Archiv der Kategorie: Zivilrecht

Rechtsabbieger kollidiert mit Radfahrer auf Gehweg, oder: Quote bei verbotswidrigem Gehwegbefahren

https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/8894.htm

Und dann im „Kessel Buntes“ am heutigen Samstag zwei zivilrechtliche Entscheidungen, und zwar zu Verkehrsunfällen.

Ich beginne mit dem OLG Schleswig, Urt. v. 19.11.2024 – 7 U 90/23 – zur Haftungsquote bei der Kollision zwischen einem rechtsabbiegenden PKW mit einem querenden Radfahrer, der verbotswidrig einen Gehweg befährt. Das ist sicherlich eine Konstellation, die man in der Praxis häufiger antrifft

Das OLG geht von folgendem Sachverhalt aus: Gestritten wird um Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche sowie die Feststellung der Ersatzpflicht künftiger Schäden aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 16.05.2019 gegen 18:00 Uhr bei trockener Fahrbahn an der Einmündung H-weg / S.-straße in P. ereignet hat.

Der damals 18-jährige Kläger befuhr mit seinem Fahrrad, einem sog. All-Terrain-Bike, den entlang des H.-weges verlaufenden, mit dem Zeichen 239 gekennzeichneten und damit ausschließlich Fußgängern vorbehaltene Gehweg von der Lichtzeichenanlage kommend in Richtung P. Stadtzentrum. Im Verlauf zur Einmündung S.-straße hin wird der Gehweg zum Fahrbahnbereich des H.-wegs durch einen Zaun und einen Grünstreifen begrenzt, bevor die letzten Meter des Gehweges bis zum abgesenkten Bordstein zur Einmündung Schulstraße wieder ohne Begrenzung zur Fahrbahn verlaufen. Hinsichtlich des vom Kläger befahrenen Gehwegs in Fahrtrichtung ab der Lichtzeichenanlage und dem Zeichen 239 sowie die links daneben verlaufende Fahrspur des Beklagten zu 2) wird auf das als Anlage zum Schriftsatz der Beklagten vom 21.07.2022 eingereichte Lichtbild Bezug genommen.

Der Beklagte zu 2) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten und als Taxi genutzten Pkw VW Caddy mit dem amtlichen Kennzeichen P-XX 4711 den H-weg in gleicher Fahrtrichtung und beabsichtigte, nach rechts in die S.-straße einzubiegen. Als der Kläger seinerseits die Einmündung S.-straße mit dem Fahrrad passieren wollte, wurde er von dem vom Beklagten zu 2) geführten Fahrzeug erfasst, vom Fahrrad gestoßen und überrollt. Der PKW kam auf dem gegenüberliegenden Fußgängerweg der Einmündung zur S.-straße zum Stehen.

Der Kläger erlitt durch den Unfall ein Polytrauma im Sinne eines Überrolltraumas, mehrere Rippenfrakturen, einen Leberriss, eine Blasenruptur, eine Querfortsatzfraktur sowie eine Becken- C-Fraktur und eine Schenkelhalsfraktur rechts. Er wurde stationär bis zum 04.06.2019 im UKSH behandelt. Die Beckenfraktur musste operativ versorgt werden. Im Anschluss erfolgte eine ambulante Rehabilitation und eine erneute stationäre Behandlung im UKSH in der Zeit vom 28.04.2021 bis zum 29.04.2021 zur Entfernung der dynamischen Hüftschraube und der Antirotationsschraube im Bereich der rechten Hüfte. Die Reko-Platte wurde im Bereich des vorderen Beckenringes belassen. Im Folgejahr wurde der Kläger in der Zeit vom 29.03.2022 bis zum 15.04.2022 wegen massiver Schmerzen im Bereich der rechten Hüfte stationär in der O-Klinik in D. behandelt. Es wurde eine Hüftkopfnekrose rechts diagnostiziert und schließlich am 30.03.2022 eine Hüftgelenkstotalendoprothese (HTEP) rechts eingesetzt, was letztlich zu einer deutlichen Verbesserung der Beschwerden des Klägers führte.

Die beklagte Versicherung hat außergerichtlich auf das Schmerzensgeld einen Betrag in Höhe von 2.000,00 EUR gezahlt. Das LG hat auf die Klage auf Basis einer Haftungsquote von 25 % zur Zahlung weiterer 7.810 EUR verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Hiergegen wenden sich die Beklagten mit der Berufung, mit der sie die Abweisung der Klage verfolgen. Die Berufung hatte keinen Erfolg.

Wegen der Einzelheiten der Begründung des OLG verweise ich auf den verlinkten Volltext. Ich stelle hier nur die Leitsätze ein. Die lauten:

1. Ein erwachsener Fahrradfahrer, der verbotswidrig mit 10 – 27,5 km/h auf einem Fußweg fährt, muss sich als Geschädigter ein erhebliches unfallursächliches Verschulden von 75 % entgegenhalten lassen, wenn er eine Straße über den abgesenkten Bordstein überquert, ohne seiner Wartepflicht nachzukommen.

2. Dem rechts abbiegenden Autofahrer, der mit dem verbotswidrig den parallel zur Fahrbahn liegenden Gehweg nutzenden Radfahrer kollidiert, kann kein kausaler Verstoß gegen § 8 Abs. 1 StVO oder § 9 Abs. 1 S. 4 und Abs. 3 S. 1 StVO angelastet werden. Von diesen Regelungen wird nur der berechtigte nachfolgende Verkehr geschützt. Der Geschädigte kann für sich den besonderen Schutz aus den besonderen Abbiege- und Vorfahrtsregelungen nicht in Anspruch nehmen, wenn er als Radfahrer verbotswidrig einen parallel zur Fahrbahn liegenden Gehweg befahren hat.

3. Dem rechts abbiegenden Autofahrer kann aber ein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 Abs. 2 StVO angelastet werden, wenn er bei gehöriger Sorgfalt den Radfahrer rechtzeitig hätte erkennen und die Kollision vermeiden können. Diese Pflicht beinhaltet, sich bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt unfallverhütend zu verhalten.

4. Rechtsabbiegende Autofahrer müssen damit rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer die Straße, in die eingebogen werden soll, in verkehrswidriger queren (hier Radfahrer auf einem Gehweg in Schulhofnähe).

beA II: Wenn das beA mal wieder eine Störung hat, oder: Kein Faxgerät im Reisegepäck.

Bild von Alexa auf Pixabay

Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um das – schon etwas ältere, jetzt aber erst bekannt gewordene – OLG Karlsruhe, Urt. v. 05.10.2023 – 12 U 47/23. Ergangen ist es in einem Verfahren wegen einer Deckungsschutzzusage. Ein Versicherungsnehmer verlangt von seiner RSV Deckungsschutz für eine Schadensersatzklage gegen einen Automobilhersteller in einem „Diesel-Skandal“. Es erging ein Versäumnisurteil zu seinen Gunsten. Der Rechtsanwalt der Versicherung hat Einspruch eingelegt, allerding erst einen Tag nach Fristablauf.

Seinen Wiedereinsetzungsantrag hat er dann mit einer beA-Störung begründet, und zwar wie folgt: Er sei am Abend des Fristablaufs auswärtig untergebracht gewesen, weil er dort am nächsten Tag eine Verhandlung wahrnehmen wollte. Er habe sechs Schriftsätze erfolgreich per beA verschickt. Um 23.15 Uhr habe er den Einspruchsschriftsatz nicht mehr versenden können, weil das beA eine technische Störung hatte, die erst am nächsten Vormittag behoben worden sei. Ein Faxgerät habe er nicht zur Verfügung gehabt. Die Möglichkeit, den Schriftsatz per Computerfax zu versenden, kenne er nicht.

Das LG hat den Einspruch als unzulässig verworfen. Die Berufung dagegen hatte beim OLG Erfolg. Dieses hat Wiedereinsetzung gewährt und in der Sache teilweise zugunsten der Versicherung entschieden.

Hier interessiert nur der Wiedereinsetzungsantrag. Dazu führt das OLG aus:

„1. Der am 04.11.2022 erhobene Einspruch war zulässig und führt dazu, dass der Rechtsstreit in die Lage zurückversetzt wird, in der er sich vor Eintritt der Säumnis befand (§ 342 ZPO). Zwar war die Einspruchsfrist am 30.10.2022 abgelaufen. Der Beklagten war aber Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 233 ZPO zu gewähren.

a. Der Wiedereinsetzungsantrag wurde mit Schriftsatz vom 04.11.2022 rechtzeitig gestellt (§ 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO) und die dafür vorgetragenen Tatsachen glaubhaft gemacht (§ 236 Abs. 2 ZPO). Die Ergänzung des Tatsachenvortrags auf Hinweis des Landgerichts mit Schriftsatz vom 23.11.2022 – außerhalb der Frist nach § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO, aber innerhalb der vom Landgericht gesetzten Frist – war zulässig und ist zu beachten (vgl. BGH, Beschluss vom 17.12.2020 – III ZB 31/20, Rn. 33). Zu Recht – und unangegriffen – hat das Landgericht die zugrunde zu legenden Tatsachen daher so festgestellt wie vom Kläger vorgetragen.

b. Auf dieser Grundlage ist der Beklagten kein Verschulden an der Versäumnis der Einspruchsfrist nach § 339 Abs. 1 ZPO anzulasten (§ 233 ZPO). In Frage steht dabei im vorliegenden Fall nur ein etwaiges Verschulden des Prozessbevollmächtigten, das sich die Beklagte zurechnen lassen müsste (§ 85 Abs. 2 ZPO). Dem Beklagtenvertreter fällt aber kein Verschulden zur Last.

aa. Ein solches Verschulden liegt noch nicht darin, dass er die Frist bis zum letzten Tag ausgeschöpft hat, denn hierzu war er berechtigt (BGH, Beschluss vom 09.05.2017 – VIII ZB 5/16).

bb. Allerdings hat der Rechtsanwalt wegen des damit erfahrungsgemäß verbundenen Risikos erhöhte Sorgfalt aufzuwenden, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen. Insbesondere hat er unvorhergesehene Verzögerungen beim Versandvorgang in Rechnung zu stellen und zusätzlich zur eigentlichen Sendedauer eine ausreichende Zeitreserve einzuplanen, um gegebenenfalls durch Wiederholung der Übermittlungsvorgänge einen Zugang des zu übersendenden Schriftsatzes bis zum Fristablauf zu gewährleisten. Beginnt ein Rechtsanwalt aber am letzten Tag einer Frist so rechtzeitig mit der Übertragung, dass unter gewöhnlichen Umständen mit deren Abschluss vor 24:00 Uhr am Tage des Fristablaufs gerechnet werden konnte, verwendet er dabei ein funktionsfähiges Sendegerät und die korrekte Empfangsadresse, so hat er grundsätzlich das seinerseits Erforderliche zur Fristwahrung getan (BGH, Beschluss vom 23.10.2018 – III ZB 54/18, Rn. 9 f., zur Einreichung per Fax).

Auch insoweit ist dem Beklagtenvertreter kein Versäumnis vorzuwerfen. Der Beginn des beabsichtigten Versandprozesses bei einem ersten Login gegen 23:15 Uhr war rechtzeitig, um bei einem grundsätzlich funktionsfähigen elektronischen Übermittlungsweg auch im Fall einer unvorhergesehenen Verzögerung oder einer Wiederholung eine Übermittlung bis 24:00 Uhr sicherzustellen. Der Beklagtenvertreter hat auch durch Vorlage entsprechender Screenshots glaubhaft gemacht, dass er bis 23:55 Uhr – was gerade noch rechtzeitig hätte sein können – noch mehrmals vergeblich versucht hat, sich in seinem besonderen elektronischen Anwaltspostfach anzumelden.

cc. Entgegen dem angefochtenen Urteil liegt ein Verschulden auch nicht darin begründet, dass der Beklagtenvertreter nicht sichergestellt hat, einen zweiten Versandweg zur Verfügung zu haben (Fax) und auch nicht auf einen neuen Versandweg ausgewichen ist, den er vorher noch nicht genutzt hatte (Computerfax).

Beide Versandwege standen dem Beklagtenvertreter grundsätzlich nach § 130d Satz 2 ZPO offen, weil – wie die Beklagte glaubhaft gemacht hat – das besondere elektronische Anwaltspostfach am Abend des 31.10.2022 bis zum Morgen des 01.11.2022 gestört und ein Versand nicht möglich war. § 130d Satz 2 ZPO stellt dabei keinen Sonderfall des § 233 ZPO dar, sondern erlaubt das Ausweichen auf einen anderen Übermittlungsweg innerhalb der Frist (Jansen, in: juris-PK ERV, Stand: 30.01.2023, § 233 Rn. 38). Umgekehrt ergibt sich aus § 130d Satz 2 ZPO aber auch keine unmittelbare Verpflichtung zur Ersatzeinreichung. Ob diese möglich und zumutbar und deshalb geboten war, ist vielmehr nach dem Verschuldensmaßstab des § 233 Satz 2 ZPO und den Umständen des jeweiligen Einzelfalles zu beurteilen.

Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten bei der Übermittlung über das besondere elektronische Anwaltspostfach entsprechen denjenigen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax (BGH, Beschluss vom 30.11.2022 – IV ZB 17/22, Rn. 10). Für die (geplante) Übermittlung per Fax sind die Maßstäbe, die insoweit anzulegen sind, geklärt. Im Ausgangspunkt gilt, dass die aus den technischen Gegebenheiten herrührenden besonderen Risiken eines vom Gericht eröffneten Übermittlungswegs nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden. Deshalb darf ein Rechtsanwalt sich und seine organisatorischen Vorkehrungen darauf einrichten, einen Schriftsatz auf einem bestimmten Weg – insbesondere per Telefax – zu übermitteln. Scheitert die Übermittlung, so ist der Rechtsanwalt zunächst gehalten, im gewählten Übermittlungsweg nach Alternativen zu suchen, die sich aufdrängen. Liegt die Ursache aber in einem Defekt des Empfangsgeräts oder Leitungsstörungen, kann vom Rechtsanwalt grundsätzlich nicht verlangt werden, innerhalb kürzester Zeit eine andere als die gewählte, vom Gericht offiziell eröffnete Zugangsart sicherzustellen (BGH, Beschluss vom 17.12.2020 – III ZB 31/20, Rn. 18; BVerfG, Beschluss vom 21.06.2001 – 1 BvR 436/01, Rn. 10). Im Einzelfall kann das Ausweichen auf eine andere als die gewählte Übermittlungsart gleichwohl geboten sein, insbesondere dann, wenn der Zusatzaufwand geringfügig und zumutbar ist. Hierzu wurde in der Zeit vor Inkrafttreten der aktiven Nutzungspflicht nach § 130d ZPO höchstrichterlich entschieden, dass die Benutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs nach gescheiterter Übermittlung per Telefax jedenfalls dann kein zumutbarer, nur geringfügigen Aufwand verursachender alternativer Übermittlungsweg ist, wenn der Prozessbevollmächtigte das besondere elektronische Anwaltspostfach bisher nicht aktiv zum Versand von Schriftsätzen genutzt hat und mit seiner Nutzung nicht vertraut ist (BGH, Beschluss vom 17.12.2020 – III ZB 31/20, Rn. 26 f.; BGH, Beschluss vom 25.02.2021 – III ZB 34/20, Rn. 17; BGH, Beschluss vom 29.09.2021 – VII ZB 12/21, Rn. 31-33).

Demnach durfte sich der Beklagtenvertreter darauf einrichten, den Schriftsatz am letzten Tag der Frist über das besondere elektronische Anwaltspostfach zu übermitteln. Eine Verpflichtung, daneben stets – für den Fehlerfall – ein versandbereites Faxgerät bereitzuhalten, ergibt sich aus § 130d Satz 2 ZPO ebensowenig, wie sich aus § 130a ZPO vor Inkrafttreten des § 130d ZPO die Verpflichtung ergab, ein versandbereites besonderes elektronisches Anwaltspostfach bereitzuhalten. Zum Ausweichen auf ein Computerfax wäre der Beklagtenvertreter nur dann gehalten gewesen, wenn er diesen Weg bereits zuvor aktiv genutzt hätte und damit vertraut gewesen wäre. Letzteres war aber nicht der Fall.“

beA I: Beschwerde geht als Irrläufer beim AG ein, oder: AG leitet per Post und nicht per beA weiter

Bild von CrafCraf auf Pixabay

Heute dann zum Wochenstart zwei Entscheidungen zum beA/elektronischen Dokument.

Die erste kommt vom BGH. Sie hat folgenden Sachverhalt: In einem (familienrechtlichen) Verfahren beantragte eine Rechtsanwälting für ihre Mandantin sechs Tage vor Fristablauf per beA, die Frist zur Beschwerdebegründung erstmals um einen Monat zu verlängern. Diesen Schriftsatz sandte sie nicht an das zuständige Beschwerdegericht, sondern an die erste Instanz, das AG. Die Geschäftsstelle druckte den Antrag aus und leitete ihn per Post an das OLG weiter. Dort kam er neun Tage später an, drei Tage nach Ablauf der Begründungsfrist, an.

Das OLG hat die Beschwerde wegen Verfristung als unzulässig verworfen. Der Wiedereinsetzungsantrag der Rechtsanwältin wurde wegen Anwaltsverschulden zurück gewiesen. Begründung: Selbst, wenn der Verlängerungsantrag noch rechtzeitig beim OLG eingegangen wäre, wäre er in jedem Fall nicht formgerecht – per beA – eingereicht worden, da er – unstreitig – in Papierform beim OLG eingegangen war. Die Rechtsanwältin habe auch nicht darauf vertrauen dürfen, dass das AG ihn elektronisch weiterleiten würde.

Der BGH hat im Rechtsbeschwerdeverfahren mit dem BGH, Beschl. v. 24.10.2024 – XII ZB 411/23 – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt:

„Ausgehend hiervon hat das Beschwerdegericht rechtsfehlerfrei ein der Antragstellerin zurechenbares Verschulden ihrer Verfahrensbevollmächtigten darin gesehen, dass diese den von ihrer Mitarbeiterin gefertigten Fristverlängerungsantrag vor Versendung nicht darauf überprüft hat, ob er an das zuständige Rechtsmittelgericht adressiert war. Dass die Verfahrensbevollmächtigte diesen anwaltlichen Sorgfaltspflichten nicht genügt hat (vgl. zu den Sorgfaltsanforderungen nur BGH Beschluss vom 20. April 2023 – I ZB 83/22 – MDR 2023, 932 Rn. 11 mwN), wird von der Rechtsbeschwerde nicht in Frage gestellt.

bb) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts wird die Kausalität des Anwaltsverschuldens für die Fristversäumung jedoch dadurch ausgeschlossen, dass bei im ordentlichen Geschäftsgang erfolgender postalischer Weiterleitung des am 13. Juni 2023 beim Amtsgericht als elektronisches Dokument iSd § 113 Abs. 1 FamFG iVm §§ 130 a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, 130 d Satz 1 ZPO per beA eingegangenen Fristverlängerungsantrags dieser am 19. Juni 2023 und damit noch vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist beim Beschwerdegericht eingehen hätte müssen.

(1) Geht ein fristgebundener Schriftsatz statt beim Rechtsmittelgericht bei dem erstinstanzlichen Gericht ein, ist dieses nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich verpflichtet, den Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Dies folgt aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch des Rechtsuchenden auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip). Geht der Schriftsatz so zeitig ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, darf der Beteiligte darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch rechtzeitig beim Rechtsmittelgericht eingeht. Geschieht dies tatsächlich nicht, wirkt sich das Verschulden des Beteiligten oder seines Verfahrensbevollmächtigten nicht mehr aus, so dass ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (vgl. Senatsbeschluss vom 27. Juli 2016 – XII ZB 203/15 – FamRZ 2016, 1762 Rn. 12 mwN; BGH Beschluss vom 20. April 2023 – I ZB 83/22 – MDR 2023, 932 Rn. 14 mwN).

(2) Gemessen daran durfte die Antragstellerin darauf vertrauen, dass ihr Fristverlängerungsantrag bei einer Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist beim Beschwerdegericht eingeht. Dahinstehen kann dabei, ob die Annahme des Beschwerdegerichts zutrifft, dass die Antragstellerin eine elektronische Weiterleitung ihres Fristverlängerungsantrags nicht erwarten durfte. Denn nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts wäre im Rahmen eines ordentlichen Geschäftsgangs zu erwarten gewesen, dass bei postalischer Weiterleitung des am 13. Juni 2023 beim Amtsgericht als elektronisches Dokument iSd § 113 Abs. 1 FamFG iVm §§ 130 a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, 130 d Satz 1 ZPO per beA eingegangenen Fristverlängerungsantrags dieser am 19. Juni 2023 und damit noch vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist beim Beschwerdegericht eingegangen wäre. Damit entfällt die Kausalität des anwaltlichen Verschuldens für die Fristversäumnis.

(a) Ob die postalische Weiterleitung eines als elektronisches Dokument eingegangenen Schriftsatzes zu einem fristwahrenden Eingang des Fristverlängerungsantrags beim Beschwerdegericht führen kann, ist allerdings umstritten.

Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass es – bezogen auf den maßgeblichen Zugang beim zuständigen Beschwerdegericht – im Falle einer postalischen Weiterleitung eines per beA beim unzuständigen Gericht eingegangenen Schriftsatzes an der Wahrung der elektronischen Form iSd §§ 130 d Satz 1, 130 a Abs. 3 und 4 ZPO fehle (vgl. OLG Bamberg FamRZ 2022, 1382, 1384; VGH Baden-Württemberg Beschluss vom 6. September 2022 – 12 S 1365/22 – juris Rn. 24 zu § 55 d VwGO; so wohl auch jurisPK-ERV/Jansen 2. Aufl. § 233 ZPO Rn. 87; Anders/Gehle/Göertz ZPO 82. Aufl. § 519 Rn. 5; Musielak/Borth/Frank/Borth FamFG 7. Aufl. § 14 Rn. 2). Nach anderer Ansicht wird das Formerfordernis aus §§ 130 d Satz 1, 130 a Abs. 3 und 4 ZPO auch durch die Einreichung eines mit einer einfachen Signatur versehenen Schriftsatzes per beA bei einem nicht zuständigen Gericht erfüllt (vgl. Bacher MDR 2022, 1441, 1443; so wohl auch Müller NVwZ 2022, 1150 f. bei elektronischer Weiterleitung).

(b) Die letztgenannte Auffassung ist zutreffend…….“

Wegen der weiteren Begründung des BGH für seine Auffassung verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Verdienstausfall trotz falscher Krankschreibung?, oder: Welcher Zeitpunkt gilt?

Bild von Christian Dorn auf Pixabay

Und dann noch das BGH, Urt. v. 08.10.2024 – VI ZR 250/22. Das Urteil hat einen etwas kuriosen Sachverhalt, und zwar:

Der Kläger arbeitete in einer Waschstraße. Dort war es zu einem Unfall gekommen, und zwar der Kläger vom Auto einer Kundin erfasst und eingeklemmt worden, wobei er eine Riss- und Quetschwunde am linken Unterschenkel erlitt, die einen zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt erforderte. Ein Facharzt bescheinigte dem Kläger deswegen eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit. Diese datierte er fehlerhaft auf den Zeitraum vom 08.05.2019 – dem Tag des Unfalls – bis voraussichtlich zum 14.09.2020. Ob diese Krankschreibung über mehr als ein Jahr tatsächlich beabsichtigt oder schlicht die falsche Jahreszahl eingetragen worden ist, ist nach den Urteilsgründen des BGH nicht ganz klar. Der Kläer war jedenfalls im September 2019 wieder arbeitsfähig.

Gestritten worden ist dann um den Schadensersatzanspruch wegen Verdienstausfalls des Klägers. Er hat für die volle Zeit seiner Krankschreibung die Differenz zwischen seinem monatlichen Gehalt und dem Krankengeld, somit bis zum 14.09.2020, verlangt. Der Kläger ist davon ausgegangen, dass er sich auf die Krankschreibung habe verlassen dürfen. Das LG hat aber nur zum Ersatz des Verdienstausfalls für den Zeitraum nach Ende der Lohnfortzahlung bis zum 05.09.2019 verurteilt. Das OLG ist dem gefolgt.

Der BGH hat das OLG-Urteil aufgehoben und zurückverwiesen. Hier der Leitsatz der BGH-Entscheidung:

Der Geschädigte kann einen adäquat kausal unfallbedingten und nach § 842 BGB, § 11 StVG zu ersetzenden Verdienstausfallschaden erleiden, wenn er berechtigterweise auf die ihm ärztlicherseits bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertraut und deshalb nicht zur Arbeit geht.

Beurteilung der Erfolgsaussichten im Rechtsschutz, oder: Klärung der Rechtslage während Deckungsklage

© bluedesign – Fotolia.com

Und im „Kessel Buntes“ heute dann zwei BGH-Entscheidungen.

Die erste, das BGH, Urt. v. 05.06.2024 – IV ZR 140/23 -, hat mit den sog. Dieselverfahren – Stichwort: Abgasskandal, zu tun. Zu der Problematik habe ich ja schon länger keine Entscheidungen mehr vorgestellt. Grund ist, dass die Rechtsprechung dazu inzwischen unüberschaubar geworden ist. Auf diese Entscheidung will ich nun aber – wenn auch verspätet – eingehen.

In dem Verfahren hat der Kläger die Beklagte auf Feststellung der Verpflichtung zur Gewährung von Deckungsschutz für die außergerichtliche und erstinstanzliche Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen gegen eine Herstellerin wegen behaupteter Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung bei einem von ihm erworbenen Fahrzeug in Anspruch genommen. Der Kläger hatte bei der Beklagten eine Rechtsschutzversicherung, die Schadensersatzansprüche umfasst. Dem Versicherungsvertrag haben die Allgemeinen Rechtsschutz-Versicherungsbedingungen (ARB 2016) zugrunde gelegen. Nach deren § 3a kann die Versicherung den Rechtsschutz ablehnen, wenn ihrer Auffassung nach in einem in den Bedingungen genannten Fälle die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. In diesen Fällen ist dem Versicherungsnehmer, nachdem dieser die Pflichten gemäß § 17 Abs. 1 b) ARB 2016 erfüllt hat, die Ablehnung unverzüglich unter Angabe der Gründe schriftlich mitzuteilen.

Der Kläger hat im August 2020 ein gebrauchtes Wohnmobil zu einem Kaufpreis von 39.790 EUR erworben. Er beabsichtigte mit einer Klage gegen die Herstellerin, Schadensersatzansprüche (§§ 823 Abs. 2, 826 BGB) gerichtet auf Rückabwicklung des Kaufvertrages geltend zu machen. Er wirft der Herstellerin vor, die Verantwortlichen hätten das von ihm erworbene Fahrzeug mit unzulässigen Abschalteinrichtungen im Sinne des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007, insbesondere einem Thermofenster, ausgestattet und ihn dadurch vorsätzlich und sittenwidrig geschädigt. Die Beklagte hat die erbetene Kostenzusage mit Schreiben vom 16.02.2021 abgelehnt, weil weder ein Rechtsverstoß vorliege noch Erfolgsaussichten in der Sache bestünden.

Das LG hat die Deckungsschutzklage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das OLG unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen das erstinstanzliche Urteil abgeändert und u.a. festgestellt, dass die Beklagte aus dem Versicherungsvertrag verpflichtet ist, die Kosten der erstinstanzlichen Geltendmachung von deliktischen Schadensersatzansprüchen des Klägers gegen die Herstellerin aufgrund des Kaufs des Fahrzeugs und der von dem Kläger behaupteten Manipulation der Abgassteuerung dieses Fahrzeugs aus einem Streitwert von bis zu 38.848,89 EUR zu tragen. Dagegen richtete sich die vom OLG zugelassene Revision der Beklagten, mit der sie ihr Begehren auf vollständige Klageabweisung weiterverfolgt.

Der BGH hat die Revision des Versicherers zurückgewiesen.

Hier der Leitsatz der Entscheidung:

Erfolgt im Deckungsschutzverfahren des Versicherungsnehmers einer Rechtsschutzversicherung nach dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife eine Klärung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (hier: durch den EuGH in den sog. Dieselverfahren) zu seinen Gunsten, sind für die Beurteilung des Deckungsschutzanspruchs die Erfolgsaussichten der Klage im Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht maßgeblich.

Die Einzelheiten der Entscheidung, die ja auch in anderen Bereichen von Bedeutung sein kann, dann bitte selbst nachlesen.