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Beweis III: Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, oder: Vorliegen weiterer Beweismittel

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Die letzte Entscheidung heute verhält sich zu Beweiswürdigungsregeln, und zwar tzr Frage der Aussage-gegen-Aussagekonstellation bei Vorliegen weiterer tatbezogener Beweismittel. Es handelt sich um den KG, Beschl. v. 05.11.2021 – (2) 121 Ss 100/21 (24/21). Das KG nimmt zu der Frage in einem Zusatz Stellung, und zwar wie folgt:

„3. Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:

„Gegen die von dem Angeklagten mit seiner Revision ebenfalls angegriffene Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils bestehen unter Berücksichtigung der maßgeblichen Rechtsgrundsätze (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 1997 – 5 StR 178/97 –, juris) keine durchgreifenden Bedenken. Die Annahme der Revision, dass eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt, trifft hier schon deshalb nicht zu, weil – worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hinweist – in Gestalt der bei der Anzeigenaufnahme gefertigten Lichtbilder und des ärztliche Attests des Dr. med. P. vom 20. Januar 2020 weitere unmittelbar tatbezogene, sachliche Beweismittel vorlagen, die die Angaben der Zeugin stützen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2019 – 5 StR 451/19 – juris; Senat, NStZ 2019, 360). Der Anwendung der vom BGH (allein) für die Konstellation „Aussage gegen Aussage“ entwickelten besonders strengen Beweiswürdigungsregeln (vgl. BGHSt 44, 153; 44, 257) bedurfte es somit nicht.“.

Beweiswürdigung I: Aussage-gegen-Aussage-Thema, oder: Alle Umstände besonders sorgfältig gewürdigt?

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In die neue Woche starte ich mit zwei Entscheidungen zur Beweiswürdigung und dort zur Unterthematik: „Aussage-gegen-Aussage-Problematik. Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v.  18.05.2021 – 1 StR 124/21. Das LG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hatte mit der Sachrüge Erfolg. Der BGH beanstandet die Beweiswürdigung des LG:

„1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist rechtsfehlerhaft.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn das Tatgericht zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung stellt. Allerdings bestehen besondere Anforderungen an die Darlegung der Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht ‒ wie hier ‒ seine Feststellungen im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen allein auf die Angaben der Geschädigten stützt. In einer solchen Konstellation, in der die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, ob das Gericht den Angaben der einzigen Belastungszeugin folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegung einbezogen hat (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 6. August 2020 ‒ 1 StR 178/20 Rn. 8; vom 12. Februar 2020 ‒ 1 StR 612/19 Rn. 4; vom 18. März 2020 ‒ 1 StR 67/20 Rn. 7; vom 5. April 2016 ‒ 1 StR 53/16 Rn. 3 und vom 20. April 2017 ‒ 2 StR 346/16 Rn. 6).

b) Diesen Anforderungen wird das Urteil des Landgerichts ‒ auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs ‒ nicht gerecht.

aa) Das Landgericht hat bei der hier vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen zwar zutreffend zunächst die Einlassung des Angeklagten (UA S. 21 ‒ 25) umfassend dargestellt, sich dann aber den ‒ aus seiner Sicht ‒ glaubhaften Angaben der Nebenklägerin nach deren inhaltlicher Überprüfung in vollem Umfang angeschlossen (UA S. 25 ‒ 41). In die notwendigerweise besonders sorgfältige Gesamtwürdigung werden vom Landgericht aber nicht alle Umstände einbezogen, die seine Entscheidung hätten beeinflussen können. Insbesondere wird die Einlassung des Angeklagten, dass es zunächst zu einverständlichen sexuellen Handlungen und nach der ‒ sowohl vom Angeklagten als auch von der Nebenklägerin übereinstimmend geschilderten ‒ Zäsur nach dem Oralverkehr nicht mehr zu einem Vaginalverkehr gekommen sei, nicht gewürdigt und nicht mit den Angaben der Nebenklägerin abgeglichen. Dessen hätte es gerade deshalb bedurft, weil die Nebenklägerin im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung und bei ihren Angaben in der Hauptverhandlung (UA S. 27 ‒ 29) teilweise abweichende Angaben zum eigentlichen Geschehensablauf gemacht hat, welche das Landgericht aber gleichwohl als in ihren wesentlichen Teilen konstant (UA S. 27) bewertet, ohne die entsprechenden Angaben der Nebenklägerin insoweit wiederzugeben. Auch die vom Landgericht festgestellten Facebook-Nachrichten des Angeklagten an die Nebenklägerin nach der Tat, u.a. mit den Formulierungen ʺWieso hast du so am Rad gedreht.ʺ (UA S. 41), werden nicht in die insoweit gebotene Gesamtwürdigung eingestellt.

bb) Hinzu kommt, dass das Landgericht trotz der in mehrfacher Hinsicht unrichtigen Angaben der Nebenklägerin ohne diesbezügliche Gesamtwürdigung von deren Glaubwürdigkeit ausgeht. So hat die Nebenklägerin bei ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung zunächst verschwiegen, dass ihr ʺSchwarmʺ Si. in der Nacht vor der Tat bei ihr übernachtet hatte und dass der Zeuge H. zweimal zu ihr ins Hotel gekommen war. Einmal war dies unmittelbar nach dem Tatgeschehen gegen 1.00 Uhr für die Dauer von einer Stunde der Fall; später hatte der Zeuge bei einem weiteren Besuch im Hotelzimmer auf dem Sofa übernachtet. Zwar hat die Nebenklägerin diese Angaben ‒ nach entsprechenden Vernehmungen der vorgenannten Zeugen ‒ in der Hauptverhandlung bei ihrer zweiten Vernehmung richtiggestellt. Die Begründung der Nebenklägerin, dass die Falschaussage aus falsch verstandener Loyalität zu dem Zeugen H. gemacht wurde (UA S. 40), und die Folgerung des Landgerichts, dass diese Falschaussage keine Zweifel am sonstigen Wahrheitsgehalt ihrer Aussage begründen kann, werden nicht nachvollziehbar begründet. Dieses Verhalten der Nebenklägerin mit zunächst wahrheitswidrigen Angaben hätte ‒ auch im Zusammenhang mit der dargestellten abweichenden Einlassung des Angeklagten zum Tatgeschehen ‒ zumindest einer vertiefenden Auseinandersetzung im Rahmen der Gesamtwürdigung mit der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin bedurft, um den erhöhten Anforderungen an die Beweiswürdigung in dieser besonderen Konstellation zu genügen.“

AE III: Akteneinsicht des Nebenklägers, oder: Aussage-gegen-Aussage

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Und als dritte Entscheidung dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 06.09.2021 – 4 Ws 153/21 – zur Akteneinsicht an die Vertreterin der Nebenklägerin in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation. Dazu das OLG:

„Der Senat kann dahinstehen lassen, ob in Konstellationen, in denen Aussage gegen Aussage steht, bei Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklägervertreterin generell eine Gefährdung des Untersuchungszwecks i.S.v. § 406e Abs. 2 S. 2 StPO zu gewärtigen ist (OLG Hamburg, Beschl. v. 21.03.2016 – 1 Ws 40/16 – juris; Eisenberg JR 2016, 390, 394; Hinderer StraFo 2016, 76 ff.) oder ob eine solche erst nach Betrachtung der Umstände des Einzelfalls angenommen werden kann (so etwa: KG Berlin StraFo 2019, 116 f.; OLG Braunschweig StraFo 2016, 75, 76; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 05.02.2021 – 2 Ws 27/21 – juris). Auch wenn man der zweiten Auffassung folgt, führt die Ausübung des durch die Norm eingeräumten Ermessens, zu dessen Überprüfung der Senat mangels gesetzlicher Beschränkung der Überprüfungskompetenz (wie etwa in § 453 Abs. 2 StPO) in vollem Umfang berufen ist (vgl. § 309 Abs. 2 StPO), dazu, im vorliegenden Fall nur eine eingeschränkte Akteneinsicht in dem vom Landgericht vorgenommenen Umfang zu gewähren. Der Angeklagte bestreitet die Tat und es liegt eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vor. Es wird daher im Hauptverfahren auf eine eingehende Würdigung der den Angeklagten belastenden Aussage der Nebenklägerin einschließlich ihrer Entstehungsgeschichte und Aussagekonstanz ankommen. Zwar drängt die Kenntnis der Verfahrensakten nicht zur Annahme der Unrichtigkeit von Aussagen und mit der Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts geht nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (BGH JR 2016, 390 und BGH JR 2016, 391). Auch ist vorliegend angesichts des geringen Alters der Nebenklägerin und der Zusicherung der Nebenklägervertreterin, ihr den Akteninhalt nicht zugänglich zu machen, nicht zu gewärtigen, dass die Nebenklägerin ihre verschriftlichte Aussage bzw. Teile der verschriftlichten Aussage ihrer Mutter gleichsam „zum Auswendiglernen“ erhält. Andererseits war die Aussage der Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren bei der Polizei so detailarm (und Angaben zum Tatgeschehen erfolgten eher mühsam und auf immer erneute Vorhalte), dass die Kenntnis der Akteninhalte – und sei dies auch nur durch entsprechende Vorhalte im Rahmen eines vorbereitenden Gesprächs mit der Nebenklägervertreterin – sehr wohl die Würdigung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben im Hauptverfahren erschweren und damit den Untersuchungszweck gefährden könnte. Demgegenüber ist die Beeinträchtigung der Rechte der Nebenklägerin gering, denn – wie der Nichtabhilfebeschluss zutreffend ausführt – ihrer anwaltlichen Vertreterin kann unmittelbar nach ihrer Vernehmung bzw. der Vernehmung ihrer Mutter und noch vor Entlassung dieser Zeugen Akteneinsicht gewährt werden, so dass diesen entsprechende Vorhalte – nach einer zunächst von etwaigen Kenntnissen der Akteninhalte unbeeinflussten Aussage – gemacht werden können. Sollte eine längere Verhandlungspause innerhalb eines Verhandlungstages für die Wahrnehmung der Akteneinsicht nicht ausreichen, wird das Landgericht ggf. auch die Anberaumung eines weiteren Fortsetzungstermins in Erwägung ziehen müssen.“

Nebenklage I: Akteneinsicht für die Nebenklägerin, oder: Aussage-gegen-Aussage

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Heute stelle ich dann Entscheidungen rund um die Nebenklage vor. Die erste, der LG Köln, Beschl. v.29.01.2021 – 120 Qs 3-4/21 -, den mir die Kollegin Heindorf aus Köln Essen geschickt hat, ist m.E. vor allem aber auch für Verteidiger interessant.

Ergangen ist er in einem Verfahren, das eine Tat nach § 177 Abs. 2 Nr. 5, Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB zum Gegenstand hat. In dem ist der Nebenklagevertreterin, die als Zeugenbeistand beigeordnet war, Akteneinsicht gewährt worden. Dagegen richte ich sich die Beschwerde der Verteidiger der beiden Angeklagten. Die hatte Erfolg:

„Die Beschwerden sind auch begründet. Der Antrag auf Akteneinsicht war abzulehnen.

Nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO kann dem Nebenkläger die Akteneinsicht versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Über die Versagung der Akteneinsicht wegen einer Gefährdung des Untersuchungszwecks entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen (Schmitt a.a.O., § 406e Rn. 11). Indes ist das Beschwerdegericht nicht darauf beschränkt, die angefochtene Entscheidung auf Ermessensfehler zu überprüfen, sondern trifft eine eigene Ermessensentscheidung (KG NStZ 2019, 110 (111); OLG Braunschweig NStZ 2016, 629 (630)). Dabei sind auch in Fällen, in denen die Angaben des Verletzten zum Kerngeschehen von der Einlassung des Angeklagten abweichen und eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt, immer die Umstände des Einzelfalls entscheidend (vgl. KG a.a.O.; OLG Braunschweig a.a.O.; Schmitt a.a.O., § 406e Rn. 12). Allerdings dürfte bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation jedenfalls dann von einer Gefährdung des Untersuchungszwecks auszugehen sein, wenn — wie hier — die Aussage des Belastungszeugen das einzige oder nach dem Ermittlungsergebnis belastbarste Beweismittel ist (so auch LR-StPO/Hilger, 26. Aufl. 2009, § 406e Rn. 13). Denn in diesen Fällen droht schon durch die Akteneinsicht als solche eine Gefährdung des Untersuchungszwecks, sodass dem Belastungszeugen jedenfalls in aller Regel die Akteneinsicht zu versagen ist (vgl. OLG Hamburg NStZ 2015, 105 (107); MüKoStPO/Grau, 2019, § 406e Rn. 14).

Ausweislich des Akteninhalts haben die Angeklagten die Tat abgestritten, wobei sie insbesondere die Einvernehmlichkeit der betreffenden sexuellen Handlungen vorgeben. In solchen Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen greifen besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung, wobei es dem Tatrichter je nach Fallgestaltung auch obliegen kann, dem Belastungszeugen zum Zwecke der Glaubhaftigkeitsprüfung Inhalte früherer Vernehmungen oder sonstige Akteninhalte vorzuhalten. Gerade der inhaltlichen Konstanz aufeinander folgender Vernehmungen desselben Zeugen kommt als eines von zahlreichen Realitätskriterien wesentliche Bedeutung zu (OLG Hamburg NStZ 2015, 105 (107)). Auch wenn die Tat tatsächlich begangen worden sein und der Zeuge in der Hauptverhandlung wahrheitsgemäß aussagen sollte, wird die Aussagekraft seiner Aussagekonstanz durch die Gewährung vorheriger Akteneinsicht zwangsläufig entwertet (vgl. auch BGH, Beschluss vom 21. April 2016 — 2 StR 435/15 —, juris Rn. 14). Selbiges gilt für die im Rahmen der Beweiswürdigung gebotene Überprüfung durch den Tatrichter, ob der Aussageinhalt mit den sonstigen Akteninhalten, insbesondere den übrigen Ermittlungsergebnissen, in Einklang zu bringen ist. Das Gericht könnte sich bei der Glaubhaftigkeitsprüfung der Aussage dem Umstand der vorherigen Akteneinsicht nicht verschließen. Hierdurch wird die Erforschung des wahren Sachverhalts unabhängig davon gefährdet, ob der Zeuge die Kenntnisnahme von Akteninhalten offenlegt oder seine Aussage gar bewusst diesen Akteninhalten anpasst. Schon die Möglichkeit, dass der Tatrichter der Aussage des Belastungszeugen aus diesem Grund geringeres Gewicht beimisst, steht dem Untersuchungszweck entgegen.

Auch die Zusicherung der Nebenklagevertreterin, der Nebenklägerin im vorliegenden Fall keine Akteninhalte zur Verfügung zu stellen, schließt die Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht aus. Der Tatrichter kann nicht zuverlässig überprüfen, ob diese Zusicherung eingehalten wurde (vgl. OLG Hamburg NStZ 2015, 105 (108)). Hieran ändert sich nicht dadurch etwas, dass die Nebenklägerin auf Befragen des Tatrichters, welche Akteninhalte zu ihrer Kenntnis gelangt sind, als Zeugin zur Wahrheit verpflichtet wäre und für den Fall einer Lüge mit einer Strafe rechnen müsste (so aber KG NStZ 2019, 110 (112)). Denn gerade in Fällen, in denen der Angeklagte der Sache nach eine Falschbeschuldigung durch den Belastungszeugen behauptet, ist diese Erwägung nicht geeignet, eine Gefährdung des Untersuchungszwecks auszuschließen.

Ohne Bedeutung ist weiter die — auch von der Nebenklagevertreterin vorgebrachte —Erwägung, es dürfte sich im Ergebnis eher zu Gunsten als zu Lasten des Angeklagten auswirken, wenn eine festgestellte Konstanz in der Aussage der Nebenklägerin wegen einer vorherigen Akteneinsicht an Wert für die Beurteilung ihrer Angaben als richtig verliert (vgl. hierzu KG NStZ 2019, 110 (112)). Es geht bei dem Versagungsgrund des § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO nicht um die Interessen des Angeklagten, sondern um das öffentliche Interesse, den Untersuchungszweck nicht zu gefährden. Auch wenn der Untersuchungszweck auch den Interessen des Angeklagten dient, steht er dennoch nicht zu dessen Disposition.

Der Gefährdung des Untersuchungszwecks stehen im vorliegenden Fall keine überwiegenden Interessen der Nebenklägerin gegenüber. Die Erwägung der Nebenklagevertreterin, nur durch Aktenkenntnis sei ihr eine Beurteilung möglich, ob die Nebenklägerin möglicherweise eine Falschaussage getätigt hat, ist nicht durchgreifend. Es obliegt dem Tatrichter, die Nebenklägerin vor ihrer Vernehmung umfassend zu den Folgen einer Falschaussage zu belehren. Es ist der Nebenklagevertreterin auch ohne genaue Aktenkenntnis unbenommen, die Nebenklägerin darüber aufzuklären, welche prozessualen Rechte ihr aus dem hypothetischen Fall unwahrer Angaben im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung erwachsen würden. Es ist nicht erkennbar, welchen Vorteil die genaue Kenntnis früherer Aussageinhalte für diese Aufklärung bieten sollte…..“

Aussage-gegen-Aussage I: Würdigung des Glaubwürdigkeitsgutachtens, oder: Handreichungen

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In die 38. KW. starte ich hier mit zwei Entscheidungen zu einer Beweiswürdigungsfrage, und zwar zur Aussage-gegen-Aussage-Problematik.

Den Beginn macht der BGH, Beschl. v. 19.05.2020 – 2 StR 7/20. Der Entscheidudng liegt ein Urteil des LG Gera zugrunde, durch das der Angeklagte u.w. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden ist. Der BGh hebt auf und beanstandet die Beweiswürdigung:

„Die den Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung hält – auch unter Berücksichtigung des beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. nur BGH, Urteil vom 18. September 2008 – 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401, 402) – sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Nach den Feststellungen missbrauchte der Angeklagte seinen im Dezember 2008 geborenen Stiefsohn M. in drei Fällen sexuell. Die Strafkammer stützt dies allein auf die Angaben des Jungen bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung, die dieser später widerrufen hat. Dabei hat sich die Strafkammer hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Tatopfers und der Glaubhaftigkeit seiner Angaben sachverständig beraten lassen.

2. In Fällen, in denen – wie hier – Aussage gegen Aussage steht, hat der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung besondere Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. April 1987 – 3 StR 141/87, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1; Beschluss vom 22. April 1997 – 4 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13; Senat, Urteil vom 3. Februar 1993 – 2 StR 531/92, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Beweiswürdigung 15; Urteil vom 6. April 2016 – 2 StR 408/15, Rn. 11) und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 30. August 2012 – 5 StR 394/12, NStZ-RR 2013, 19; Senat, Urteil vom 6. April 2016 – 2 StR 408/15, Rn. 11 mwN). Erforderlich sind vor allem eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage (BGH, Beschluss vom 21. April 2005 – 4 StR 98/05, NStZ-RR 2005, 232, 233), eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs (vgl. BGH, Urteil vom 10. April 2003 – 4 StR 73/03, Rn. 8), sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben (Senat, Urteil vom 7. März 2012 – 2 StR 565/11, Rn. 9; Urteil vom 7. Februar 2018 – 2 StR 447/17, Rn. 8).

3. Den sich hieraus ergebenden Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Insbesondere ist die Würdigung des eingeholten Glaubwürdigkeitsgutachtens widersprüchlich und lückenhaft.

a) Ausweislich der in die Urteilsgründe einkopierten Auszüge aus dem schriftlich abgefassten aussagepsychologischen Gutachten (welches die Sachverständige „entsprechend mündlich inhaltlich referiert“ habe), hat die Sachverständige ausgeführt, dass die Nullhypothese, die Angaben von M. enthielten keine hinreichenden Hinweise auf eine Erlebnisfundiertheit und dementsprechende Glaubwürdigkeit, nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zurückgewiesen werden könne. Es seien erhebliche Einschränkungen in seinem Bemühen um die Objektivität seiner Angaben erkennbar und er zeige die Bereitschaft zu Falschaussagen. Dies begründe nachhaltige Zweifel an seiner Zeugentauglichkeit.

b) Hierzu führen die Urteilsgründe sodann aus: „Den grundsätzlichen Darlegungen der Sachverständigen nicht zu folgen, hatte die Kammer keine Veranlassung. Wie bereits ausgeführt, geht die Kammer davon aus, dass das geschädigte Kind jedenfalls noch bei seiner ersten Befragung […], da völlig unbeeinflusst und teils spontan mit unerwarteten Details aufwartend sowie unter Schilderung von originellen Details und Interaktionen, von tatsächlich mit dem Angeklagten erlebten sexuellen Erfahrungen berichtet hat.“ Dies lässt besorgen, dass die Strafkammer das Ergebnis der aussagepsychologischen Begutachtung missverstanden und folglich unzutreffend in eine Gesamtwürdigung einbezogen hat, oder dass sie sich ohne inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gutachten über dessen Ergebnis hinweggesetzt hat. Beides ist rechtsfehlerhaft. Zwar ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Tatrichter eine von einem Sachverständigengutachten abweichende eigene Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben des Belastungszeugen vornimmt, denn er ist im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung stets zu einer eigenen Beurteilung verpflichtet. Weicht der Tatrichter mit seiner Beurteilung von einem Sachverständigengutachten ab, muss er sich jedoch konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen und seine Auffassung tragfähig sowie nachvollziehbar begründen, um zu belegen, dass er mit Recht das bessere Fachwissen für sich in Anspruch nimmt, nachdem er zuvor glaubte, sachverständiger Beratung zu bedürfen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 16. September 2008 – 3 StR 302/08, Rn. 5 mwN). Jedenfalls dies ist im gegebenen Fall nicht in ausreichender Weise geschehen.“

Und dann gleich noch ein paar Handreichungen für das Schreiben von Urteilen, nach dem Motto: So hätten wir es gern.

„a) Eine wörtliche Wiedergabe umfangreicher Vernehmungsprotokolle in den Urteilsgründen allein auf der Grundlage von Vorhalten gegenüber dem jeweiligen Vernehmungsbeamten ist schon für sich genommen rechtlich bedenklich. Mit Blick auf den Inhalt der über mehrere Seiten referierten Angaben des Tatopfers auf entsprechende Fragen des Vernehmungsbeamten (UA 17 bis 19) besteht im vorliegenden Fall ferner Anlass zu dem Hinweis, dass die Wertung des Landgerichts, die Mitteilungen des Geschädigten (gegenüber dem Vernehmungsbeamten) seien „teils überraschend und spontan erfolgt und daher glaubhaft“, näherer Erläuterung bedurft hätte.

b) Der neue Tatrichter wird Gelegenheit haben, ein auch im Übrigen den Anforderungen des § 267 StPO genügendes Strafurteil abzufassen (zur gebotenen Klarheit in Sprache und Darstellung vgl. Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 29. Aufl., Rn. 207 ff., 228 ff.). Insbesondere bei einer umfangreicheren Beweiswürdigung ist darauf Bedacht zu nehmen, diese durch eine erkennbare Struktur – etwa eine Gliederung – klar und nachvollziehbar zu machen; ist eine Beweiswürdigung unstrukturiert, kann allein dies den Bestand eines Urteils gefährden (BGH, Beschluss vom 12. August 1999 – 3 StR 271/99). Die schriftlichen Urteilsgründe sollen in allgemein verständlicher und sachlicher Form abgefasst sein (Senat, Urteil vom 3. Dezember 2008 – 2 StR 435/08, NStZ-RR 2009, 103, 104). Ein klarer sprachlicher Ausdruck dient – wie eine Gliederung – der notwendigen intersubjektiven Vermittelbarkeit der bestimmenden Beweisgründe (vgl. bereits BGH, Beschluss vom 18. April 1994 – 5 StR 160/94, NStZ 1994, 400; vgl. auch Senat, Beschluss vom 11. März 2020 – 2 StR 380/19, Rn. 4). So finden auch Eigentümlichkeiten in Sprache und Gedankenführung in tatrichterlichen Urteilen (hier z.B. UA 23 mittlerer Absatz) ihre Grenzen in den aus den §§ 261, 267 StPO folgenden gesetzlichen Anforderungen.“