Zustellung II: Aufgabe des Lebensmittelpunktes, oder: Heilung eines Zustellungsmangels durch WhatsApp?

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Autot WhatsApp

Und dann als zweite Entscheidung der AG Ulm, Beschl. v. 05.03.2024 – 5 OWi 2260/23 – zur Wirksamkeit der Zustellung eines Bußgeldbescheides.

Die Verwaltungsbehörde hat gegen die Betroffene wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße festgesetzt. Der Bußgeldbescheid wurde der Betroffenen, ausweislich der Zustellungsurkunde am 19.07.2023 an ihre Meldeadresse, pp. zugestellt. Die Mutter der Betroffenen hat dieser am 31.07.2023 lediglich die erste Seite des Bußgeldbescheids per WhatsApp geschickt. Die Betroffene hat sich per E-Mail am unter Angabe des korrekten Aktenzeichens und des korrekten Gesamtbetrages (inkl. Auslagen und Gebühr) bei der Verwaltungsbehörde gemeldet und um Zahlungserleichterung gebeten. Die Verwaltungsbehörde bot am selben Tag verschiedene Möglichkeiten der Ratenzahlung an und wies auf die Rechtskraft zum 03.08.2023 hin. Die Betroffene antwortete ebenfalls noch am 31.07.2023, u.a., dass sie postalisch nicht zu erreichen sei und man ihr daher keine Bestätigung senden solle. Die E-Mail reiche ihr als Nachweis völlig aus.

Über ihren Verteidiger legte die Betroffene am 07.09.2023 Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Zudem wurde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist beantragt. Die Verwaltungsbehörde hat den Einspruch verworfen und den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen. Der dagegen gerichtete Antrag auf gerichtliche Entscheidung hatte Erfolg:

„Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist in der Sache auch begründet. Der Bußgeldbescheid wurde der Betroffenen nicht ordnungsgemäß zugestellt und es ist auch keine Heilung eingetreten. Der Einspruch vom 07.09.2023 erfolgte form- und fristgerecht.

1. Es ist keine wirksame Ersatzzustellung durch Einlegen des Bußgeldbescheids in den Briefkasten am 19.07.2023 erfolgt.

Der Bußgeldbescheid vom 14.07.2023 wurde der Betroffenen nicht am 19.07.2023 ordnungsgemäß zugestellt. Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde der Bußgeldbescheid am 19.07.2023 in den zur Wohnung mit der Anschrift gehörenden Briefkasten eingelegt. Eine Ersatz-zustellung durch Einlegen in den Briefkasten nach § 51 Abs. OWiG i.V.m. § 3 LVwZG i.V.m. § 180 ZPO ist nur möglich, wenn die Wohnung tatsächlich vom Zustellungsadressaten bewohnt wird. Wohnung i. S. d. Norm sind hierbei die Räume, die der Empfänger tatsächlich bewohnt, in den er also seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt hat und wo am ehesten mit einer Zustellung gerechnet werden kann. Die Eigenschaft als Wohnung geht erst verloren, wenn sich während der Abwesenheit des Zustandsempfängers auch der räumliche Mittelpunkt seines Lebens an den neuen Aufenthaltsort verlagert (vgl. BGH, NJW 1978, 1885). Ob das der Fall ist, lässt sich nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen, wobei der Zweck der Zustellungsvorschriften, dem Emp-fänger rechtliches Gehör zu gewähren, zu berücksichtigen ist. Geeignete Gesichtspunkte für diese Prüfung können die Dauer der Abwesenheit, der Kontakt zu den in der Wohnung verbliebenen Personen sowie die Absicht und die Möglichkeit der Rückkehr sein (BGH, NJW 1978, 1858).

Unter Zugrundelegung dieser Kriterien hat die Betroffene, ausweislich der Kommandantur vom 01.08.2020, die jedenfalls bis zum 31.07.2023 andauerte und ihre Wohnsitznahme in der Nähe von Ulm erforderlich machte, ihren Lebensmittelpunkt in S. zu diesem Zeitpunkt aufgegeben (BI. 41, 42 d.A.). Sie besucht die alte Adresse in Abständen von mehreren Monaten lediglich für Besuch der Eltern. Ihr tatsächlicher Lebensmittelpunkt hat sich nach Ulm verlagert. Die Tatsache, dass die Betroffene am 02.07.2023 online auf das Anhörungsschreiben, welches ebenfalls an die Adresse in S. versendet wurde, geantwortet hat, führt nicht zu einem widersprüchlichen Verhalten der Betroffenen. Die Anhörung datiert vom 23.05.2023. Nach eigenen Angaben war die Betroffene Anfang Juni 2023 in S. zu Besuch. Dies bestätigt auch die Mutter der Betroffenen (BI. 47 d.A.) Daher kann die Betroffene die Anhörung – unwiderleglich – zur Kenntnis genommen haben. Dadurch wurde nicht in vorwerfbarer Weise der Rechtsschein einer Wohnungsnahme in S. begründet.

2. Es erfolgte auch keine Heilung des Zustellungsmangels durch die teilweise Übersendung des Bußgeldbescheides per WhatsApp an die Betroffene. Dies begründet keinen tatsächlichen Zugang.

Die Betroffene hatte spätestens am 31.07.2023 Kenntnis vorn Bußgeldbescheid, weil ihre Mütter die erste Seite des Bescheids abfotografierte und der Betroffenen per WhatsApp übermittelte. Die Betroffene nahm am selben Tag in Form von E-Mails Kontakt zur Bußgeldbehörde auf. Der Buß-geldbescheid gilt gemäß § 51 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 9 LVwZG als am14.08.2023 zugestellt, wenn er der Betroffenen am 31.07.2023 tatsächlich zugegangen wäre. Voraussetzung dafür ist, dass die Behörde die Zustellung vornehmen wollte (BVerwGE 16, 165; VGH BW VBIBW 1988, .143; BGH NJW 2003, 1192) und der Zustellungsadressat das zuzustellende Dokument tatsächlich erhalten hat, so dass er vom Inhalt Kenntnis nehmen konnte (BGH NJW 2007, 1605; OLG Karlsruhe BeckRS 2004, 09651). Dies wird dahingehend konkretisiert, dass der Adressat das Schriftstück so in die Hand bekommen haben muss, wie es ihm bei ordnungsmäßiger Zustellung ausgehändigt worden wäre (BGH NZG 2020, 70 ‚BFH NJW 2014, 2524; Engelhardt/App/Schlatmann/Schlatmann, 12. Aufl. 2021, VwZG § 8 Rn. 2).

Die bloße (mündliche) Unterrichtung über den Inhalt des Schriftstücks ist nicht ausreichend (BGH BeckRS 2020, 6358 NJW 1992, 2099), auch nicht die durch Akteneinsicht erlangte Kenntnis (BayObLG NJW 2004, 3722). Nicht erforderlich ist der Zugang des zuzustellenden Originals. Die Übermittlung einer (elektronischen) Kopie, z.B. Scan, Fotokopie, Telefax, genügt (BGH BeckRS 2020, 6358). Die Übermittlung der ersten Seite des Bußgeldbescheides per WhatsApp genügt in-soweit nicht den Voraussetzungen einer tatsächlichen Zustellung im Sinne der Norm. Dafür wäre es erforderlich, dass die Betroffene vom gesamten Bescheid sichere Kenntnis nehmen kann. Vorliegend hat die Mutter der Betroffenen im Rahmen ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 19.09.2023 ausgeführt, dass sie dieser nur die erste Seite des Bescheids am 31.07.2023 über-sendet hat (BI. 92 d.A.). Es bestehen keine Zweifel an dieser Aussage, da sie konstant zu der Bestätigung, die jedenfalls vor dem 07_09.2022 datiert, ist (121. 47 d.A,) Aufgrund der bestehenden Zweifel an der ordnungsgemäßen Zustellung des Bußgeldbescheids, ist nach dem Zweifelssatz zu verfahren und eine solche zu verneinen. (BeckOK OWiG/Gertler, 41. Ed. 1.1.2024, OWiG § 67 Rn. 114; KK-OWiG/Ellbogen Rn. 69; Göhler/Seitz/Bauer Rn. 38 mwN; RRH/Bösert Rn. 3a). Auch die Meldung der Betroffenen bei der Behörde wegen einer Zahlungserleichterung am 31.07.2023 dokumentiert keine tatsächliche Kenntnis vom gesamten Bescheid.“

Zustellung I: Hauptverhandlungsprotokoll fertig?, oder: Zustellung vor Fertigstellung?

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eute am Donnerstag gibt es dann drei Entscheidungen zu Zustellungsfragen, also StPO. Die Entscheidungen stammen aus dem Straf- und dem Bußgeldverfahren.

Den Opener macht der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 18.10.2023 – 7 ORs 37/23. Es geht um die Auslegung eines Rechtsmittels und eben um die Frage der Wirksamkeit einer Zustellung.

Das AG hat einen Strafbefehl gegen den Angeklagten erlassen. Zu der auf Einspruch des Angeklagten anberaumten Hauptverhandlung erschien der Angeklagte nicht. Das AG hat den Einspruch gegen den Strafbefehl verworfen. Das Verwerfungsurteil vom 24.04.2023 wurde dem Angeklagten am 17.062023 zugestellt.

Hiergegen legte der Angeklagte mit am 22.06.2023 eingegangenen Schreiben „der Ordnung halber, um Ihre rechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen und gleichsam keine Fristen zu versäumen […] Revision“ ein. Das AG hat das Rechtsmittel als Sprungrevision gemäß § 335 Abs. 1 StPO gewertet und nach Anhörung des Angeklagten die Revision nach Ablauf der in § 345 Abs. 1 StPO vorgesehenen Revisionsbegründungsfrist mit Beschluss vom 09.082023 als unzulässig verworfen. Gegen den Beschluss legte der Angeklagte nach Zustellung „Widerspruch/Einspruch oder dergleichen“ ein. Das Rechtsmittel hatte Erfolg.

Das OLG sieht den vom Angeklagten eingelegten „Widerspruch/Einspruch oder dergleichen“ gemäß § 300 StPO als Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 StPO an. Der sei zulässig und auch begründet.

Zu dem Rechtsmittel des Angeklagten führt das OLG aus, dass es nicht als Revision, sondern als Berufung anzusehen sei. Insoweit bitte im Volltext lesen. Dazu hier nur der Leitsatz:

Der Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Das gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO angerufene Revisionsgericht hat auch zu prüfen, ob das Rechtsmittel überhaupt als Revision anzusehen ist. Eine Auslegung der Rechtsmittelerklärung ist veranlasst, wenn mehrere Rechtsmittel zulässig sind und unklar bleibt, welches eingelegt werden soll. Das Rechtsmittel ist so zu deuten, dass der erstrebte Erfolg möglichst erreichbar ist; im Zweifel gilt das Rechtsmittel als eingelegt, das die umfassendere Nachprüfung erlaubt.

Und zur Wirksamkeit der Zustellung heißt es:

„2. Das als Berufung zu qualifizierende Rechtsmittel gegen das Verwerfungsurteil des Amtsgerichts Hanau vom 24. April 2023 ist auch bereits wirksam eingelegt, obschon dieses Urteil bislang nicht wirksam zugestellt und damit die Rechtsmittelfrist noch nicht in Gang gesetzt wurde.

Eine wirksame Zustellung eines Urteils setzt gemäß der zwingenden Verfahrensvorschrift des § 273 Abs. 4 StPO die vorherige Fertigstellung des Protokolls voraus (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Februar 2013 – 4 StR 246/12 = NStZ 2014, 420, 41; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 273 Rn 34). Die Fertigstellung des Protokolls erfolgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem Zeitpunkt, zu dem die letzte der für die Beurkundung des gesamten Protokollinhalts erforderlichen Unterschriften geleistet wurde (BGH Beschluss vom 13. Februar 2013 – 4 StR 246/12, a.a.O., m.w.N.). Der Tag der Fertigstellung muss nach § 271 Abs. 1 S. 2 StPO im Protokoll vermerkt oder auf sonstige Weise aktenkundig gemacht werden. Das in der Praxis übliche Vorgehen, den Fertigstellungstag unter dem Protokoll anzubringen, war ausweislich des in dem Protokoll enthaltenen Passus „Das Protokoll wurde fertiggestellt am:“, auch im vorliegenden Fall angelegt. Allerdings fehlt es an dieser Stelle an einer Eintragung des maßgeblichen Datums, das sich auch nicht aus anderen Umständen ergibt, wie etwa dem ausdrücklich in § 271 Abs. 1 S. 2 StPO vorgesehenen Vermerk oder auch der Übersendung des Protokolls an den Angeklagten (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 15. September 1969 – AnwSt (B) 2/69 = NJW 1970, 105 f.). Eine Anfertigung eines Vermerks betreffend den Zeitpunkt der Fertigstellung im Wege einer dienstlichen Stellungnahme der Vorsitzenden und der Protokollführerin ist aus Gründen der Rechtssicherheit nach der bereits tatsächlich erfolgten Zustellung nicht mehr möglich, um Unsicherheiten über die Wirksamkeit der Zustellung des Urteils und den hiervon abhängigen Fristenlauf zu verhindern; in diesem Fall muss die Zustellung – nachdem die Fertigstellung aktenkundig gemacht wurde – erneut veranlasst werden.

Die bislang fehlende Zustellung des Urteils steht der Zulässigkeit des Rechtsmittels indes nicht entgegen. Ein Rechtsmittel kann eingelegt werden, wenn und sobald die angefochtene Entscheidung ergangen ist; nicht erforderlich ist, dass der Rechtsmittelführer Kenntnis von dem Erlass der Entscheidung hatte (vgl. BeckOK-Cirener StPO, 49. Edition, Stand: 1. Oktober 2023, § 296 Rn 5). Allerdings steht es dem Angeklagten frei, nach der wirksamen Zustellung des Verwerfungsurteils vom 24. April 2023 und der damit (erstmals) in Gang gesetzten Rechtsmittelfrist, einen Wechsel von dem Rechtsmittel der Berufung hin zu dem Rechtsmittel der Revision zu erklären (vgl. LG Freiburg, Beschluss vom 3. März 2021 – 2/20 7 Ns 680 Js 39626/15). Hiervon wäre – aus den oben dargelegten Gründen – indes nur im Falle einer zweifelsfreien Erklärung auszugehen, wobei dem Angeklagten bewusst sein muss, dass – anders als im Falle der Berufung – eine Revision binnen Monatsfrist nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels zu begründen ist und dies nur durch eigene Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle bzw. einen von einem Rechtsanwalt einzureichenden Schriftsatz geschehen kann (vgl. § 345 Abs. 1 StPO).“

StGB III: „Hitlergruß“ gegenüber Wachtmeister des AG, oder: Schutzzweck des § 86a StGB verletzt?

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Und dann habe ich hier noch einmal den OLG Celle, Beschl. v. 22.11.2023 -1 ORs 7/23 -, über den ich bereits einmal berichtet habe, und zwar hier: StGB II: Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes, oder: „öffentlich“ oder „nicht öffentlich“?

Ich komme heute auf die Entscheidung zurück, und zwar wegen eines zweiten Tatvorwurfs, der dem Angeklagten gemacht worden ist. Dem liegt/lag folgendes Tatgeschehen zugrunde:

„Am 14. Dezember 2021 begab sich der Angeklagte zu einer familiengerichtlichen Anhörung betreffend seinen Sohn zum Amtsgericht Cuxhaven. Aufgrund der dort geltenden 3-G-Regelung – welche er nicht erfüllte – wurde ihm jedoch der Zugang verwehrt. Auf den Vorschlag des Wachtmeisters S., noch einen Test zu absolvieren, ging er nicht ein, sondern echauffierte sich und rief u.a. „Schweine! Kackdemokratie!“ Dann machte er in Richtung der Sicherheitsscheibe und der dort anwesenden Wachtmeister den Hitlergruß und rief laut „Heil Hitler!“, bevor er das Gebäude verließ.“

Das AG hat den Angeklagten deswegen wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verurteilt (§ 86a StGB). Das OLG hat auch insowiet aufgehoben:

2. Auch im Hinblick auf das Tatgeschehen am 14. Dezember 2021 lassen die dazu getroffenen Feststellungen eine Subsumtion unter die Strafvorschrift des § 86a Abs. 1 StGB nicht zu.

a) Zunächst hätte sich das Landgericht vorliegend mit dem Kontext, in dem der Angeklagte die festgestellten Handlungen vollzogen hat, auseinandersetzen müssen. Denn nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist eine Kennzeichenverwendung, die dem Schutzzweck des § 86a StGB ersichtlich nicht zuwiderläuft, aus dem Tatbestand ausgeschlossen (BGH, Urt. v. 9. Juli 2015 – 3 StR 33/15, NJW 2015, 3590, 3592 mwN); dies ist etwa der Fall, wenn sie als Protest gegen überzogene polizeiliche Maßnahmen und deren Charakterisierung als nazistische Methoden aufzufassen und damit als Gegnerschaft zum Nationalsozialismus zu verstehen ist (BGH, Urt. v. 18. Oktober 1972 – 3 StR 1/71, NJW 1971, 106, 107; ähnlich OLG Oldenburg, Beschl. v. 28. November 1985 – Ss 575/85, NStZ 1986, 166; OLG Koblenz, Beschl. v. 28. Januar 2008 – 1 Ss 331/07, juris Rn. 11). Dies muss der Täter jedoch in offenkundiger und eindeutiger Weise zum Ausdruck bringen (BGH, Urt. v. 15. März 2007 – 3 StR 486/06, NJW 2007, 1602 f.; vgl. auch BeckOK/Ellbogen, StGB, 58. Ed., § 86a Rn. 35), was nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen ist (MK/Anstötz, StGB, 4. Aufl., § 86a Rn. 20).

Unter dem danach maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkt, ob die Kennzeichenverwendung durch den Angeklagten dem Schutzzweck des § 86a StGB ersichtlich nicht zuwiderläuft, hat die Strafkammer die einzelnen Umstände der Tat nicht untersucht. Dabei lag es nach dem Kontext, in dem der Angeklagte sich wie festgestellt verhielt – er konnte aufgrund der bestehenden 3-G-Regel nicht an einem ihn betreffenden familiengerichtlichen Termin teilnehmen – sowie seiner allgemeinen politischen Einstellung – er war Kritiker der Coronamaßnahmen und nahm an entsprechenden Kundgebungen teil („Sonntagsspaziergang“) – durchaus nahe, dass er dadurch seinen Protest gegen die Wachtmeister des Amtsgerichts bzw. die Verantwortlichen für die geltenden Coronaregeln zum Ausdruck bringen und diese als nazistische Methoden brandmarken wollte.

Ob dies ggf. auch für objektive Beobachter eindeutig erkennbar war, kann nur aus den näheren Begleitumständen gefolgert werden. Feststellungen hierzu und zu einer für die Bewertung ebenfalls bedeutsamen möglichen Reaktion von Beobachtern fehlen aber bislang.

b) Auch zur Frage der „öffentlichen“ Kennzeichenverwendung fehlt es an ausreichenden Feststellungen. Die öffentliche Verwendung setzt voraus, dass das Kennzeichen für einen größeren, durch persönliche Beziehungen nicht verbundenen Personenkreis von jedenfalls drei Personen wahrgenommen werden kann; auf die tatsächliche Wahrnehmung kommt es dabei nicht an (vgl. BGH, Beschl. v. 19. August 2014 – 3 StR 88/14, NStZ 2015, 81, 83 mwN; Senat, Urt. v. 10. Mai 1994 – 1 Ss 71/94, NStZ 1994, 440). Keine Öffentlichkeit soll danach etwa beim Gebrauch gegenüber einem einzelnen oder wenigen Polizeibeamten bestehen; mitunter wird sogar ein nicht überschaubarer Personenkreis für erforderlich gehalten (vgl. BGH Beschl. v. 10. August 2010 – 3 StR 286/10, BeckRS 2010, 21238).

Daran gemessen genügen die Feststellungen in dem angegriffenen Urteil nicht, um von einer Öffentlichkeit im oben genannten Sinn ausgehen zu können. Den Feststellungen lässt sich lediglich entnehmen, dass sich die fragliche Szene im Eingangsbereich des Amtsgerichts Cuxhaven abgespielt hat und dass mehr als ein Wachtmeister anwesend war. Um wie viele es sich dabei genau handelte und ob ggf. noch weitere Personen anwesend waren, wird nicht mitgeteilt.“

StGB II: Hat der Angeklagte „heimtückisch“ gehandelt?, oder: Überraschen in einer hilflosen Lage

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Und dann als zweite Entscheidung des Tages das BGH, Urt. v. 01.02.2024 – 4 StR 287/23 – zum Mordmerkmal „Heimtücke“.

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten, die sich u.a. gegen die Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke wendet. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Feststellungen verweise ich auf den verlinkten Volltext. Zusammengefasst geht es um die Geschehnisse in Zusammenhang mit einem Cannabisankauf. Der Angeklagte war wegen des Ankaufs von dem Geschädigten angesprochen worden. Diese hatte ihn gebeten, ihm ein Gramm Cannabis zu verkaufen. Der Angeklagte sagte die spätere Lieferung des Rauschgifts durch einen Dritten zu. Der Geschädigte, der das Cannabis sofort konsumieren wollte und die Reaktion des Angeklagten als überheblich empfand, geriet in Wut. Es entwickelte sich ein auch handgreiflicher Streit, der damit endete, dass der Geschädigte In dem Bewusstsein, aus dem inzwischen von Passanten beobachteten „Kräftemessen“ mit dem Angeklagten als Sieger hervorgegangen zu sein, erklärte, der Angeklagte sei schon immer ein räudiger Hund gewesen und werde dies auch bleiben; dabei trat er abschließend demonstrativ die geöffnete Fahrertür mit dem Fuß zu, wandte sich um und entfernte sich.

Der Angeklagte folgte dem Geschädigten mit seinem Pkw. Dieses sah das. Er  hielt es für möglich, dass der Angeklagte ihm mit dem Fahrzeug folgen könnte, um ihn zur Rede zu stellen oder ihm Angst einzujagen. Da er sich nicht einschüchtern lassen und keine Blöße zeigen wollte, setzte seinen Weg fort; mit einer körperlichen Auseinandersetzung oder gar dem Einsatz des Kraftfahrzeugs als Waffe rechnete er aber nicht.

Der Angeklagte gab dann Vollgas und beschleunigte sein Fahrzeug massiv mit dem Ziel, den Geschädigten auf dem Gehweg mit einer möglichst hohen Geschwindigkeit zu erfassen. Dabei rechnete er damit, den Geschädigten durch die Wucht des Aufpralls tödlich zu verletzen; er fand sich jedoch angesichts der vorangegangenen Kränkung mit einem tödlichen Ausgang ab. In diesem Zusammenhang nahm er auch wahr, dass der Geschädigte den Gehweg in seiner Fahrtrichtung beschritt, ihm den Rücken zuwandte und keine Anstalten machte, die Flucht zu ergreifen. Diese Situation nutzte der Angeklagte bewusst aus, um den Geschädigten von hinten zu überfahren. Er lenkte sein Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von rund 50 km/h gezielt nach rechts auf den Gehweg. Tatplangemäß erfasste der Angeklagte den Geschädigten dort mit der vorderen rechten Motorhaube im Bereich der rechten Körperpartie rückseitig. Der Geschädigte wurde durch den Aufprall erheblich verletzt. Der Angeklagte nahm an, ihn getötet zu haben, lenkte sein Fahrzeug auf die Straße zurück und floh.

Das Schwurgericht hat die Tat ‒ auch ‒ als versuchten Mord im Sinne der § 211 Abs. 2, §§ 22, 23 StGB gewertet. Es ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz und unter Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Geschädigten handelte. Der BGh hat das „gehalten“.

„Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg. Das Urteil weist weder zum Schuld- noch zum Straf- oder Maßregelausspruch einen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf. Der Erörterung bedarf nur das Folgende:

1. Die auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung beruhenden Feststellungen tragen die Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB.

a) Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Ohne Bedeutung ist dabei, ob das Opfer die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite überblickt (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Februar 2022 ‒ 4 StR 491/21, NStZ 2022, 364, 365; Beschluss vom 10. Januar 1989 ‒ 1 StR 732/88, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 7). Arg- und Wehrlosigkeit können auch gegeben sein, wenn der Tat eine feindselige Auseinandersetzung vorausgeht, das Opfer aber gleichwohl in der Tatsituation nicht (mehr) mit einem erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet (vgl. BGH, Urteil vom 20. Januar 2005 ‒ 4 StR 491/04, NStZ 2005, 691; Urteil vom 12. Februar 2003 ‒ 1 StR 403/02, BGHSt 48, 207, 210; siehe auch BGH, Urteil vom 30. August 2012 ‒ 4 StR 84/12, NStZ 2013, 337, 338 mwN). Entscheidend ist auch hier, dass der Täter sein keinen Angriff erwartendes Opfer in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn zumindest zu erschweren (st. Rspr.; BGH, Urteil vom 30. März 2023 ‒ 4 StR 234/22, NStZ-RR 2023, 245, 246; Urteil vom 4. Februar 2021 − 4 StR 403/20, NStZ 2023, 232, 234; Urteil vom 20. Oktober 1993 – 5 StR 473/93, BGHSt 39, 353, 368 f.; Urteil vom 26. November 1986 – 3 StR 372/86, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 2 mwN). Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 2023 – 1 StR 104/23; Urteil vom 16. August 2005 – 4 StR 168/05, NStZ 2006, 167, 169; Urteil vom 4. Juni 1991 – 5 StR 122/91, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 15 mwN). Voraussetzung heimtückischer Begehungsweise ist schließlich, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 15. Februar 2022 ‒ 4 StR 491/21, NStZ 2022, 364, 365; Urteil vom 23. Juli 2020 ‒ 3 StR 77/20 Rn. 9).

b) Gemessen hieran ist heimtückisches Handeln des Angeklagten festgestellt und tragfähig belegt.

aa) Zwar ging dem Tatgeschehen eine verbal und körperlich geführte Auseinandersetzung voraus; im Rahmen dieser Auseinandersetzung verhielt sich der Angeklagte aber zurückhaltend, passiv und ängstlich. Der Geschädigte erwartete nach der aus seiner Sicht beendeten Auseinandersetzung keinen erheblichen Angriff gegen seine körperliche Integrität, sondern rechnete allenfalls damit, dass der ihm körperlich unterlegene Angeklagte ihn angesichts seines vorangegangenen Verhaltens zur Rede stellen oder ihm „Angst einjagen“ könne. Den Urteilsfeststellungen ist daher mit der erforderlichen Klarheit zu entnehmen, dass das Tatopfer nicht mit einem Angriff auf sein Leben oder mit einem erheblichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit rechnete. Dass es sich unmittelbar vor der Kollision umwandte und den Angriff daher in letzter Minute wahrnahm, stellt ‒ worauf das Landgericht zutreffend hingewiesen hat ‒ seine Arglosigkeit nicht in Frage, weil die verbleibende Zeitspanne zu kurz war, um der nunmehr erkannten Gefahr zu begegnen.

bb) Die Feststellungen sind auch tragfähig belegt. Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang rechtsfehlerfrei darauf abgestellt, dass der Geschädigte dem Angeklagten den Rücken zuwandte und seinen Weg unbeirrt fortsetzte, ohne die Möglichkeit zur Flucht zu ergreifen. Einen rechtlich erheblichen Erörterungsmangel (zum revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstab vgl. nur BGH, Urteil vom 30. März 2023 ‒ 4 StR 234/22, NStZ-RR 2023, 245, 246) zeigt die Revision nicht auf. Die tatgerichtlichen Schlussfolgerungen sind möglich; zwingend müssen sie nicht sein.

cc) Auch die Annahme eines Ausnutzungsbewusstseins beruht auf einer tragfähigen Beweisgrundlage. Dabei hat das Landgericht neben der anschaulichen Höchstgefährlichkeit der Angriffsweise auch die Umstände, die indiziell gegen ein Ausnutzungsbewusstsein sprechen können (vorangegangene Auseinandersetzung, spontaner Tatentschluss, Erregung und Wut des Angeklagten), ausdrücklich in den Blick genommen. Seine Überzeugung beruht auf einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen und ist daher rechtsfehlerfrei.

StGB I: Manifestation des Zueignungswillens, oder: Klassiker, und lang, lang ist es her

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Ich mache heute einen StGB-Tag.

Den Opener macht ein Klassiker. Der BGH, Beschl. v. 29.11.2023 – 6 StR 191/23 – nimmt nämlich noch einmal zur Zueignung und der Manifestation des Zueignungswillens bei § 246 StGB Stellung.

Das LG hatte den Angeklagten u.a. wegen Unterschlagung eines sicherungsübereigneten Tiefladers verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten, die erfolgreich war.

„3. Während die Verurteilungen wegen veruntreuender Unterschlagung in den weiteren Fällen II.2 der Urteilsgründe keinen Bedenken begegnen, hat diejenige im Fall II.2.b der Urteilsgründe keinen Bestand, weil sich der Angeklagte den im Eigentum der T.      AG stehenden Tieflader nicht zugeeignet hat.

a) Eine Zueignung im Sinne des § 246 Abs. 1 StGB setzt nach der von der bisherigen Rechtsprechung abweichenden Auffassung des Senats voraus, dass der Täter sich die Sache oder den in ihr verkörperten wirtschaftlichen Wert wenigstens vorübergehend in sein Vermögen einverleibt und den Eigentümer auf Dauer von der Nutzung ausschließt (vgl. MüKo-StGB/Hohmann, 4. Aufl., § 246 Rn. 36; SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl., § 246 Rn. 29; Hohmann/Sander, Strafrecht BT, 4. Aufl., § 37 Rn. 9 ff.; Kudlich/Koch, JA 2017, 184, 185; im Ausgangspunkt ebenso BGH, Beschluss vom 5. März 1971 – 3 StR 231/69, BGHSt 24, 115, 119; unter Betonung der Ent- bzw. Aneignungskomponente Maiwald, Der Zueignungsbegriff im System der Eigentumsdelikte, 1970, S. 191, 196; Samson, JA 1990, 5, 9). Eine bloße Manifestation des Zueignungswillens genügt nicht, kann aber ein gewichtiges Beweisanzeichen für den subjektiven Tatbestand sein.

aa) Gestützt wird dieses Verständnis durch den Wortlaut des § 246 StGB, wonach derjenige eine Unterschlagung begeht, der sich oder einem Dritten eine Sache rechtswidrig zueignet. Mit dieser Formulierung schreibt der Gesetzgeber fest, dass eine Zueignung tatsächlich eingetreten sein muss; die Vorschrift ist als Erfolgsdelikt ausgestaltet (vgl. Hohmann/Sander, aaO, Rn. 13).

bb) Auch die Gesetzgebungsgeschichte spricht für eine rechtsgutbezogene Auslegung des Begriffs der Zueignung. So wurde der Anwendungsbereich des § 246 StGB mit dem Sechsten Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar 1998 (BGBl. 1998 I 164), das – neben der Einbeziehung sogenannter Drittzueignungen – den Wegfall des Gewahrsamserfordernisses vorsah (vgl. dazu auch BT-Drucks. 13/8587, 43 f.), erheblich ausgeweitet (vgl. auch MüKo-StGB/Hohmann, aaO, Rn. 30). Um nach der Gesetzesänderung die Tathandlung und den Vollendungszeitpunkt unter Wahrung des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) zu konkretisieren und die Grenze zur Versuchsstrafbarkeit (§ 246 Abs. 3 StGB) konturieren zu können (vgl. dazu SSW-StGB/Kudlich, 5. Aufl., § 246 Rn. 17), ist der Unterschlagungstatbestand – und damit notwendigerweise das Tatbestandsmerkmal „zueignet“ – auf tatsächliche Eigentumsbeeinträchtigungen zu beschränken.

cc) Für dieses Ergebnis streiten zudem gesetzessystematische Erwägungen. So setzt die Zueignungsabsicht beim Diebstahl voraus, dass sich der Täter unter dauerhaftem Ausschluss der Nutzungsmöglichkeit des Berechtigten die Sache oder den in ihr verkörperten Wert seinem Vermögen zumindest vorübergehend einverleiben will (st. Rspr., vgl. für viele BGH, Urteil vom 26. September 1984 – 3 StR 367/84, NJW 1985, 812; Beschluss vom 10. Oktober 2018 – 4 StR 591/17, BGHSt 63, 215, 219 mwN). Der in § 242 Abs. 1 StGB verwendete Begriff der Zueignung entspricht demjenigen des § 246 Abs. 1 StGB (vgl. BGH, Beschluss vom 5. März 1971 – 3 StR 231/69, BGHSt 24, 115, 119); der Unterschied besteht (lediglich) darin, dass diese bei der Unterschlagung in die Tat umgesetzt sein muss, während beim Diebstahl die Absicht hierzu genügt (vgl. SK-StGB/Hoyer, aaO, Rn. 9; SSW-StGB/Kudlich, aaO, Rn. 11; Hohmann/Sander, aaO, Rn. 7). Der Umstand, dass sich der Täter zivilrechtlich eine fremde Sache nicht erfolgreich „zueignen“, sondern an ihr allenfalls im Wege der §§ 946 ff. BGB Eigentum erwerben kann (vgl. auch SSW-StGB/Kudlich, aaO, Rn. 11: „scheinbare Eigentümerstellung“), steht einem – strafrechtsautonom zu beurteilenden – Zueignungserfolg nicht entgegen.

dd) Schließlich ist dieses Begriffsverständnis auch aus teleologischer Sicht geboten. So ist bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „zueignet“ die Begrenzung des Strafrechts als „ultima ratio“ zu beachten (vgl. Hohmann/Sander, aaO, Rn. 9). Eine Strafbarkeit wegen Unterschlagung muss somit in jedem Fall zum Schutz des Eigentums erforderlich sein; dieser Vorgabe ist durch eine präzise Beschreibung des Unrechts des § 246 StGB – die nach dem 6. StrRG nur durch das (einzige) Tatbestandsmerkmal „zueignet“ erfolgen kann – Rechnung zu tragen (MüKo-StGB/Hohmann, aaO, Rn. 30; Hohmann/Sander, aaO). Eine Zueignung setzt demnach mindestens voraus, dass die Befugnisse des jeweiligen Eigentümers – also sein Nutzungs- oder sein Ausschlussrecht aus § 903 BGB – beeinträchtigt werden. Hingegen würde eine vom Rechtsgut des § 246 StGB losgelöste Interpretation den zulässigen Anwendungsbereich des Strafrechts überdehnen, denn der Unterschlagungstatbestand könnte in Folge des Wegfalls des Gewahrsamserfordernisses Konstellationen erfassen, in denen Eigentümerinteressen nicht einmal abstrakt gefährdet würden (vgl. Hohmann/Sander, aaO, Rn. 11 mwN).

b) Soweit es hingegen die Rechtsprechung (vgl. RG, Urteil vom 10. Juli 1939 – 3 D 513/39, RGSt 73, 253, 254; BGH, Urteile vom 19. Juni 1951 – 1 StR 42/51, BGHSt 1, 262, 264; vom 17. März 1987 – 1 StR 693/86, BGHSt 34, 309, 311 f.; vom 6. September 2006 – 5 StR 156/06, NStZ-RR 2006, 377; Beschluss vom 5. März 1971 – 3 StR 231/69, BGHSt 24, 115, 119) bisher für eine Zueignung im Sinne des § 246 Abs. 1 StGB ausreichen lässt, dass sich der Zueignungswille des Täters in einer nach außen erkennbaren Handlung manifestiert („weite Manifestationstheorie“, für eine Beschränkung auf „eindeutige“ Handlungen vgl. etwa Lackner/Kühl/Heger, 30. Aufl., § 246 Rn. 4; ähnlich Schönke/Schröder/Eser/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 246 Rn. 10; vgl. ferner jeweils mit einem Überblick über den Meinungsstand nach dem 6. StrRG SK-StGB/Hoyer, aaO, Rn. 9 ff.; NK-StGB/Kindhäuser/Hoven, 6. Aufl., § 246 Rn. 11 ff.; Kudlich, JuS 2001, 767), überzeugt dies aus den zuvor ausgeführten Gründen nicht. Auch wenn ein solcher Manifestationsakt häufig mit einer Eigentumsbeeinträchtigung einhergehen dürfte und als Beweisanzeichen für den subjektiven Tatbestand gewertet werden kann (vgl. MüKo-StGB/Hohmann, aaO, Rn. 31), so sind doch Fälle denkbar, in denen der jeweilige Täter sich als Eigentümer „geriert“, gleichwohl aber keinerlei Verkürzung der Positionen des Berechtigten droht (vgl. Sander/Hohmann, NStZ 1998, 273, 276). Eine Bestrafung wegen vollendeter Unterschlagung würde zu einem Wertungswiderspruch zu den allgemeinen Grundsätzen der – nach § 246 Abs. 3, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB möglichen – Versuchsstrafbarkeit führen, die regelmäßig voraussetzt, dass das geschützte Rechtsgut (bereits) durch den Tatplan unmittelbar gefährdet wird (vgl. etwa BGH, Urteil vom 12. August 1997 – 1 StR 234/97, BGHSt 43, 177, 180).

c) Trotz der Divergenz war ein Anfrageverfahren gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG nicht veranlasst. Denn nach beiden Auffassungen hat der Angeklagte in den Fällen II.2.c, f und g den Tatbestand des § 246 Abs. 1 StGB erfüllt, während im Fall II.2.b der Urteilsgründe in Bezug auf den Tieflader weder ein Zueignungserfolg noch ein Manifestationsakt festgestellt ist.

aa) So liegt in dem bloßen Unterlassen der geschuldeten Rückgabe sicherungsübereigneter Gegenstände keine vollendete Zueignung, denn ein solches beeinträchtigt die Eigentümerbefugnisse nicht weitergehend, als bereits durch die im Rahmen des Miet- oder Leasingvertrags erfolgte Gebrauchsüberlassung geschehen. Verbirgt oder verkauft der Täter allerdings Gegenstände, die sich in seinem Besitz befinden oder gebraucht er sie in einer Weise, mit der ein erheblicher Wertverlust einhergeht – wie in den Fällen II.2.c, f und g -, liegt ein nach der Ansicht des Senats notwendiger Zueignungserfolg vor, denn der Täter verleibt sich hierdurch die jeweiligen Sachen bzw. deren Sachwert wenigstens vorübergehend in sein Vermögen ein und schließt den Berechtigten – hier der jeweilige Sicherungsnehmer – insoweit von seinen Nutzungsmöglichkeiten aus. Hingegen ist im Fall II.2.b in Bezug auf den Tieflader lediglich festgestellt, dass der Angeklagte nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens „weder den Insolvenzverwalter über die Existenz und den Standort (…) in Kenntnis setzte, (…) noch gegenüber der T.        vorbehaltlos die Herausgabe (…) anbot, sondern diese(n) weiterhin in Besitz behielt“ und dessen Sicherstellung erst „ein knappes Jahr später (…) durch einen für die T.        tätigen Sichersteller“ gelang. Eine Beeinträchtigung der Eigentümerbefugnisse der T.        AG, die einen Zueignungserfolg im Sinne des § 246 Abs. 1 StGB begründen könnte, ergibt sich aus diesem „bloßen“ Unterlassen der Herausgabe nicht.

bb) Auch nach Ansicht der bisherigen Rechtsprechung ist für eine Unterschlagung sicherungsübereigneter Gegenstände erforderlich, dass der Täter – über ihr „Behalten“ hinaus – ein Verhalten an den Tag legt, aus dem geschlossen werden kann, dass er sich als Eigentümer „geriert“, wobei ein Verbergen (vgl. RG, Urteil vom 7. November 1938 – 3 D 769/38), ein Verkauf (vgl. BGH, Urteil vom 17. Oktober 1961 – 1 StR 382/61, NJW 1962, 116, 117), aber auch ein Gebrauch der Gerätschaften ausreichen kann, wenn mit ihm ein erheblicher Wertverlust einhergeht (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 1987 – 1 StR 693/86, BGHSt 34, 309, 311 f. mwN). Während das Landgericht ein solches Vorgehen in den weiteren Fällen II.2 jeweils festgestellt hat, lässt sich dies Fall II.2.b der Urteilsgründe nicht entnehmen. Insbesondere ergibt sich ein solches nicht aus der E-Mail des Angeklagten vom 23. Mai 2019, in der er mit der T.      AG über die Herausgabe des Tiefladers „verhandelte“, weil er zu diesem Zeitpunkt – das Insolvenzverfahren wurde am 27. Mai 2019 eröffnet – seine Verfügungsbefugnis noch nicht verloren hatte (§ 80 Abs. 1 InsO). Auf das ihm am 28. Mai 2019 unterbreitete Angebot einer Ablösesumme hat der Angeklagte indes nicht mehr reagiert.“

Wie gesagt ein Klassiker. Ich habe zu der Problematik vor „unvordenklicher Zeit“ im Studium mal eine Hausarbeit schreiben müssen. Kleiner oder großer StGB-Schein, ich weiß es nicht mehr :-). Lang, lang ist es her.