Aufnahme der Angeklagten in (Zeugen)Schutz des BKA, oder: Entsteht dadurch der Haftzuschlag?

Schirm, Schutz

Und heute dann RVG-Tag, und zwar mit zwei Entscheidungen, eine kommt vom BGH.

Zunächst stelle ich hier den LG Limburg a. d. Lahn, Beschl. v. 29.02.2024 – 5 KLs – 5 Js 10388/21 – vor. Er äußert sich zum sog Haftzuschlag (Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG) in einer Konstellation, zu der es bislang Entscheidungen nicht gegeben hat.

Folgender Sachverhalt: Die Angeklagte wurde vorläufig festgenommen. Es wurde dann der der Festnahme zu Grunde liegende Haftbefehl mit der Auflage außer Vollzug gesetzt, dass sich die Angeklagte in das Zeugenschutzprogramm des BKA begibt. Eine Kontaktaufnahme war dem Pflichtverteidiger in der Folge nur über einen Beamten des BKA möglich, eine andere Adresse der Angeklagten wurde ihm nicht bekannt gegeben.

In den Hauptverhandlungen wurde die Angeklagte von den übrigen Angeklagten unter Polizeischutz ferngehalten. Aus Angst, erkannt und zukünftig erinnert zu werden, betrat sie den Gerichtssaal in hochgeschlossener Jacke mit aufgeschlagenem Kragen und mit Sonnenbrille. Es war eine umfassende psychologische Betreuung durch den Verteidiger notwendig.

Der Verteidiger hat seine Gebühren mit Haftzuschlag nach Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG geltend gemacht. Diese sind vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle nicht festgesetzt worden. Die dagegen gerichtete Erinnerung des Pflichtverteidigers hatte beim LG keinen Erfolg.

„Zuschläge für die entstandenen Verfahrensgebühren gemäß Nr. 4101, 4113 und 4115 VV RVG kommen nicht in Betracht, weil sich die Angeklagte durch ihre Aufnahme im Zeugenschutzprogramm nicht unfreiwillig „nicht auf freiem Fuß“ i. S. d. Vorbemerkung 4 Abs. 4 VV RVG befand.

Die Zuschläge gemäß Abs. 4 der Vorbemerkung 4 entstehen ausschließlich dann, wenn sich der Angeklagte nicht „auf freiem Fuß“ befindet.

Der Haftzuschlag wird unabhängig von konkreten Erschwernissen der Tätigkeit des Rechts-anwalts etwa dann gewährt, wenn sich der Angeklagte in Untersuchungshaft oder Strafhaft befindet, vorläufig untergebracht oder sich in einem anderen Verfahren in Unterbringung, Sicherungsverwahrung oder Zwangshaft nach §§ 888, 901 ZPO befindet. Entsprechendes gilt für Auslieferungs- oder Abschiebehaft, Polizeigewahrsam und auch, wenn sich der Mandant im offenen Vollzug befindet. Nicht aber, wenn der Aufenthalt in einer stationären Therapieeinrichtung freiwillig erfolgt (vgl. HK-RVG/Ludwig Kroiß, 8. Aufl. 2021, RVG VV 4100 Rn. 14, 15 m. w. N.).

Nach diesen Maßstäben ist der Zuschlag hier nicht festzusetzen.

Eine Inhaftierung oder Unterbringung liegt nicht vor.

Die Aufnahme das Zeugenschutzprogramm stellt sich auch nicht als vergleichbar im Sinne der Vorbemerkung 4 dar.

Der Haftzuschlag beinhaltet eine generelle, nicht auf den Einzelfall bezogene, zwingende Regelung, die ohne Ausnahmen oder Einschränkungen ihrer Anwendung gilt. Nach der Gesetzesbegründung geht der Gesetzgeber davon aus, dass der Rechtsanwalt als Verteidiger eines inhaftierten Beschuldigten die jeweilige Gebühr mit Zuschlag erhalten soll, weil er gerade bei inhaftierten Mandanten einen erheblich größeren Zeitaufwand zu erbringen hat als für die Verteidigung nicht inhaftierter Mandanten. Dieser entstehe in der Regel allein schon durch die erschwerte Kontaktaufnahme mit dem in der Justizvollzugsanstalt einsitzenden Beschuldigten. Als gleich zu behandelnden Fall nennt die Gesetzesbegründung auch die Unterbringung des Mandanten, da eine solche Unterbringung für den Rechtsanwalt auch auf jeden Fall zu einem Mehraufwand führe (BT-Drs. 15/1971, Seite 221). Daraus folgt, dass es für die Entstehung des Anspruchs auf die Gebühr mit Zuschlag nicht darauf ankommt, ob im Einzelfall aufgrund der Inhaftierung Umstände gegeben sind, die zu konkreten Erschwernissen der Tätigkeit des Rechtsanwalts geführt haben. Aufgrund dieser typisierenden Betrachtung durch das Gesetz kommt nach hiesiger Auffassung eine Anwendung auf sonstige Konstellationen nicht in Be-tracht, bei denen auch nach einer weiten Auslegung keine haft- oder unterbringungsähnliche Situation vorliegt (d. h. freie Aufenthaltsbestimmung nicht aufgehoben oder eingeschränkt). Denn auch wenn im Einzelfall die Möglichkeit einer konkreten Erschwernis der Tätigkeit des Rechtsanwalts in anderen Konstellationen bestehen mag, fehlt es jedenfalls an den von dem Gesetzgeber zugrunde gelegten Umständen, aus denen sich für den Gesetzgeber die unwiderlegliche Vermutung eines erheblich größeren Zeitaufwands ergibt.

Zwar verbietet sich eine Bewertung der Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm als freiwillig, weil sie sich als Auflage im Rahmen der Außervollzugsetzung des Haftbefehls darstellt. Allerdings kann aus der Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm — anders als bei einer Inhaftierung oder unfreiwilligen Unterbringung — nicht zwangsläufig und typisch auf einen Mehraufwand für den Verteidiger geschlossen werden. Ob ein solcher Mehraufwand entsteht obliegt der konkreten Handhabung durch die Angeklagte. Diese war in ihrer Bewegungsfreiheit durch die Aufnahme das Zeugenschutzprogramm nicht vergleichbar einer Inhaftierung oder Unterbringung eingeschränkt.

Auch fehlt es bei der Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm an den typischerweise mit einer Haft oder Unterbringung verbundenen zusätzlichen Arbeiten des Verteidigers, wie z. B. Haftbeschwerden, Beschwerden gegen die Unterbringung oder Einwänden gegen die Bedingungen der Untersuchungshaft bzw. der Unterbringung, welche ebenfalls durch die Zuschläge abgegolten werden sollen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Beschluss des VerfGH Berlin vom 22.4.2020. Das dortige Gericht hat sich zu dieser Frage gar nicht geäußert, da die Festsetzung der Haft-zuschläge im dort zu entscheidenden Verfahren nicht im Streit standen (vgl. VerfGH Berlin, Beschluss vom 22.4.2020 — VerfGH 177/19, NStZ-RR 2020, 190).“

Man kann dem LG folgen, wenn man es bei der Betrachtungsweise belässt, die das LG angestellt hat. Man kommt m.E. aber auch zu einer anderen Entscheidung und hätte die beantragten Zuschläge festsetzen können/müssen, wenn man auf den Sinn und Zweck der Regelung der Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG abstellt. Das LG erwähnt/sieht zwar, wenn es darauf verweist, dass der Zuschlag nach Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG den für den Verteidiger beim inhaftierten Mandanten zu erbringenden erheblich größeren Zeitaufwand als für die Verteidigung nicht inhaftierter Mandanten abgelten soll. Dabei geht der Gesetzgeber davon aus, dass beim inhaftierten bzw. nicht auf freiem Fuß befindlichen Mandanten (immer) höherer Zeitaufwand entsteht, wie groß der ist, ist unerheblich (u.a. OLG Nürnberg AGS 2013, 15 = RVGreport 2013, 18). Allein der Umstand, dass der Mandant sich nicht auf freiem Fuß befindet, reicht aus. Von daher musste das LG gar nicht untersuchen, ob und welcher Mehraufwand entstanden ist. Es hätte ausgereicht, die Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm mit „nicht auf freiem Fuß“ gleichzusetzen. Und das ist/wäre m.E. unschwer möglich (gewesen). Denn die Angeklagte befand sich nicht freiwillig im Zeugenschutzprogramm, sondern im Rahmen einer Auflage bei der Außervollzugsetzung des Haftbefehls. Sie konnte sich also nicht frei bewegen. Zudem war für den Verteidiger die freie Kontaktaufnahme nicht möglich. Also lagen typische Kriterien für das Merkmal „nicht auf freiem Fuß“ vor.

StPO III: Antragsberechtigung im Adhäsionsverfahren, oder: Gewillkürte Prozessstandschaft zulässig

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Und im dritten Posting dann die dritte BGH-Entscheidung, und zwar der BGH, Beschl. v. 14.11.2023 – 6 StR 495/23, in dem sich der BGH zur Antragsberechtigung im Adhäsionsverfahren äußert, und zwar wie folgt:

„2. Die Adhäsionsentscheidungen haben ebenfalls Bestand. Auch soweit der Angeklagte unter Ziffer 4 der Urteilsformel zur Zahlung von Schadensersatz an die b. GmbH verurteilt worden ist, liegt ein wirksamer Adhäsionsantrag und damit die für das Annexverfahren von Amts wegen zu prüfende notwendige Verfahrensvoraussetzung vor (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juni 1988 – 2 StR 244/88, NStZ 1988, 470).

a) Zwar hat die geschädigte Gesellschaft den Anspruch nicht selbst geltend gemacht (§ 403 Satz 1 StPO); es liegt allerdings ein näher begründeter Antrag von a. GmbH vor, den Angeklagten zur Zahlung von Schadensersatz an ihre Tochtergesellschaft, die b. GmbH, zu verurteilen.

b) Anlass zu näherer Erörterung gibt insoweit allein die hier an § 403 Satz 2 StPO zu messende Antragsbefugnis.

aa) Nach dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut ist hiernach antragsbefugt, wer einen aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruch geltend macht. Diese Ergänzung des § 403 StPO wurde eingefügt durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 25. Juni 2021 (BGBl. I S. 2099, 2105); sie begründet – korrespondierend mit der bislang zum Entschädigungsrecht des Verletzten ergangenen Rechtsprechung (BT-Drucks. 19/27654, S. 106 f.) – eine Antragsbefugnis auch für Personen, die nicht unmittelbare oder mittelbare Verletzte der Tat oder deren Erben sind (vgl. § 403 Satz 1 StPO). Der Gesetzgeber hat die Antragsberechtigung insoweit von der – durch dasselbe Reformgesetz eingefügten – Legaldefinition des Verletztenbegriffs in § 373b StPO entkoppelt (vgl. BT-Drucks. aaO), um den Kreis der Berechtigten nicht auf die Verletzten nach § 373b StPO zu beschränken (vgl. KMR-StPO/Nepomuck, 118. Lfg., § 403 Rn. 1; LR/Wenske, 27. Aufl., § 403 Rn. 2; SSW-StPO/Schöch/Werner, 5. Aufl., § 403 Rn. 1).

Der Antragssteller nach § 403 Satz 2 StPO kann deshalb etwa als Rechtsnachfolger des Verletzten, namentlich im Wege des vertraglichen (vgl. § 398 BGB) oder gesetzlichen Forderungsübergangs (vgl. § 116 Abs. 1 SGB X), einen eigenen Anspruch oder – nach Ermächtigung durch den Verletzten – einen fremden Anspruch im eigenen Namen geltend machen (sogenannter gewillkürte Prozessstandschaft).

Dieses Normverständnis wird über den Gesetzeswortlaut hinaus durch die Regelungssystematik des Fünften Buches der Strafprozessordnung belegt (vgl. LR/Wenske, aaO; aA KMR-StPO/Nepomuck, aaO, Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl., § 403 Rn. 4; SSW-StPO/Schöch/Werner, aaO, Rn. 3). Hiernach bestehen für Adhäsionskläger, die nicht Verletzte der Tat und damit prozessual nicht in gleicher Weise wie diese schutzwürdig sind, eigene, allerdings stark begrenzte Verfahrensrechte. So sind insbesondere die §§ 406d ff. StPO schon mangels Verletzteneigenschaft (§ 373b StPO) grundsätzlich nicht anwendbar (vgl. BT-Drucks. aaO, S. 108). Allein das Akteneinsichtsrecht ist für die nach § 403 Satz 2 StPO Antragsberechtigten zur Anspruchsdurchsetzung spezifisch geregelt (vgl. § 406e Abs. 4 StPO; LR/Wenske, aaO sowie § 406e Rn. 47). Dem steht auch die Gesetzesgenese nicht entgegen (aA BeckOK-StPO/Ferber, 49. Ed., § 403 Rn. 1). Der Gesetzgeber wollte mit § 403 Satz 2 StPO eine Antragsberechtigung für Personen sicherstellen, die nur mittelbar durch die Tat geschädigt sind (vgl. BT-Drucks. aaO, S. 106). Hingegen ist den Gesetzesmaterialien – insbesondere im Lichte der vorgenannten gewichtigen normativen Gesichtspunkte – kein Anhalt dafür zu entnehmen, dass er sich ausdrücklich gegen eine erweiterte Antragsbefugnis ausgesprochen hat.

bb) Das Antragsrecht ergibt sich hier aus dem Gesichtspunkt der Prozessstandschaft.

(1) Eine gewillkürte Prozessstandschaft ist zulässig, wenn der Prozessführende vom Rechtsinhaber zu dieser Art der Prozessführung ermächtigt worden ist und er ein eigenes schutzwürdiges Interesse an ihr hat (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Dezember 1951 – GSZ 3/51, BGHZ 4, 153, 164 ff.; Urteile vom 4. Juni 1959 – VII ZR 217/58, BGHZ 30, 162, 166; vom 24. Oktober 1985 – VII ZR 337/84, BGHZ 96, 151, 152; vom 10. Juni 2016 – V ZR 125/15, NJW 2017, 486). Das schutzwürdige Eigeninteresse ist gegeben, wenn die Entscheidung Einfluss auf die eigene Rechtslage des Prozessführungsbefugten hat (vgl. BGH, Urteile vom 2. Oktober 1987 – V ZR 182/86, NJW-RR 1988, 126, 127; vom 5. Februar 2009 – III ZR 164/08, NJW 2009, 1213, 1215). Es kann auch durch ein wirtschaftliches Interesse begründet werden (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 1992 – I ZR 251/90, BGHZ 119, 237, 242). Eine solche Prozessführungs-befugnis ist im Zivilprozess (vgl. BGH, Urteile vom 25. November 2004 – I ZR 145/02, BGHZ 161, 161, 165; vom 2. Oktober 1987 – V ZR 182/86, NJW-RR 1988, 126, 127), aber auch im Adhäsionsverfahren von Amts wegen zu prüfen.

(2) Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Senat vermag der Antragsschrift noch tragfähige Ausführungen zum Verhältnis der Gesellschaften zueinander, insbesondere zum bestehenden wirtschaftlichen Interesse (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 1994 – I ZR 99/92, NJW-RR 1995, 358, 361) und der erteilten Ermächtigung, zu entnehmen.“

StPO II: Urkundenverlesung nicht vom Richter, oder: Aber Staatsanwältin war/als Zeugin vom Hörensagen

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Und dann im zweiten Posting hier der BGH, Beschl. v. 17.01.2024 – 4 StR 168/23.

Das LG hatte den Angeklagten wegen Verstoßes gegen das BtMG verurteilt. Dagegen die Revieion, die unbegründet war.

„1. Die Verfahrensrügen dringen nicht durch.

a) Der Rüge, das Landgericht habe gegen § 261 StPO in Verbindung mit § 249 Abs. 1, § 250 Satz 2, § 251 Abs. 1 und 4 StPO verstoßen, indem es den Inhalt einer Urkunde verwertet habe, obwohl diese nicht nach § 249 Abs. 1 StPO verlesen worden sei, bleibt der Erfolg versagt.

aa) Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Der Mittäter des Angeklagten, der gesondert verfolgte   G.  , hatte sich in dem gegen ihn geführten Verfahren eingelassen. In der hiesigen Hauptverhandlung verweigerte er als Zeuge gemäß § 55 StPO die Auskunft. Das Landgericht hörte daraufhin die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft aus dem Verfahren gegen   G.   als Zeugin. Nach deren Angaben hatte   G.   in der gegen ihn geführten Hauptverhandlung im Rahmen einer schriftlichen Einlassung unter anderem zugegeben, dass bestimmte Encrochat-Namen benutzt wurden. Diese schriftliche Einlassung wurde ausweislich der Urteilsgründe „in die hiesige Hauptverhandlung eingeführt, indem die Zeugin u. a. das Dokument verlesen hat“ (UA 19). Das Protokoll der Hauptverhandlung weist aus, dass die Zeugin Angaben zur Sache machte und „dabei“ die schriftliche Einlassung des gesondert Verfolgten G. in dem gegen ihn geführten Verfahren verlas.

bb) Bei dieser Sachlage erweist sich die Rüge als unbegründet.

Zwar wurde die schriftliche Einlassung des anderweitig verfolgten Zeugen G. als Urkunde nicht prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt. Denn die Verlesung einer Urkunde gemäß § 249 Abs. 1 Satz 1 StPO hat durch den Vorsitzenden oder einen von ihm beauftragten beisitzenden Richter oder Ergänzungsrichter und nicht durch andere Prozessbeteiligte zu erfolgen. Eine Verlesung von Urkunden durch die Staatsanwältin ist daher rechtsfehlerhaft (vgl. BGH, Urteil vom 2. März 2023 – 4 StR 298/22 Rn. 13 mwN). Auch war diese Urkunde weder Gegenstand eines Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO noch wurde sie der Zeugin ‒ nach dem unwidersprochen gebliebenen Vorbringen des Beschwerdeführers – vorgehalten.

Die Angaben in der schriftlichen Erklärung des gesondert verfolgten Zeugen   G.  waren aber ausweislich der Urteilsgründe und des Hauptverhandlungsprotokolls auch Gegenstand der Bekundungen der Staatsanwältin als Zeugin vom Hörensagen. Die Formulierung im Urteil, wonach die Zeugin die schriftliche Einlassung dabei „u.a.“ auch verlas, stellt dies ebenso wenig in Frage wie der entsprechende Protokollvermerk. Die Zeugin konnte als Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung in dem gegen den Zeugen G. geführten Verfahren ohne weiteres aus eigener Wahrnehmung über den Inhalt der dort angebrachten schriftlichen Einlassung berichten. Damit ist auch der Unmittelbarkeitsgrundsatz (§ 250 StPO) nicht verletzt (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 – 4 StR 493/11 Rn. 1).“

StPO I: Verurteilung beruht auf DNA-Mischspur, oder: Anforderungen an die Urteilsgründe

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Und heute dann schon wieder 🙂 StPO, an sich wäre mal wieder OWi dran, aber dafür habe ich kein Material. Daher hier dann StPO.

Zunächst der BGH, Beschl. v. 13.02.2024 – 4 StR 353/23. Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr verurteilt . Die dagegen eingelegte Revision des Angeklagten hatte Erfolg.

„Der Schuldspruch hat keinen Bestand, weil die Beweiswürdigung des Landgerichts zur Täterschaft des Angeklagten durchgreifende Darstellungsmängel im Hinblick auf die Ergebnisse molekulargenetischer Gutachten aufweist.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts warf der Angeklagte in den frühen Morgenstunden des 25. September 2022 im Abstand von wenigen Minuten, fünf bis zehn Meter neben der Fahrbahn stehend, frontal Steine auf drei die Bundesautobahn 30 mit etwa 100 km/h befahrende Pkw, wobei er in der Absicht handelte, jeweils die Frontscheibe zu treffen und Beschädigungen zu verursachen. Die Steine trafen in zwei Fällen plangemäß die Windschutzscheibe, in einem Fall die Frontpartie des anvisierten Fahrzeugs, wodurch Beschädigungen von mindestens 900 Euro je Fahrzeug entstanden.

2. Die Strafkammer hat sich von der Täterschaft des Angeklagten unter anderem aufgrund von an einem Stein und am Griff eines Metalltors im Zugangsbereich zu dem betreffenden Autobahnabschnitt gesicherten DNA-Mischspuren überzeugt. Die Darstellung der Ergebnisse der molekulargenetischen Gutachten entspricht nicht den Anforderungen, die der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung daran stellt.

Während bei Einzelspuren jedenfalls das Gutachtenergebnis in Form einer numerischen biostatistischen Wahrscheinlichkeitsaussage mitgeteilt werden muss, ist bei Mischspuren grundsätzlich darzulegen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergeben haben und mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer anderen Person zu erwarten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2018 ‒ 5 StR 50/17, BGHSt 63, 187; Beschluss vom 9. November 2021 ‒ 4 StR 262/21; Beschluss vom 18. August 2021 ‒ 5 StR 217/21; Beschluss vom 12. August 2021 ‒ 2 StR 325/20; Beschluss vom 14. Juli 2021 ‒ 6 StR 303/21; Henke, NStZ 2023, 13, 15 f. jeweils mwN). Daran fehlt es hier. Ausnahmsweise kann im Urteil die DNA-Analyse der Hauptkomponente einer Mischspur nach den für die Einzelspur entwickelten Grundsätzen dargestellt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2018 – 5 StR 50/17, BGHSt 63, 187, Rn. 10 ff.), wenn die Peakhöhen von Hauptkomponente zu Nebenkomponente durchgängig bei allen heterozygoten DNA-Systemen im Verhältnis 4:1 stehen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juli 2020 – 6 StR 183/20). Dass diese Voraussetzungen vorliegen, ist dem Urteil ebenfalls nicht zu entnehmen.

3. Der Senat kann angesichts der begrenzten Aussagekraft der übrigen Beweisanzeichen nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht. Das verlesene Behördengutachten des Landeskriminalamts zum Vergleich des „Profilgrundmusters“ von in der Wohnung des Angeklagten aufgefundenen „Turnschuhen Venice, blau/rot“ mit einer in Tatortnähe im öffentlich zugänglichen Bereich gesicherten „Schuheindruckspur“ ist für die Täterschaft des Angeklagten – jedenfalls ohne nähere Feststellungen zum Verbreitungsgrad dieser Schuhe – nur von begrenzter Aussagekraft. Überdies sind in den Urteilsgründen die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen von Sachverständigengutachten so wiederzugeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens erforderlich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 2. April 2020 ‒ 1 StR 28/20, juris Rn. 4; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl., § 267 Rn. 34 mwN). Nach dem hier ausschließlich mitgeteilten Inhalt, wonach sich die Spur dem Schuhpaar mit dem Referenzmuster „venrippkegel“ „zuordnen lasse“, kann der Senat die Schlüssigkeit des Gutachtens nicht beurteilen. Die darüber hinaus herangezogene Funkzellenauswertung ist nicht aussagekräftig, da nach den Urteilsgründen die Funkzelle, in die das Mobiltelefon des Angeklagten zur Tatzeit eingeloggt war, sowohl den Wohnort des Angeklagten als auch den Tatortbereich versorgt.“

StGB III: Gewaltanwendung bei der Vergewaltigung, oder: Vorbeugende Verhinderung einer Gegenwehr

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Und als dritte Entscheidung dann noch einmal etwas vom BGH, nämlich das – schon etwas ältere – BGH, Urt. v. 06.12.2023 – 5 StR 203/23.

Das LG hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Dagegen die  Revision der Staatsanwaltschaft, die in beiden Fällen eine tateinheitliche Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung erstrebt. Die Revison hatte Erfolg:

„Die Revision der Staatanwaltschaft hat Erfolg.

1. Zu Recht rügt sie, dass die Jugendkammer jeweils die Anwendung von Gewalt als Nötigungsmittel im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF verneint hat.

a) Eine Nötigung mit Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF ist gegeben, wenn der Täter durch eigene Kraftentfaltung das Opfer einem körperlich wirksamen Zwang aussetzt, um damit geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. April 2009 – 4 StR 88/09, NStZ-RR 2009, 202; vom 31. Juli 2013 – 2 StR 318/13, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Gewalt 17). Es kommt mithin nicht darauf an, ob das Opfer des Übergriffs tatsächlich Widerstand leistet; es genügt, wenn die körperliche Zwangseinwirkung der Verhinderung von erwarteter Gegenwehr dient (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Mai 1988 – 4 StR 201/88, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Gewalt 2; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 177 Rn. 69; insoweit missverständlich BGH vom 31. Juli 2013 – 2 StR 318/13, aaO; vgl. zur Fortgeltung dieser Maßstäbe im geltenden Recht BGH, Urteil vom 15. Juli 2020 – 6 StR 7/20, NStZ-RR 2020, 312; Beschluss vom 12. Dezember 2018 – 5 StR 451/18, BGHR StGB § 177 nF Abs. 5 Gewalt 1).

b) Gemessen daran hält die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe keine Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF ausgeübt, der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Zwar hat es seiner rechtlichen Würdigung die zutreffenden rechtlichen Maßstäbe vorangestellt, sie aber bei der konkreten Subsumtion unvollständig und zu eng gehandhabt.

aa) Die Jugendkammer hat ihre Auffassung wie folgt begründet: Nach ihren Feststellungen, die sie aufgrund der glaubhaften Schilderungen der geschädigten Mädchen getroffen hat, habe keine „gegen sie gerichtete Kraftentfaltung“ vorgelegen, die von ihnen als körperlicher Zwang „empfunden“ worden sei. Zudem habe sie keine Abwehrhandlungen festzustellen vermocht, „aus denen der Angeklagte auf einen etwaigen Widerstand hätte schließen können“.

bb) Dies erweist sich unter zwei Gesichtspunkten als rechtsfehlerhaft.

(1) Das Landgericht ist von einem zu engen Gewaltbegriff ausgegangen. Nach den Feststellungen im Fall 1 der Urteilsgründe fasste der Angeklagte die elfjährige, auf einer Couch sitzende Geschädigte R. am Oberschenkel an, hielt sie am Arm fest, entkleidete ihren Unterkörper und führte unter anderem den Geschlechtsverkehr an dem nun auf dem Rücken liegenden Mädchen aus. Im Fall 2 der Urteilsgründe hat die Jugendkammer festgestellt, dass der Angeklagte die zwölfjährige Geschädigte S. auf eine am Boden des Fabrikgebäudes liegende Tür legte, ihre Beine spreizte, sich auf sie legte und dann mit seinem Glied in ihre Scheide eindrang. Handlungen wie das Festhalten eines Armes des Opfers unmittelbar vor dem sexuellen Übergriff, das Auseinanderdrücken der Beine oder der Einsatz überlegener Körperkraft (etwa durch das Legen des Opfers auf den Rücken) können im Einzelfall Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF darstellen; das Gleiche gilt, wenn der Täter sich mit seinem Körpergewicht auf das Opfer legt (vgl. BGH, Urteile vom 10. Februar 2011 – 4 StR 566/10, NStZ 2011, 456, 457; vom 10. Oktober 2002 – 2 StR 153/02, NStZ-RR 2003, 42, 43; vom 15. Juli 2020 – 6 StR 7/20, NStZ-RR 2020, 312). Soweit das Landgericht in der rechtlichen Würdigung ausgeführt hat, die geschädigten Mädchen hätten die Handlungen des Angeklagten nicht als körperlichen Zwang „empfunden“, handelt es sich um eine Wertung, für die es an einer ausreichenden Feststellungsgrundlage fehlt. Mangels einer genaueren Schilderung des Verhaltens sowohl des Angeklagten als auch der Geschädigten ist dem Senat eine Überprüfung verwehrt, ob die Jugendkammer im Ergebnis zu Recht eine von den Handlungen des Angeklagten ausgehende Zwangseinwirkung auf die Opfer verneint hat.

(2) Die Ausführungen des Landgerichts lassen außer Betracht, dass es genügen kann, wenn der Täter die Gewalthandlungen im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF vornimmt, um von ihm erwarteten Widerstand des Opfers zu begegnen, wenn die körperliche Zwangseinwirkung dazu dient, eine mögliche Gegenwehr (vorbeugend) zu verhindern. Die Jugendkammer hat ihre Auffassung damit begründet, dass sich die Geschädigten weder gegen den sexuellen Übergriff gewehrt noch sich währenddessen geäußert haben. Mit der Möglichkeit, dass der Angeklagte mit seiner Kraftentfaltung gegen die Geschädigten einen von ihm erwarteten Widerstand vorbeugend unterbinden wollte, hat sich das Landgericht indes nicht auseinandergesetzt. Mangels näherer Schilderung des Verhaltens des Angeklagten und der Geschädigten kann der Senat nicht nachprüfen, ob der Angeklagte mit dieser Intention handelte. Eine genauere Erörterung dieser Frage wäre umso mehr angezeigt gewesen, als der Angeklagte vor der ersten Tat seinen Bruder aus dem Zimmer schickte, die Geschädigte R.    angegeben hat, sie habe sich wehren und den Angeklagten wegdrücken wollen, und die Geschädigte S.         neben Schmerzen auch bekundet hat, dass sie „wie gelähmt“ und „ihre Muskeln … wie eingefroren“ gewesen seien, sie wie „in Schockstarre verfallen gewesen“ sei.“