptverhandlungsprotokoll hat das Amtsgericht hier keine Anordnung einer Maßregel nach § 69a StGB verkündet.

a) Die Sitzungsniederschrift ist insoweit eindeutig, der Urteilstenor leidet für sich betrachtet nicht an offensichtlichen Mängeln, ist weder unklar, erkennbar lückenhaft oder widersprüchlich. Die vom Tatgericht niedergeschriebene Urteilsformel haben die beiden Urkundspersonen weder in das Protokoll eingefügt noch als Anlage zum Protokoll genommen (vgl. dazu OLG Köln, Urteil vom 7. November 2006 – 83 Ss 70/06 –, juris Rn. 27; Stuckenberg, a.a.O., Rn. 28, 29), so dass insoweit keine Widersprüchlichkeit innerhalb des Protokolls, die die Beweiskraft des Protokolls erschüttern könnte, vorliegt. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Aufnahme der §§ 69, 69a StGB in die angewandten Strafvorschriften. Denn die Liste der angewandten Vorschriften ist kein Bestandteil des Urteilstenors (BGH, Beschluss vom 18. Juli 2007 – 2 StR 280/07 –, juris; Tiemann in KK-StPO, a.a.O. § 260 Rn. 52). Sie ist weder zu verlesen noch sonst bekannt zu geben (BGH, Urteil vom 25. September 1996 – 3 StR 245/96 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 260 Rn. 51; Tiemann a.a.O.).

b) Eine förmliche Berichtigung des Protokolls (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 23. April 2007 – GSSt 1/06 –, BGHSt 51, 298-317 juris) ist nicht erfolgt. Keine der Urkundspersonen ist von der protokollierten Fassung abgerückt (vgl. dazu OLG Hamm, Urteil vom 14. August 1980 – 2 Ss 367/80 –, juris).

c) Der Senat hat daher die Beweiskraft des Protokolls zu beachten. Danach ist die Urteilsformel wie protokolliert verkündet worden. Das Amtsgericht hat in der Urteilsformel keine Anordnung einer Sperrfrist ausgesprochen.

5. Entgegen der Rechtsauffassung der Generalstaatsanwaltschaft liegt hier kein offensichtliches Verkündungs- oder Fassungsversehen vor.

a) Das Verschlechterungsverbot steht der Nachholung unterlassener Entscheidungen nicht in jedem Fall entgegen (vgl. Gericke a.a.O. § 358 Rn. 19).

b) Das Rechtsmittelgericht kann offensichtliche Versehen im Ausspruch des angefochtenen Urteils berichtigen. Nach der gefestigten Rechtsprechung sind „offensichtlich“ jedoch lediglich solche Fehler, die sich ohne weiteres aus der Urkunde selbst oder aus solchen Tatsachen ergeben, die für alle Verfahrensbeteiligten klar zu Tage treten und auch nur den entfernten Verdacht einer späteren sachlichen Änderung ausschließen. Es muss – auch ohne Berichtigung – eindeutig erkennbar sein, was das Gericht – zum Zeitpunkt der Verkündung – tatsächlich gewollt und entschieden hat (vgl. zur Berichtigung in der Revision BGH, Beschluss vom 5. Juni 2013 – 4 StR 77/13 –, juris Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 354 Rn. 33; Franke a.a.O. § 354 Rn. 47 ff.; Gericke a.a.O. § 354 Rn. 20 f.). Bei dieser Prüfung ist ein strenger Maßstab anzulegen, um zu verhindern, dass mit einer Berichtigung eine unzulässige nachträgliche Abänderung des Urteils einhergeht (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2017 – 2 StR 345/16 –, juris Rn. 17; BGH, Beschluss vom 20. Juni 2017 – 1 StR 113/17 –, juris Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 268 Rn. 10). Hinsichtlich der Frage einer möglichen Berichtigung der mündlich verkündeten Urteilsformel könnte auch die mündliche Urteilsbegründung Berücksichtigung finden (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. Rn. 10 m.w.N.). Grundsätzlich ist jedoch in Ansehung der überragenden Bedeutung der Urteilsformel, die – anders als die schriftlichen Urteilsgründe – bei Verkündung schriftlich vorliegen muss, bei einer Berichtigung der Urteilsformel Zurückhaltung geboten (BGH, Urteil vom 23. Oktober 1952 – 5 StR 480/52, BGHSt 3, 245, 247, juris; BGH, Urteil vom 8. November 2017 – 2 StR 542/16 –, juris Rn. 18).

c) Gemessen daran kann im vorliegenden Fall in der unterlassenen Verkündung einer Entscheidung über die Anordnung einer Sperre keine Unrichtigkeit erblickt werden, deren Offensichtlichkeit sich zwanglos aus Tatsachen ergeben würde, die für alle Verfahrensbeteiligten klar zu Tage liegen und die jeden Verdacht einer unzulässigen nachträglichen Änderung ausschließen. Die verkündete Urteilsformel selbst war in sich widerspruchsfrei und eindeutig. Für weitere aus dem Ablauf der Urteilsverkündung ergebende und für die Verfahrensbeteiligten klar zu Tage liegenden Tatsachen, die ein reines Versehen bei der Fassung des Tenors offenkundig machen könnten, ist hier nichts ersichtlich, insbesondere fehlen Anhaltspunkte, dass die mündliche Mitteilung der Entscheidungsgründe, die gemäß § 268 Abs. 2 StPO mit der Verlesung der Urteilsformel eine Einheit bildet, den Verfahrensbeteiligten ohne weiteres die Gewissheit über die Anordnung einer Sperre – etwa im Wege der mündlichen Erörterung der Sperrfrist – vermittelt hätte. Die spätere schriftliche Urteilsbegründung, die für die Verfahrensbeteiligten erkennbar Ausführungen zu einer Sperre enthält, reicht für sich allein nicht aus, um nachträglich die wahre Entscheidung des Amtsgerichts zum allein maßgeblichen Zeitpunkt der Urteilsverkündung aufzuzeigen (vgl. Stuckenberg a.a.O. Rn. 54; Franke a.a.O. § 354 Rn. 49). Wird eine bestimmte Rechtsfolge als Teil des Urteilsspruchs nicht verkündet, liegt kein offensichtliches Verkündungs- oder Fassungsversehen vor, das vom Revisionsgericht nachträglich richtig gestellt werden könnte (so auch BGH, Beschluss vom 10. Mai 1988 – 5 StR 47/88 –, juris ebenfalls zu einer versehentlich unterbliebenen Verkündung der Anordnung einer Sperre; vgl. auch BGH, Beschluss vom 28. Mai 1974 – 4 StR 633/73 –, BGHSt 25, 333-338 juris; im Ergebnis auch Franke a.a.O).

d) Der Umstand, dass die nach der Urteilsverkündung gefertigten schriftlichen Urteilsgründe des Amtsgerichts für sich genommen rechtlich einwandfreie Erwägungen enthalten, die die Festsetzung der nicht verkündeten Anordnung einer Sperrfrist rechtfertigen würden, vermag aufgrund des Widerspruchs von Tenor und Gründen an dem Ergebnis somit nichts mehr zu ändern.

6. Mangels Anordnung einer Maßregel in der ersten Instanz durfte das Landgericht auf die Berufung des Angeklagten hin nach § 331 Abs. 1 StPO keine Entscheidung zur isolierten Sperre treffen. Das in der Revision angefochtene Urteil ist somit entsprechend zu korrigieren…..“