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Schadensersatz II: Missbrauch im Erzbistum Köln, oder: Missbrauchsopfer erhält 300.000 EUR Schmerzensgeld

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In der zweiten Entscheidung des Tages, dem LG Köln, Urt. v. 13.06.2023 – 5 O 197/22 – geht es um die finanziellen Aufarbeitung eines sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, und zwar im Erzbistum Köln.

Der Sachverhalt (in Kruzform): Der Kläger wurde von 1972 bis 1979 insgesamt 320 Mal von einem zwischenzeitlich verstorbenen Pfarrer, dessen Dienstherr das beklagte Erzbistum Köln war, sexuell missbraucht. Wegen der Einzelheiten bitte den verlinkten Volltext lesen.

Wegen des Missbrauchs macht der Kläger nun Schmerzensgeld gegenüber dem Erzbistum geltend, und zwar 750.000 EUR.

Das LG sagt: Das Erzbistum haftet. Insoweit beschränke ich mich auf den Leitsatz, der lautet.

In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche haftet die Anstellungskörperschaft in entsprechender Anwendung von § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i. V. m. Art. 34 GG.

Zugesprochen hat das LG dann 300.000 EUR. Auch insoweit verweise ich auf den Volltext. Das LG stellt die Grudnsätze der Berechnung/Bemessung dar und führt dann zum konkreten Fall aus:

„e) Ausgehend von den unter c) dargestellten Grundsätzen und unter Berücksichtigung der unter d) angeführten Entscheidungen hält die Kammer im vorliegenden Fall ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000,– € für angemessen.

Dabei hat sich die Kammer insbesondere von folgenden Erwägungen leiten lassen:

Der Kläger stand unter psychischem Druck und befand sich aufgrund der autoritären Stellung des Pfarrers, aber auch dessen Rolle als „Ersatzvater“ in einer Zwangslage. Sowohl wegen seiner Gläubigkeit als auch aufgrund der ihm eingeräumten engen Vertrauensstellung war der Kläger von dem Pfarrer abhängig.

Die über einen langen Zeitraum und in großer Zahl erfolgten vorsätzlich begangenen Missbräuche, die regelmäßig mit Vergewaltigungen einhergingen, verursachten dem Kläger nicht nur körperliche Schmerzen, sondern er fühlte auch Scham, Erniedrigung, Hilflosigkeit und Angst.

Der Kläger benötigt seit über 30 Jahren ständig therapeutische Hilfe; neben zahlreichen ambulanten Sitzungen nahm er zwischen 2005 und 2019 an insgesamt fünf mehrwöchigen Rehabilitationsmaßnahmen teil. Er leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und mehreren chronischen Krankheiten (Neurodermitis, Migräne, Hypertonie).

Daneben bestehen mannigfaltige psychische Beeinträchtigungen, die auch aus der Belastung der Beziehungen zu den Geschwistern des Klägers herrühren. Das eigene Familienleben des Klägers wurde ebenfalls stark negativ beeinflusst.

Dagegen sieht die Kammer keinen Anlass, bei der Bemessung des Schmerzensgeldes auch das Regulierungsverhalten des beklagten Erzbistums zu berücksichtigen.

Der generelle Umgang der Kirche mit den bekannt gewordenen Missbrauchsfällen kann in diesem Rahmen keine Berücksichtigung finden.

Den hier streitgegenständlichen Schmerzensgeldanspruch hat der Kläger erstmals Ende 2021 geltend gemacht. Substantiierten Vortrag zu konkret erhobenen Ansprüchen vor diesem Zeitpunkt leistet er nicht mit Ausnahme des Jahres 2012, in dem ihm aber auch eine – zu geringe – Entschädigung zugebilligt wurde.

Dass das beklagte Bistum im Rahmen der vorgerichtlichen Gespräche zunächst einen Amtshaftungsanspruch abgelehnt und auf die von ihm eingerichtete Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen verwiesen hat, woraufhin ein weiterer Betrag an den Kläger gezahlt wurde, war zumindest vertretbar.

Im Rahmen des anschließenden Klageverfahrens hat das beklagte Erzbistum dann die Missbrauchstaten nicht bestritten und die Einrede der Verjährung zurückgenommen, wodurch zeitnah die gerichtliche Entscheidung möglich wurde. Dass das beklagte Erzbistum sowohl zur Klageerwiderung als auch zur Duplik jeweils um Fristverlängerungen nachgesucht hat, fällt ebenso wenig maßgeblich ins Gewicht wie der geringe äußere Umfang dieser Schriftsätze.

Entgegen der Ansicht des Klägers ist das Schmerzensgeld vorliegend schließlich nicht aus Gründen der Prävention oder Bestrafung zu erhöhen. Da ausschließlich auf die Pflichtverletzungen des Pfarrers abzustellen ist, ist für eine Abschreckung oder Pönalisierung gegenüber dem lediglich nach Art. 34 GG haftenden Erzbistum kein Raum.

Auf die Frage, ob und inwieweit aufgrund der Entwicklungen der vergangenen Jahre davon ausgegangen werden kann, dass dem beklagten Erzbistum die Missbrauchsproblematik nunmehr hinreichend deutlich bewusst ist und deshalb eine Wiederholung von Taten, wie sie dem Kläger widerfahren sind, ausgeschlossen ist, kam es daher nicht an.“

Das Urteil ist (wahrscheinlich) noch nicht rechtskräftig. Ich denke, wir werden dazu noch etwas vom OLG Köln und auch vom BGh hören/lesen.

Schadensersatz I: „Du warst Mitglied der Stasi“, oder: Da das wahrheitswidrig war, gibt es Schadensersatz

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Und in die 27. KW starte ich dann heute mit zwei etwas außergewöhnlichen Entscheidungen. Kein BVerfG, kein Klima, keine Corona, sondern mal Schadensersatz, und zwar als Folge von Straftaten bwz. von wahrheitswidrigen Behauptungen. Wäre an sich etwas für den Kessel Buntes, aber da gehen die Entscheidungen an einem Samstag vielleicht unter. Daher heute hier.

Ich beginne mit dem LG Flensbugr, Urt. v. 14.06.2023 – 7 O 140/20. Gegenstand des Verfahrens ist die wahrheitswidirge Behauptung – inzwischen wahrrechtskräftig festgestellt – der Kläger „sei Mitglied der Staatssicherheit (Stasi)“ gewesen. Darüber gibt es ein Teil-/Grundurteil. Gestritten worden ist jetzt noch um den Schadensersatz. Den hat das LG mit 10.000 EUR bemessen und das wie folgt begründet:

„a) Grundsätzlich hängt die Schmerzensgeldhöhe entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder mit ihnen zu diesem Zeitpunkt als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss. Die Schwere der Belastungen wird dabei vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt. Besonderes Gewicht kommt etwaigen Dauerfolgen zu (Leitsatz OLG München, Urteil v. 13.12.2013, Az. 10 U 4926/12, BeckRS 2013, 22617).

Die Überzeugung des Richters erfordert in dem Zusammenhang keine – ohnehin nicht erreichbare – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ im Hinblick auf die Folgen, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (vgl. OLG München, Urteil v. 13.12.2013, Az. 10 U 4926/12, BeckRS 2013, 22617 m.w.N.). Nach der im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität anwendbaren Vorschrift des § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt je nach Lage des Einzelfalls eine überwiegende (höhere) Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung.

b) Die Qualität des Eingriffs dürfte vorliegend – wenn auch subjektiv auf Klägerseite anders empfunden – eher als mittelschwer zu qualifizieren sein.

Bei der Beurteilung der Qualität des Eingriffs ist einerseits die Art der Behauptung aber auch die Reichweite dieser zu berücksichtigen.

Zweifelsohne ist die vorliegende Art der Behauptung, der Kläger sei Mitglied (sogar „bis 1989 Offizier“) der Stasi gewesen und habe hierbei „viele Werftarbeiter persönlich über die Klinge springen [lassen] durch seine Spitzeltätigkeit“ schwerwiegend und in hohem Maße ehrverletzend. Derartige Behauptungen sind zudem geeignet, das soziale und ggf. politische Ansehen des Klägers zu mindern. Schließlich herrscht heute innerhalb der Bundesrepublik Deutschland allgemeiner Konsens darüber, dass die Stasi für zahlreiche Verbrechen an Menschen verantwortlich ist, die nach damaliger Beurteilung innerhalb der DDR nicht ins dortige System passten. Dass Menschen im Auftrag der Stasi verfolgt, verhaftet, gefoltert und gar getötet worden sind, dürfte heute nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt werden.

Indes geht das Gericht basierend auf den Angaben der Parteien von einer eher überschaubaren Reichweite der Äußerungen des Beklagten zu 1 aus. Zwar ist es unstreitig sehr wohl möglich gewesen, auf den Blog des Beklagten zu 1 sowie auf sein Buch aufmerksam zu werden, wenn man den Namen des Klägers zusammen mit anderen „Schlagwörtern“ bei der Suchmaschine „google“ eingegeben hat. Indes dürfte der Blog des Beklagten zu 1 mit der Domain „http://…“ ansonsten eher einen geringen „fraffic“ (Anzahl der Besucher auf der Homepage innerhalb eines bestimmten Zeitraums) gehabt haben. Zudem dürfte sich nur eine bestimmte Klientel mit dem Inhalt des Blogs auseinandergesetzt haben. Auch die Auflage des Buches beziehungsweise die bislang (geschätzte) Anzahl der Verkäufe (rund 25-30 mal) bei Amazon („www.amazon.de“) ist im Vergleich zu anderen Fällen verhältnismäßig gering. Hinzu kommt, dass der Kläger in dem Buch nur an vereinzelten Stellen genannt wird, sich das Buch also nicht ausschließlich um seine Person dreht.

c) Die persönlichen Folgen bzw. Beeinträchtigungen auf Seiten des Klägers stuft das Gericht indes als schwerwiegend ein.

Nach der Überzeugung des Gerichts haben die falschen ehrverletzenden Behauptungen des Beklagten zu 1 erhebliche negative psychische Auswirkungen auf den Kläger gehabt mit der Folge, dass dieser in eine schwere emotionale Krise gestürzt ist.

aa) Zum einen hat das Gericht die medizinischen Befunde und Berichte (Anlage K 27 – K 29, Bl. 266 – 269 und Bl. 417 d.A.) berücksichtigt. Auf deren Inhalt wird an dieser Stelle vollumfänglich Bezug genommen.

bb) Vor allem aber stützt das Gericht seine Beurteilung auf den eigenen persönlich vom Kläger gewonnenen Eindruck, dessen glaubhafte Darstellung seiner Situation sowie auf die glaubhaften Angaben des Zeugen … .

(1) In der mündlichen Verhandlung vom 22.7.2021, in welcher der Kläger das erste mal informatorisch zur Sache angehört wurde, hat das Gericht bereits den Eindruck gewonnen, dass der Kläger von dem Verfahren und der Situation schwer gezeichnet war. Mit hängenden Schultern und sorgenvoller Mine hat der Kläger damals berichtet, dass ihn die falschen Behauptungen sehr belasten würden. Er sehe seinen guten Ruf in Gefahr und wolle nicht, dass seine ehemaligen Kollegen und Schüler ein derartiges (falsches) Bild von ihm gezeichnet bekämen.

(2) Auch in der mündlichen Verhandlung vom 17.2.2022 wirkte der Kläger auf das Gericht sehr angeschlagen. Es fiel ihm merklich schwer, über die Auswirkungen der Vorwürfe zu sprechen. Dennoch gab er glaubhaft zu Protokoll, dass er sich vor ca. 10 Jahren in psychische Behandlung habe begeben müssen. Damals habe er mit den Folgen eines sog. „Burnout“ zu tun gehabt. Nachdem er diese Krise überwunden hatte, sei die Thematik – aufgrund der Behauptungen des Beklagten zu 1 und dieses Prozesses – jetzt allerdings wieder hochgekommen. Er habe sich im Zusammenhang mit den Anschuldigungen sogar in stationäre Behandlung begeben müssen.

(3) Diese Angaben hat der Zeuge … in der mündlichen Verhandlung vom 25.5.2023 glaubhaft bestätigt.

Dieser hat ausgesagt, den Kläger schon seit dem Jahr 2011 zu kennen. Damals sei er bei ihm wegen Depressionen und Angststörungen sowie Schmerzen in Behandlung gewesen. Diese damalige Behandlung habe zu tun gehabt mit der beruflichen Belastung des Klägers.

Im Jahr 2020, als er auf die Behauptungen über sich im Internet aufmerksam wurde, sei er dann erneut in eine schwere Krise gekommen. Er sei seit damals wieder verstärkt angespannt gewesen und habe nicht schlafen können. Er habe die Situation als „sehr bedrohlich“ wahrgenommen. Besonders belastet habe ihn, dass er dieser Situation so hilflos gegenüber stand.

Er sei damals auch sehr impulsiv gewesen und habe versucht, sich mit Alkohol zu beruhigen. Zuvor habe er lange Zeit gar keinen Alkohol mehr zu sich genommen.

Ein weiteres Thema sei gewesen, dass die Ehefrau des Klägers ebenfalls sehr besorgt gewesen sei. Dies habe letztlich auch zu einer Ehekrise geführt, da der Kläger seine Ehe in Gefahr gesehen habe. Dies insbesondere aufgrund des Umstandes, dass die Ehefrau des Klägers bei dem Konsum von Alkohol katastrophale Wirkungen bzw. Gedanken hervorgebracht habe. Die Ehefrau des Klägers dahingehend wieder einzufangen und sie davon zu überzeugen, dass die Probleme des Klägers gelöst werden müssten, sei für den Kläger und den Zeugen … ein enormer Kraftakt gewesen.

Zusammengefasst habe der Kläger zwischen 2020 und 2022 in einer erheblichen psychischen Krise gesteckt hat, die kausal durch die Behauptungen des Beklagten zu 1 hervorgerufen worden sei (Protokoll vom 25.5.2023, S. 2-4). Ob er diese Krise je überwinden werde, sei ungewiss. Der Zeuge … sehe allerdings gute Chancen, wenn dieser Prozess beendet sei.

Die Angaben des Zeugen waren insgesamt glaubhaft. Hinweise auf eine einseitige Belastungs- oder Begünstigungstendenz haben sich nicht ergeben. Bei dem Zeugen … handelt es sich um einen seit Jahren praktizierenden Nervenarzt, der seine fachkundigen Wahrnehmungen wertungsfrei wiedergegeben hat. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen haben sich ebenfalls nicht ergeben.

d) Das Maß an Verschulden bzw. Vorwerfbarkeit des Beklagten zu 1 sieht das Gericht als hoch an (mit Einschränkung).

Das Gericht geht zwar – ohne Zweifel – davon aus, dass der Beklagte zu 1 die Behauptungen über den Kläger in der Absicht öffentlich aufgestellt hat, um diesem zu schaden. Auch geht das Gericht davon aus, dass der Beklagte zu 1 seinen Fehler (Behauptungen sind tatsächlich unwahr) bei objektiver Betrachtung hätte erkennen müssen und können, wenn er sich mit der Aktenlage intensiver beschäftigt hätte. Der Fehler wäre also vermeidbar gewesen. Dies, wie auch die Qualität der Behauptung, muss sich der Beklagte zu 1 vorwerfen lassen.

Indes hat das Gericht im Laufe des Prozesses auch den Eindruck gewonnen, dass der Beklagte zu 1 aufgrund seiner eigenen Vergangenheit (als Opfer der Stasi) womöglich psychisch und emotional derart geprägt worden ist, dass ihm die Unterscheidung zwischen Realität (objektiv beweisbarem) und Vorstellung nicht mehr ohne Einschränkung gelingt. Mit Verweis auf die zahlreichen aus Sicht des Gerichts nicht nachvollziehbaren – teils persönlichen – Einlassungen des Beklagten zu 1 (vgl. dazu auch Grund- und Teilurteil, S. 13 ff.) sowie seine mangelnde Einsicht (trotz zweier Instanzen) schließt das Gericht nicht aus, dass der Beklagten zu 1 womöglich die Tragweite seiner Handlungen gar nicht erkennt. Jedenfalls scheint er unter einem erheblichen psychischen Trauma zu leiden, welches er durch Benennung der „Täter“ aufzuarbeiten versucht. Dass er hierbei einen Falschen als „Täter“ benannt hat, ist für ihn emotional womöglich nicht nachvollziehbar. Dies mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass Verschleierung, Verdunkelung und Täuschung in der ehemaligen DDR, insbesondere bei der Stasi, an der Tagesordnung waren. Irgendwann mag bei jedem Menschen, der von einer solchen Welt geprägt worden ist, der Punkt erreicht sein, ab dem er nichts mehr glaubt, sondern sich seine eigene Wahrheit schafft.

e) Bei der Bemessung der Schmerzensgeldhöhe hat das erkennende Gericht insbesondere die folgenden, in der Schmerzensgeldtabelle exemplarisch aufgeführten Entscheidungen anderer Gerichte berücksichtigt und sich hieran orientiert:

  • Ehrverletzung durch unzutreffende Berichterstattung ohne Namensnennung. Dennoch erfuhren mindestens 217 Bekannte, Verwandte oder Kollegen von der Behauptung, der Kläger habe als „Stasi-Scherge“ einen Mord begangen: OLG Hamm, Urteil vom 1.6.1992, Az. 3 U 25/92, BeckRS 9998, 11842.
  • Ehrverletzung durch Ausstrahlung von Fernsehaufnahmen („Brandenburg aktuell“), in denen der Kläger als „Neonazi“ mit einschlägiger Vergangenheit dargestellt wurde: LG Berlin, Urteil vom 9.10.1997, Az. 27 O 349/97, BeckRS 9998, 16109.
  • Bezeichnung des im Kommunalwahlkampf stehenden Klägers als „kulturloser Bonze“ und  „Wendehals“. Zudem wurde der Kläger einer tatsächlich nicht bestehenden SED Vergangenheit beschuldigt: LG Frankfurt, Urteil vom 29.7.2004, Az. 17 O 540/03, BeckRS 2004, 17904.
  • Ehrverletzung wegen eines „herabwürdigenden Artikels“ mit der Folge psychischer Beeinträchtigungen: LG München, Urteil vom 11.6.2008, Az. 9 O 15086/06, BeckOK zum Schmerzensgeld Nr. 3782.
  • Unzutreffende Bezeichnung als „Perspektiv-Agent des KGB“. Es stelle eine schwere Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar, in einer Buchveröffentlichung eine andere Person mit dem kommunistischen Geheimdienst KGB in Verbindung zu bringen, weil so zu Lasten des Betroffenen ein zwielichtiger Eindruck erweckt werde: OLG Bremen, Urteil vom 1.11.1995, Az. 1 U 51/95, BeckRS 9998, 2560.

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(Mit)Haftung nach (Auffahr)Unfall am Stauende, oder: Muss man die Warnblinkanlage einschalten?

entnommen wikimedia.org
Author Achim Engel

Und dann im zweiten Posting das LG Hagen, Urt. v. 31.05.2023 – 1 O 44/22 – zu der interessanten und bisher kaum (?) entschiedenen Frage, ob man als Fahrzeugführer verpflichtet ist, an einem Stauende die Warnblinkanlage einzuschalten.

Folgender Sachverhalt: Am 02.10.2019 gegen 11:26 Uhr befuhr der Beklagte zu 3) mit einem LKW Mercedes-Benz  den rechten Fahrsteifen der BAB 1 in Fahrtrichtung Köln ca. 600 Meter vor der Autobahnabfahrt Hagen-Nord, Gemarkung Hagen bei km 343,620. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug 100 km/h. Hinter ihm fuhr der Versicherungsnehmer der Klägerin, mit seinem Pkw Lada. Wegen einer Staubildung auf dem rechten Fahrstreifen reduzierte der Beklagte zu 3) seine Geschwindigkeit innerhalb von 29 Sekunden von ca. 62 km/h auf ca. 11 km/h. Die Warnblinkanlage betätigte er nicht. Der hinter ihm fahrende Versicherungsnehmer der Klägerin – kranken- und pflegeversichert bei der Klägerin — reagierte auf die Staubildung jedenfalls nicht rechtzeitig und fuhr mit 50 km/h auf den vor ihm fahrenden LKW der Beklagten zu 2) auf.

Die BAB 1 ist dort dreispurig ausgebaut, ein Seitenstreifen ist rechtsseitig vorhanden. Zum Unfallzeitpunkt war die Fahrbahn trocken. Es war hell und bewölkt.

Der Versicherungsnehmer der Klägerin wurde aufgrund des Unfalls erheblich verletzt, lag im Koma und konnte auch nach mehreren Operationen und Behandlungen nicht vollständig genesen. Der Versicherungsnehmer ist nunmehr pflegebedürftig.

Der Krankenversicherung ergaben sich Kosten in Höhe von 155.180,16 EUR; der Pflegeversicherung in Höhe von 13.925,00 EUR.

Um deren „Verteilung“ wird gestritten. Das LG hat die Klage abgewiesen:

„Die Klägerin hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Schadensersatz aus abgetretenem Recht gegen die Beklagten aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 249 BGB, 116 SGB.

1. Der Unfall war zwar für keinen der Beteiligten unabwendbar. Die einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs tritt jedoch hinter dem groben Verschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin zurück.

Ein Ereignis ist unabwendbar, welches bei Anwendung möglich äußerster Sorgfalt nicht hätte abgewendet werden können. Hierbei ist der Maßstab eines gedachten Idealfahrers anzulegen. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen haben die Beklagten darzulegen und zu beweisen.

Diesen Nachweis konnten die Beklagten nicht führen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Versicherungsnehmer bei Betätigen der Warnblinklichtanlage — welches unstreitig unterblieb — rechtzeitig auf das langsame Fahren des Beklagtenfahrzeugs reagiert hätte. Allein aus dem Umstand, dass nach dem Unfall dem Handy des klägerischen Versicherungsnehmers ein laufendes Video entnommen werden konnte, kann nicht sicher der Rückschluss gezogen werden, dass der Versicherungsnehmer dieses unmittelbar zum Zeitpunkt des Unfallereignisses angesehen habe und aus diesem Grunde abgelenkt gewesen sei. Weiteren Beweis haben die Beklagten für eine Unabwendbarkeit des Unfallereignisses nicht angetreten.

2. Die danach in die nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmende Haftungsabwägung einzubeziehende einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs tritt jedoch hinter dem groben Verschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin zurück.

a) Umstände, welche zu einer erhöhten Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs geführt hätten, hat die Klägerin nicht dargelegt und nicht bewiesen.

Es liegt kein Verstoß des Beklagten zu 3) gegen § 1 Abs. 2 StVO vor.

Es bestand für den Beklagten, auch wenn er möglicherweise das letzte Glied eines sich bildenden Staus gewesen sein sollte — weshalb es hierauf im Ergebnis nicht ankommt —, keine Verpflichtung die Warnblinklichtanlage zu betätigen.

Eine solche Verpflichtung ergibt sich aus § 1 Abs. 2 StVO nämlich nicht bei jedem sich bildenden Stau, sondern nur dann, wenn sich aufgrund des Staus eine Gefährdungslage für den nachfolgenden Verkehr ergibt.

Aus der erweiterten Zulässigkeit der Verwendung des Warnblinklichts kann sich mittelbar eine Verpflichtung zu seiner Verwendung ergeben. Wie hinsichtlich der Warnzeichen nach § 16 Abs. 1 StVO ist Grundlage dafür § 1 Abs. 2 StVO. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Gefährlichkeit der Situation und deren Erkennbarkeit für den nachfolgenden Verkehr an. Für die Annäherung an einen Stau auf der Autobahn ist eine solche Verpflichtung vor der Änderung von § 16 Abs. 2 Satz 2 StVO abgelehnt worden; nach der geltenden Rechtslage, nach der für diesen Fall die Verwendung der Warnblinkanlage ausdrücklich erlaubt ist, kommt dies im Einzelfall durchaus in Betracht (Feskorn in: FreymannfWellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 16 StVO (Stand: 18.11.2022), Rn. 12). Die Einschaltung des Warnblinklichts bleibt aber grundsätzlich unzulässig, wenn keine Gefährdung, sondern nur eine Behinderung des Verkehrs vorliegt (Feskorn in: FreymannANellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 16 StVO (Stand: 18.04.2023), Rn. 11).

Wegen des Sichtfahrgebots muss ein Verkehrsteilnehmer grundsätzlich auch auf Bundesautobahnen mit der Gefahr rechnen, seine Geschwindigkeit unter Umständen plötzlich bis hin zum Stillstand abbremsen zu müssen. Kommt es — wie auf vielbefahrenen Strecken häufig — regelmäßig aus dem stockenden bis zähfließenden Verkehr heraus zu Stau oder wie vorliegend zu einem Rückstau an einer Autobahnausfahrt, bedarf es in der Regel keiner besonderen Warnung. Eine Warnung kann allerdings dort angebracht sein, wo das Stauende nicht gut zu erkennen ist (z.B. hinter einer Kurve oder Kuppe) und wo mit hohen Geschwindigkeitsdifferenzen zu rechnen ist.

Dass eine solche konkrete Gefährdungslage vorgelegen habe, hat die für eine erhöhte Betriebsgefahr darlegungs- und beweisbelastete Klägerin schon nicht dargelegt und auch nicht bewiesen.

Vorliegend ereignete sich der Verkehrsunfall auf der rechten Spur einer dreispurigen Autobahn, wobei nur der rechte Fahrstreifen von dem sich bildenden oder bereits gebildeten Stau betroffen war. Gerade wegen des vermehrt aufkommenden LKW-Verkehrs auf der rechten Fahrspur und häufig auftretenden Rückstaus wegen Autobahnabfahrten muss auf der rechten Fahrspur schon dem Grunde nach vermehrt mit Staubildungen gerechnet werden. Hinzu treten vorliegend gute Sichtverhältnisse, da es hell und. die Straßenführung ausweislich des in Augenschein genommenen Google-Maps-Ausdrucks über eine längere Strecke geradlinig war.

Daneben kann bei einer Reduzierung der Geschwindigkeit von ohnehin schon nur 62 km/h bei erlaubten 100 km/h innerhalb von 29 Sekunden auf 11 km/h nicht die Rede von einer abrupten und nicht vorhersehbaren Staubildung sein, welche bei so guten Sichtverhälthisses möglicherweise noch eine Gefährdungslage begründen könnte. Vielmehr zeigt der Fahrtenschreiber des Beklagtenfahrzeugs eine kontinuierliche und gemächliche Reduzierung der Geschwindigkeit des LKW’s auf.

Zudem hat die Klägerin keinerlei Beweis dafür angeboten, dass sich ein etwaiger Verstoß des Beklagten zu 3) gegen § 1 Abs. 2 StVO ursächlich auf den Unfall ausgewirkt habe. Dass der Versicherungsnehmer der Klägerin vorliegend ein betätigtes Warnblinklicht des bremsenden LKW wahrgenommen hätte, hat die für eine erhöhte Betriebsgefahr darlegungs- und beweisbelastete Klägerin nicht unter Beweis gestellt.

b) Dagegen ist von einem groben Verschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin auszugehen. Fest steht nach unstreitigem Sachverhalt, dass der Versicherungsnehmer der Klägerin, welcher mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h auf das Beklagtenfahrzeug aufgefahren war, jedenfalls gegen § 4 StVO verstoßen hat. Da das Beklagtenfahrzeug schon 29 Sekunden vor dem Unfallereignis schon nur eine Geschwindigkeit von ca. 60 km/h aufgewiesen hatte, kann aus dem Auffahren des Versicherungsnehmers der Klägerin auf eine erhebliche Unachtsamkeit geschlossen werden. Insoweit streitet zugunsten der Beklagten die Vermutung eines Verstoßes gegen die Pflichten aus § 4 Abs. 1 StVO durch den Versicherungsnehmer der Klägerin. Andere Ursachen für das Auffahren ihres Versicherungsnehmers auf das vor ihm schon seit längerem deutlich langsamer fahrende Fahrzeug hat die Klägerin nicht dargelegt.

Hinter diesem groben Verschulden tritt die einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs zurück.

Ob der Versicherungsnehmer zuvor einen Fahrstreifenwechsel vorgenommen hat, kann dahingestellt bleiben. Auch in diesem Falle läge ein besonders grober Verkehrsverstoß vor, hinter welchem die einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs zurückträte.“

Haftungsverteilung bei einem „Businsassenunfall“, oder: Eigenverschulden des Fahrgastes

entnommen wikimedia.org
Urheber Busbahnhof

Am heutigen – sommerlichen – Samstag gibt es im „Keesel Buntes“ zwei zivilrechtliche Entscheidungen zu Verkehrsunfällen.

Hier stelle ich erst einmal das OLG Schleswig, Urt. v. 25.04.2023 – 7 U 125/22 -, dass die Haftung nach einem sog. Bus(insassen)unfall zum Gegenstand hat. Gestrittemn wird um die Ansprüche aus einem Verkehrsunfall aus November 2020.

Die zum Unfallzeitpunkt 82 Jahre alte Klägerin fuhr gegen 17:40 Uhr als Passagierin eines Linienbusses zu ihrer Wohnung in einer Senioreneinrichtung . Der Beklagte zu 1), der seit 30 Jahren als Busfahrer arbeitet, lenkte den Bus. Die Klägerin saß auf einem Zweier-Sitzplatz direkt an einem der Ausgänge und beabsichtigte, an der nächsten Haltestelle auszusteigen und betätigte deshalb von ihrem Sitzplatz aus das Haltesignal. Neben ihr befanden sich lediglich fünf weitere Fahrgäste im Bus. Bei Regen und Dunkelheit näherte sich der Beklagte zu 1) mit dem Bus einem Kreuzungsbereich und wollte an der Kreuzung nach links abbiegen, wo sich dann alsbald hinter dem Kreuzungsbereich die Haltestelle befindet, an der die Klägerin aussteigen wollte. Der Linienbus hielt zunächst wegen Rotlichts an der Kreuzung. Als das Licht auf Grün umsprang, fuhr der Linienbus in den Kreuzungsbereich ein. Die Klägerin stand auf und positionierte sich am Ausgang. Sie sicherte sich mit einer Hand an der Haltestange ab, während sie in der anderen Hand einen Regenschirm und ihre Handtasche festhielt.

Im Kreuzungsbereich musste der Beklagte zu 1) den Linienbus zunächst nochmal kurz anhalten, da er vorfahrtsberechtigten Verkehr durchlassen musste. Eine im Kreuzungsbereich anwesende Fußgängerin wollte die im Bereich einer Fußgängerfurt bei für sie zeigendem Grünlicht für Fußgänger überqueren. Der Beklagte zu 1) nahm die Fußgängerin zunächst nicht wahr und fuhr wieder an, um den Linksabbiegevorgang in die Straße S.-berg zu vollenden. Nachdem der Beklagte zu 1) die Fußgängerin jedoch wahrgenommen hatte, nahm er eine scharfe Notbremsung vor, als sie sich nur etwa einen Meter vor dem Linienbus befand. Trotz der Notbremsung erfasste er die Fußgängerin K. mit dem Bus und brachte diese zu Fall, allerdings offenbar ohne dass sie Verletzungen davontrug.

Durch die plötzliche Notbremsung stürzte die Klägerin, der es nicht gelang, sich an der Haltestange festhalten. Sie ging mit dem Kopf in Fahrtrichtung voran und ohne wahrnehmbare Sicherungs- und Abwehrbewegungen direkt zu Boden, wo sie nach kurzer Rutschbewegung in Fahrtrichtung liegen blieb. Die Klägerin wurde mit dem Rettungswagen in das UKSH gebracht, wo sie bis zum 2. Dezember 2020 stationär behandelt wurde.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung, mit der sie ihre Ansprüche – insoweit abweichend vom ersten Rechtszug nur noch auf der Grundlage einer Haftung der Beklagten von 50 % – weiter verfolgt. Insoweit hatte die Berufung Erfolg.

Hier die Leitsätze zu der Entscheidung:

    1. Bei Businsassenunfällen verdrängt grundsätzlich das Eigenverschulden des Fahrgastes, der sich nicht ordnungsgemäß festgehalten hat, vollständig die Gefährdungshaftung aus einfacher Betriebsgefahr. Bei Vorliegen besonderer Umstände kann sich das Eigenverschulden des Fahrgastes jedoch verringern. Eine Schadensteilung 50 : 50 kommt in Betracht, wenn der Busfahrer schuldhaft eine Notbremsung vorgenommen hat.
    2. Grünes Ampellicht an einer Kreuzung bedeutet zwar, dass der Verkehrsteilnehmer nach den Regeln des § 9 StVO abbiegen darf. Nach § 9 Abs. 3 StVO muss er jedoch auf Fußgänger besondere Rücksicht nehmen und – wenn nötig – warten.
    3. Jeder Fahrgast ist grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische oder zu erwartende Bewegungen eines Busses nicht zu Fall kommt. Im Stadtverkehr muss ein Fahrgast jederzeit mit plötzlichen Bremsmanövern rechnen und das bei der Wahl der Sicherheitsvorkehrungen berücksichtigen. Dazu gehört u.a. auch, bei ausgelöstem Haltesignal solange sitzen zu bleiben, bis der Bus die Haltestelle erreicht hat. Bei stehendem Transport sollten sich Fährgäste im fortgeschrittenen Alter mit beiden Händen an der Haltestange festhalten.
    4. Bei einem Busunfall kommt eine hälftige Schadensteilung dem Grunde nach in Betracht, wenn der Busfahrer schuldhaft eine Notbremsung vorgenommen hat und der Fahrgast, der sich nicht ordnungsgemäß festgehalten hat, dabei verletzt wird.

BVerfG I: Versäumung der Verfassungsbeschwerdefrist, oder: Wiedereinsetzung durch Auslegung?

Und zum Auftakt der neuen Woche dann zwei Entscheidungen vom BVerfG. Zunächst hier der BVerfG, Beschl. v. 15.02.2023 – 1 BvR 2349/22, der noch einmal zur Frist bei der Verfassungsbeschwerde und zur Wiedereinsetzung Stellung nimmt.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine familiengerichtliche OLG-Entscheidung betreffend einen Versorgungsausgleich.  Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie unzulässig ist/war:

„Die Verfassungsbeschwerde wahrt nicht die Frist zur Einlegung und Begründung aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG (1). Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) ist weder ausdrücklich noch konkludent gestellt. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen (§ 93 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG) liegen nicht vor (2).

1. Die Beschwerdeführerin hat es versäumt, die Verfassungsbeschwerde innerhalb der Frist aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG einzulegen und sie in der durch § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG geforderten Weise zu begründen.

a) Für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde ist nach § 93 1 Satz 1 BVerfGG erforderlich, dass diese innerhalb eines Monats ab Zustellung der angegriffenen Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht eingelegt wird. Hierzu gehört auch die Vorlage aller für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde notwendigen Anlagen, insbesondere der angegriffenen Entscheidungen und aller sonstigen wichtigen Dokumente (vgl. BVerfGE 93, 266 <288>; 129, 269 <278> m.w.N.; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2019 – 1 BvR 1789/19 -, Rn. 3). Ein Nachreichen von Unterlagen nach Ablauf der Monatsfrist ist, vorbehaltlich einer Wiedereinsetzung, grundsätzlich nicht möglich (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juni 2017 – 1 BvR 1877/15 -, Rn. 9 und vom 18. Januar 2022 – 1 BvR 2318/21 -, Rn. 6).

b) Dem genügt die Verfassungsbeschwerde nicht. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts wurde der Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin eigenen Angaben zufolge am 28. Oktober 2022 zugestellt. Am Tag des Fristablaufs, dem 28. November 2022, ging die per Fax übermittelte Verfassungsbeschwerde jedoch nur in Teilen und ohne darin in Bezug genommene Anlagen ein. So wurden lediglich fünf der elf Seiten umfassenden Verfassungsbeschwerde übersandt sowie die drei zwischen den Eheleuten geschlossenen Eheverträge. Die übrigen sechs Seiten der Verfassungsbeschwerdeschrift und insbesondere der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts wurden an diesem Tag jedoch nicht mit übersandt. Die Verfassungsbeschwerde gibt dessen wesentlichen Inhalt auch nicht wieder. Erst auf Hinweis des Allgemeinen Registers vom 6. Dezember 2022 folgten am 21. Dezember 2022 die gesamte Begründungsschrift vom 20. Dezember 2022 sowie die der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden fachgerichtlichen Entscheidungen.

c) Es lässt sich auch nicht zugunsten der Beschwerdeführerin annehmen, dass der vollständige Beschwerdeschriftsatz bis zum Ablauf der Begründungsfrist zusammen mit allen für eine verfassungsrechtliche Prüfung des Beschwerdevorbringens unverzichtbaren Unterlagen tatsächlich in die Verfügungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts gelangt ist. Dafür würde zwar ausreichen, dass ein Zugang auf dem Telefaxempfangsgerät des Bundesverfassungsgerichts erfolgt ist (vgl. Hömig, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93 Rn. 44 m.w.N. <Jan. 2022>).

Von einem vollständigen Zugang der Verfassungsbeschwerde einschließlich der für die Entscheidung darüber erforderlichen Unterlagen kann aber nicht ausgegangen werden. Soweit die Verfahrensbevollmächtigte mit ihrem Schreiben vom 20. Dezember 2022 mit dem Hinweis, Faxübersendungen ihrerseits würden als sogenannte Digi-Faxe erfolgen, bei denen es nicht möglich sei, lediglich Teile zu übersenden, sondern stets der insgesamt eingescannte Schriftsatz als PDF übermittelt werde, einen solchen Zugang behaupten wollte, deckt sich dies nicht mit den feststellbaren tatsächlichen Umständen. So weisen bereits die Begleitschreiben der Faxübermittlungen vom 28. November 2022 ausdrücklich aus, dass die Verfassungsbeschwerde in zwei Teilen sowie die Anlagen gesondert (nämlich einmal Anlagen 1 bis 3 sowie einmal Anlage 7) übersandt werden sollten. Bereits das spricht gegen eine einheitliche und vollständige Übersendung der gesamten Verfassungsbeschwerdeschrift einschließlich sämtlicher dort bezeichneter Anlagen. Zudem weisen drei der per Fax übersandten Begleitschreiben (diejenigen, mit denen die Anlagen 1 bis 3, Anlage 7 sowie der Teil 2 der Verfassungsbeschwerde gesendet wurden) jeweils die Meldung „DISCARDED application/pdf goes here (Attachement too big)“ auf. Das spricht gegen eine vollständige Übersendung und damit gegen einen entsprechenden Zugang bei dem Bundesverfassungsgericht.

2. Eine Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs. 2 BVerfGG) kommt nicht in Betracht.

a) aa) Für eine Wiedereinsetzung nach § 93 2 Satz 2 BVerfGG bedarf es eines begründeten Wiedereinsetzungsantrags, in dem das Vorliegen des Wiedereinsetzungsgrundes und die Rechtzeitigkeit des Wiedereinsetzungsantrags substantiiert dargelegt werden. Darüber hinaus muss der Beschwerdeführer die versäumte Rechtshandlung nachholen. Ein ausdrücklicher Wiedereinsetzungsantrag ist nicht erforderlich; es genügt, wenn sich das Wiedereinsetzungsbegehren konkludent aus dem Vortrag des Beschwerdeführers durch Auslegung entnehmen lässt. Dies kann etwa der Fall sein, wenn der Beschwerdeführer in Kenntnis der Fristversäumung bei der Nachholung der Erhebung und/oder Begründung der Verfassungsbeschwerde umfassend auf die Fristversäumung und die eine Wiedereinsetzung rechtfertigenden Umstände eingeht (vgl. Hömig, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93 Rn. 62 m.w.N. <Jan. 2022>; Peters, in: Barzcak, Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, § 93 Rn. 104 <2018>).bb) Das Schreiben der Verfahrensbevollmächtigten der Beschwerdeführerin vom 20. Dezember 2022 enthält weder einen ausdrücklichen Wiedereinsetzungsantrag noch kann es als solcher ausgelegt werden. Es heißt dort:

„Wir bedauern, dass eine vollständige Übermittlung zum Zeitpunkt des Einreichens nicht zustande kam. Diesseits werden Faxe als sogenanntes Digi-Fax übermittelt, d.h. es ist uns nicht möglich, nur Teile zu übersenden, sondern es wird der insgesamt eingescannte Schriftsatz als PDF übermittelt.“

Abgesehen davon, dass diese Erklärung so nicht zutreffen dürfte (dazu Rn. 12), fehlt es an jeglicher Glaubhaftmachung des Wiedereinsetzungsgrundes, nämlich der schuldlosen Fristversäumnis. Dem Schreiben lässt sich nicht einmal entnehmen, dass die Verfahrensbevollmächtigte trotz des zutreffenden Hinweises des Allgemeinen Registers vom 6. Dezembers 2022 auf die Säumnis von einer solchen ausgegangen ist.

b) Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen nach § 93 2 Satz 4 Halbsatz 2 BVerfGG liegen nicht vor.

aa) Diese ist zu gewähren, wenn außer dem Antrag alle übrigen Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorliegen. Von der Obliegenheit, innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist die für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand relevanten Tatsachen vorzutragen und sie – dies gegebenenfalls auch noch nachträglich nach Ablauf der Frist – glaubhaft zu machen, entbindet § 93 2 Satz 4 Halbsatz 2 BVerfGG nicht. Darüber hinaus kommt eine Wiedereinsetzung von Amts wegen nur in Betracht, wenn die Schuldlosigkeit des Beschwerdeführers an der Nichtwahrung der Monatsfrist jedenfalls überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. April 1999 – 2 BvR 299/94 -, Rn. 6).

bb) Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.

(1) Hier fehlt es bereits an einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Nachholung der versäumten Prozesshandlung nach § 93 Abs. 2 Satz 4 Halbsatz 1 BVerfGG binnen der Zwei-Wochen-Frist des § 93 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG. Die am 21. Dezember 2022 auf dem Postweg eingegangene Verfassungsbeschwerde genügt nicht den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Anforderungen. Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde – wie hier – gegen gerichtliche Entscheidungen, so zählt zu den Anforderungen an die hinreichende Begründung auch die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen und derjenigen Schriftstücke, ohne deren Kenntnis die Berechtigung der geltend gemachten Rügen sich nicht beurteilen lässt, zumindest aber deren Wiedergabe ihrem wesentlichen Inhalt nach, da das Bundesverfassungsgericht nur so in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob die Entscheidungen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen (vgl. BVerfGE 112, 304 <314 f.>; 129, 269 <278>). Vorliegend hat es die Beschwerdeführerin versäumt, den Schriftverkehr mit den Fachgerichten und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht vorzulegen. Die Kenntnis dieser Unterlagen ist für die verfassungsrechtliche Überprüfung der angegriffenen Entscheidung unerlässlich, weil sich das Oberlandesgericht in seiner Begründung maßgeblich auf die Aussagen der Beschwerdeführerin und ihres früheren Ehemannes in ihren Schriftsätzen und in der Anhörung vom 4. Oktober 2022 stützt. Mangels Vorlage oder hinreichend präziser Wiedergabe der Dokumente lässt sich nicht nachvollziehen, ob die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 21. Oktober 2022 den aus Art. 2 Abs. 1 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG folgenden Anforderungen gerecht wird. Die Möglichkeit einer Verletzung der Beschwerdeführerin in Grundrechten liegt auf der Grundlage der übersandten Unterlagen auch nicht derart auf der Hand (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2019 – 1 BvR 2214/19 -, Rn. 13 m.w.N.), dass auf die weiteren Unterlagen verzichtet werden könnte.

(2) Vor allem aber ist es nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Beschwerdeführerin, die sich das Verhalten ihrer Verfahrensbevollmächtigten zurechnen lassen muss (§ 93 Abs. 2 Satz 6 BVerfGG), schuldlos die Einhaltung der Einlegungs- und Begründungsfrist aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG versäumt hat.

(a) Die Verfahrensbevollmächtigte hat aufgrund des ihr erteilten Auftrags, eigenverantwortlich Verfassungsbeschwerde einzulegen, alles ihr Zumutbare zu tun und zu veranlassen, damit die Einlegungsfrist und die sonstigen Anforderungen an die Erhebung der Verfassungsbeschwerde gewahrt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. April 1999 – 2 BvR 299/94 -, Rn. 8). Die Bevollmächtigte hat eigenständig die Beschwerdefrist zu ermitteln und dafür zu sorgen, dass die Verfassungsbeschwerde rechtzeitig zur Wahrung der Beschwerdefrist an das Bundesverfassungsgericht übermittelt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juli 2001 – 2 BvR 128/00 -, Rn. 5). Bei Übermittlung der Verfassungsbeschwerde per Telefax umfassen die Sorgfaltspflichten die Überprüfung der ordnungsgemäßen und vollständigen Versendung des Telefaxes anhand des ausgedruckten Sendeprotokolls des Faxgerätes (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Mai 2007 – 1 BvR 756/07 -, Rn. 3). Wird eine solche End- und Ausgangskontrolle anhand des Sendeprotokolls unterlassen und damit die fehlerhafte Übertragung übersehen, liegt eine Sorgfaltspflichtverletzung vor, weil die mögliche Wiederholung der Übermittlung vereitelt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. Oktober 2008 – 1 BvR 2147/08 -, Rn. 3; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. Oktober 2021 – 1 BvR 838/19 -, Rn. 5).

(b) Diesen Sorgfaltsanforderungen ist die Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin nicht gerecht geworden. Ausweislich der jeweils letzten Seiten der verschiedenen Anschreiben bei der Übermittlung der Verfassungsbeschwerde am 28. November 2022 bekam die Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin dreimal eine Fehlermeldung, dass die vollständige Übersendung gescheitert ist (näher Rn. 12). Auch ergibt sich aus dem Sendungsbericht des Faxgeräts in der Kopfzeile der Dokumente, dass jeweils nur die vier Seiten des Anschreibens versendet wurden. Die Verfahrensbevollmächtigte hätte im Hinblick auf diese Fehlermeldungen bei sorgfaltsgemäßem Verhalten – möglicherweise nach telefonischer Nachfrage, ob tatsächlich und, wenn ja, welche Teile genau fehlen – einen neuen Übermittlungsversuch per Fax starten müssen. Eine solche Ausgangskontrolle hat – obwohl erforderlich – offenbar nicht stattgefunden. Da sich auch aus dem Schreiben vom 20. Dezember 2022 keinerlei Anhaltspunkte ergeben, die auf eine unverschuldete Fristversäumnis schließen ließen, kann vorliegend nicht von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit eines fehlenden Verschuldens ausgegangen werden.“