Archiv der Kategorie: Verfassungsrecht

VerfG III: Ermessen und Auslagenentscheidung, oder: Ressourcenverschleuderung auf hohem Niveau

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Im dritten Posting dann etwas aus Sachsen, und zwar der VerfGH Sachsen, Beschl. v. 23.05.2024 – Vf. 22-IV-23 – mal wieder zur Ermessensausübung bei der Auslagenentscheidung nach Einstellung des (Bußgeld)verfahren. Derzeit ist häufig über (ober)gerichtliche Rechtsprechung zu berichten. Hier wurde der (ehemaligen) Betroffenen mit Bescheid des Landratsamtes vom 04.10.2022 vorgeworfen, verkehrsordnungswidrig im eingeschränkten Halteverbot geparkt zu haben. Die Betroffene legte Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein und beantragte die Einstellung des Bußgeldverfahrens. Ferner beantragte sie, ihre notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen. In der Hauptverhandlung stellte das AG Kamenz das Verfahren mit Beschluss vom 03.04.2023 nach § 47 Abs. 2 OWiG ein. Die Kosten des Verfahrens legte es der Staatskasse auf. Das AG hat aber Gericht hat davon abgesehen, auch die notwendigen Auslagen der Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.

Hiergegen hat die Betroffene Anhörungsrüge erhoben. Mit Beschluss vom 25.04.2023 hat das AG diese als unbegründet zurückgewiesen. Der Beschluss vom 03.04.2023 sei zwar ohne die Gewährung rechtlichen Gehörs ergangen. Dies sei durch die Anhörungsrüge aber nachgeholt worden. Gründe dafür, die Auslagenentscheidung zu ändern, sehe das Gericht nicht.

Die Betroffene hat Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des AG Kamenz vom 03. und 25.04.2023 eingelegt. Sie rügt eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie einen Verstoß gegen das Willkürverbot. Im Ergebnis der Beweisaufnahme hätten sich die gegen sie erhobenen Vorwürfe nicht bestätigt. Der Vorsitzende habe kein rechtliches Gehör zum beabsichtigten Vorgehen gewährt. Der Beschluss vom 03.04.2023 enthalte keinen Hinweis auf die Rechtsgrundlage für die Auslagenentscheidung und keinerlei Erwägungen zu den maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkten für eine vom Grundsatz des § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 OWiG abweichende Kostentragung nach § 467 Abs. 4 StPO. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht sich insoweit von sachfremden Erwägungen habe leiten lassen. Willkür könne im Falle des Fehlens einer Begründung schon dann vorliegen, wenn eine andere Entscheidung nahegelegen hätte und eine nachvollziehbare Begründung für das Abweichen hiervon fehle.

Die Verfassungsbeschwerde hatte teilweise Erfolg. Der VerfGH sachsen hat, soweit im Beschluss vom 03.04.2024 über die notwendigen Auslagen der Betroffenen entschieden worden ist, den Beschluss aufgehoben und die Sache an das AG Kamenz zurückverwiesen. Im Übrigen hat es die Verfassungsbeschwerde verworfen.

Der VerfGH geht von einem Verstoß gegen das Willkürverbot aus. Er legt dazu – noch einmal – die Maßstäbe dar und führt dann zur Sache aus:

„bb) Nach diesen Maßstäben verletzt die angegriffene Auslagenentscheidung die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 18 Abs. 1 SächsVerf, denn es ist nicht erkennbar, weshalb das Amtsgericht von einer Auslagenerstattung abgesehen hat, obwohl die Erstattung den gesetzlichen Regelfall darstellt.

(1) Gemäß § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG hat die nach Einstellung eines Bußgeldverfahrens zu treffende Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Betroffenen grundsätzlich dahingehend auszufallen, dass diese zu Lasten der Staatskasse gehen. Zwar kann oder muss hiervon in einigen gesetzlich geregelten Fällen abgesehen werden (§ 109a Abs. 2 OWiG, § 467 Abs. 2 bis 4 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). Der Entscheidung des Amtsgerichts über die notwendigen Auslagen lässt sich jedoch nicht einmal im Ansatz entnehmen, aus welchem Grunde diese der Beschwerdeführerin auferlegt wurden. Weder gibt es Anhaltspunkte für eine Ermessensentscheidung nach § 109a Abs. 2 OWiG noch für eine schuldhafte Säumnis der Beschwerdeführerin (§ 467 Abs. 2 Satz 2 StPO) oder eine unwahre Selbstanzeige (§ 467 Abs. 3 Satz 1 StPO) bzw. wahrheitswidrige Selbstbelastung (§ 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StPO). Da das Amtsgericht das Verfahren nach § 47 Abs. 2 OWiG und nicht wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt hat, konnte die Auslagenentscheidung auch nicht auf § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO gestützt werden.

Nach § 467 Abs. 4 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG kann ein Gericht zwar davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn es das Verfahren nach einer Vorschrift einstellt, die dies – wie § 47 Abs. 2 OWiG – nach seinem Ermessen zulässt. Dabei darf auf die Stärke des Tatverdachts abgestellt, aber ohne prozessordnungsgemäße Feststellung keine Schuldzuweisung vorgenommen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1990, BVerfGE 82, 106 [117]). Allerdings hat das Amtsgericht seine Auslagenentscheidung weder im Beschluss vom 3. April 2023 begründet noch die fehlende Begründung in seiner Entscheidung über die Anhörungsrüge vom 25. April 2023 nachgeholt (insoweit anders in den Sachverhalten, die den Beschlüssen vom heutigen Tag – Vf. 14-IV-23, Vf. 15-IV-23 – zugrunde lagen). Ungeachtet des von der Beschwerdeführerin bestrittenen Vorwurfs und der durchgeführten Hauptverhandlung enthält die angegriffene Entscheidung keine Hinweise auf die maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte für eine vom Grundsatz des § 467 Abs. 1 StPO abweichende Kostentragung gemäß § 467 Abs. 4 StPO. Anders als in Fällen, in denen eine Begründung vorhanden ist und auf ihre Vertretbarkeit geprüft werden kann, kann Willkür im Falle des Fehlens einer Begründung schon dann vorliegen, wenn eine andere Entscheidung – hier gerichtet auf die Erstattung notwendiger Auslagen als dem gesetzlichen Regelfall – nahegelegen hätte und eine nachvollziehbare Begründung für das Abweichen hiervon fehlt (vgl. BerlVerfGH, Beschluss vom 27. April 2022 – 130/20 – juris Rn. 9). Das Fehlen der Begründung einer gerichtlichen Entscheidung führt vorliegend dazu, dass ein Verfassungsverstoß nicht auszuschließen und die Entscheidung deshalb aufzuheben ist, weil erhebliche Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit bestehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 2015 – 2 BvR 2436/14 – juris Rn. 32; Beschluss vom 12. März 2008 – 2 BvR 378/05 – juris Rn. 33; Beschluss vom 25. Februar 1993 – 2 BvR 251/93 – juris Rn. 4).“

Das ist mal wieder eine der Entscheidungen, bei denen man sich verwundert die Augen reibt und den Kopf schüttelt, wenn man sie gelesen hat, und sich fragt: Wie oft denn noch? Und warum muss für eine solche Frage eigentlich ein Verfassungsgericht bemüht werden, das dann die richtige Entscheidung trifft und das AG „zwingt“, sich noch einmal mit den Fragen zu befassen. Das ist in meinen Augen Ressourcenverschleuderung auf hohem Niveau. Denn:

Warum legt das AG nicht von vornherein nach Einstellung des Verfahrens die Auslagen der Staatskasse auf bzw. warum wird die getroffene andere Entscheidung nicht begründet? Wenn einem als Amtsrichter schon Ermessen eingeräumt wird und man dieses ausübt und vom Regelfall abweicht, dann muss man das begründen. Das ist ja nun auch nichts Neues, sondern sollte ein Amtsrichter wissen; die vom VerfGH zitierte Rechtsprechung zeigt anschaulich wie „alt“ die angesprochenen Fragen sind. Und weiter fragt man sich: Wenn man nun in der Hauptverhandlung die Begründung für die abweichende Entscheidung vergessen hat, was ja passieren kann, aber an sich nicht sollte, dass ist nicht nachzuvollziehen, warum man dann nicht auf die Anhörungsrüge hin den einfachen Weg zur Reparatur der lückenhaften Ausgangsentscheidung geht und die Begründung nachholt? Nein. man geht über diese „goldene Brücke“ nicht, sondern ist vielmehr noch so frech, dass man die Betroffene bescheidet, dass man Gründe dafür, die Auslagenentscheidung zu ändern, nicht sehe. Man kann nur hoffen, dass die Entscheidung „hilft“ und der Amtsrichter sich in zukünftigen Fällen an die mehr als deutlichen Vorgaben des VerfGH hält.

Verteidigern/Rechtsanwälten kann man nur raten, den Weg zum Verfassungsgericht nicht zu scheuen und in vergleichbaren Fällen Verfassungsbeschwerde zu erheben. Man wird ja auch nicht „umsonst“ tätig. Denn die notwendigen Auslagen werden im Zweifel der Staatskasse auferlegt (so auch hier nach § 16 Abs. 3 SächsVerfGHG). Abgerechnet wird nach § 37 RVG. Den dafür erforderlichen Gegenstandswert setzt das Verfassungsgericht nach § 37 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 14 Abs. 1 RVG fest. Hier ist der Gegenstandswert auf immerhin 8.000 EUR festgesetzt worden. Billig wird es für die Staatskasse also nicht.

VerfG II: Erfolgreicher Eilantrag gegen Berufungsurteil, oder: Zu schnell geschossen beim LG Frankfurt/Main?

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Im zweiten Posting kommt dann hier der BVerfG, Beschl. v. 19.07.2024 – 2 BvR 829/24. In dem Beschluss hat das BVerfG in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren, das sich gegen ein Berufungsurteil richtet, das nach einer Verhandlung über die Berufung der Staatsanwaltschaft in Abwesenheit des Verteidigers und des Angeklagten ergangen ist, eine einstweilige Anordnung erlassen, mit der die Vollstreckung aus dem landgerichtlichen Berufungsurteil ausgesetzt worden ist.

„1. Mit Urteil vom 3. März 2023 verurteilte das Amtsgericht Frankfurt am Main den Beschwerdeführer wegen Körperverletzung und Bedrohung zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu jeweils 10,00 Euro; mit Urteil vom 17. März 2023 des Amtsgerichts Frankfurt am Main – Außenstelle Höchst – wurde der Beschwerdeführer wegen versuchter Körperverletzung in einem besonders schweren Fall zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu jeweils 40,00 Euro verurteilt.

2. Gegen diese Urteile legten die Staatsanwaltschaft und der Beschwerdeführer Berufung ein. Ihre Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 3. März 2023 nahm die Staatsanwaltschaft später zurück.

Am 11. September 2023 erklärte der Verteidiger telefonisch, der Beschwerdeführer sei erkrankt und verhandlungsunfähig; ein Attest werde nachgereicht. Das Landgericht hielt am festgesetzten Termin zur Berufungshauptverhandlung am 13. September 2023 fest. Der Beschwerdeführer erschien zu diesem Termin nicht. Auch sein Verteidiger nahm an der Berufungshauptverhandlung nach entsprechender Ankündigung nicht teil.

Nach Verwerfung der Berufung des Beschwerdeführers durch gesondertes Urteil, das nicht Gegenstand dieses Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist, verhandelte das Landgericht Frankfurt am Main zu der allein noch offenen Berufung der Staatsanwaltschaft.

Mit hier angegriffenem Urteil vom 13. September 2023 fasste das Landgericht Frankfurt am Main das Urteil des Amtsgerichts vom 17. März 2023 auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hin neu und verurteilte den Beschwerdeführer wegen Störung des öffentlichen Friedens in Tateinheit mit versuchter Nötigung in Tateinheit mit Bedrohung unter Einbeziehung zweier weiterer Verurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.

3. Die hiergegen eingelegte Revision des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 15. Mai 2024 als unbegründet. Das Oberlandesgericht sah die beiden von dem Beschwerdeführer erhobenen Verfahrensrügen, mit denen dieser die Verurteilung in seiner Abwesenheit und ohne Mitwirkung eines notwendigen Verteidigers rügte, als unzulässig an, da sie nicht in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 StPO genügenden Form begründet worden seien.

4. Die mit Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 13. September 2023 verhängte Freiheitsstrafe wird mittlerweile vollstreckt.

II.

Am 21. Juni 2024 hat der Beschwerdeführer durch seinen Prozessbevollmächtigten Verfassungsbeschwerde erhoben und den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichtet auf vorläufige Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe beantragt. Im Kern macht er geltend, die Verurteilung in seiner Abwesenheit und ohne Mitwirkung seines Verteidigers verletze sein Recht auf ein faires Verfahren.

III.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (vgl. BVerfGE 89, 38 <43 f.>; 143, 65 <87 Rn. 35>; 157, 332 <375 Rn. 68>; stRspr). Für die einstweilige Anordnung ist allerdings kein Raum, wenn sich die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist (vgl. BVerfGE 104, 23 <28>; 111, 147 <152 f.>; 157, 332 <375 Rn. 68>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 143, 65 <87 Rn. 35>; 157, 332 <377 Rn. 73>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsrechtlichen Verfahren auslöst, gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 104, 23 <27>; 158, 210 <230 Rn. 50>).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

a) Die Verfassungsbeschwerde genügt nach vorläufiger Bewertung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes den Zulässigkeitsanforderungen.

aa) Sie wurde fristgerecht erhoben und hinreichend begründet. Der Beschwerdeführer hat die Möglichkeit einer Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte substantiiert dargelegt.

bb) Der Subsidiaritätsgrundsatz dürfte der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht durchgreifend entgegenstehen. Zwar betrachtete das Oberlandesgericht die Verfahrensrügen, mit denen der gerügte Grundrechtsverstoß bereits im fachgerichtlichen Verfahren hätte ausgeräumt werden können, als unzulässig. Viel spricht indes dafür, dass das Oberlandesgericht dabei die Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 StPO überspannte. Es verlangte Vortrag zu Tatsachen, die zur Bewertung, ob der gerügte Verfahrensverstoß vorlag, nicht erheblich gewesen sein dürften.

b) Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet. Viel spricht dafür, dass die Verurteilung ohne Mitwirkung eines Verteidigers in der Berufungshauptverhandlung das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren verletzte.

aa) Das Recht auf ein faires Verfahren hat seine Wurzeln im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsrechten und Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 57, 250 <274 f.>; 122, 248 <271>; 130, 1 <25>) und gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens (vgl. BVerfGE 38, 105 <111>; 46, 202 <210>). Als unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens gewährleistet es dem Beschuldigten, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde wahrnehmen und Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können (vgl. BVerfGE 38, 105 <111>; 122, 248 <271 f.>).

bb) Nach vorläufiger Bewertung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes spricht viel dafür, dass das Landgericht die Berufungshauptverhandlung nicht ohne Mitwirkung eines Verteidigers hätte führen dürfen. Aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge – einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren – dürfte ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen haben. Der Verstoß gegen die Bestimmungen der Strafprozessordnung zur notwendigen Verteidigung stellt eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren dar, da diese Normen das Gebot fairer Verfahrensführung konkretisieren (vgl. BVerfGE 46, 202 <210>).

3. Aufgrund der damit eröffneten Folgenabwägung ist die vorläufige Aussetzung des Vollzugs der Freiheitsstrafe geboten.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht und erwiese sich die Verurteilung später als fehlerhaft, so wäre aufgrund des Vollzugs der Strafhaft ein endgültiger Rechtsverlust bei dem Beschwerdeführer eingetreten. Zeigte sich hingegen nach vorläufiger Aussetzung der Vollstreckung, dass die Verurteilung Bestand habe, so wäre die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs lediglich vorübergehend verzögert. Es sind hier auch keine Gründe ersichtlich, die Strafvollstreckung nur unter Auflagen außer Vollzug zu setzen.

IV.

Daher ist im Wege der einstweiligen Anordnung – gemäß § 32 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ohne mündliche Verhandlung – die Aussetzung der Vollziehung des Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main vom 13. September 2023 – 5/20 NBs – 6440 Js 208126/22 (31/23) – anzuordnen. Die Anordnung ist in der im Tenor bestimmten Weise befristet (§ 32 Abs. 6 Satz 1 BVerfGG).“

Ohne die Einzelheiten zu kennen: Da scheint man beim LG Frankfurt am Main ein wenig schnell geschossen zu haben.

VerfG I: BVerfG ist ab heute – 01.08.2024 – digital, oder: beA/elektronisches Dokument jetzt auch beim BVerfG

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In den neuen Monat – 01.08.2024 – starte ich mit Entscheidungen/Mitteilungen zu verfassungsgerichtlichen Entscheidungen und was damit zu tun hat.

Hier dann zunächst etwas, „was damit zu tun hat“. Denn heute ist eine Gesetzesänderung in Kraft getreten, die man im Verfassungsbeschwerdeverfahren beachten muss. Denn das BVerfG ist digital geworden.

Ab heute, dem 01.08.2024, haben Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts nämlich nicht mehr die Möglichkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren beim BVerfG verfahrensbezogene Dokumente per Post oder Telefax in analoger Form einzureichen. Die §§ 23a ff. BVerfGG sehen vielmehr jetzt für den Kreis der „Nutzer“ die „digitalen Verfassungsbeschwerde“ vor, und zwar in § 23c BVerfGG. Das elektronische Dokument muss – wie auch sonst – mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von ihr signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Sichere Übermittlungswege sind beispielsweise das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA), das elektronische Bürger- und Organisationspostfach (eBo), der Dienst „Mein Justizpostfach“ oder der Postfach- und Versanddienst eines absenderbestätigten De-Mail-Kontos. Per E-Mail können verfahrensbezogenen Dokumente nicht rechtswirksam eingereicht werden.

Informationen rund um die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs hat das BVerfG in einem Frage-Antwort-Katalog (FAQ) auf seiner Homepage bereit gestellt.

Also: Augen auf, sonst kann es Probleme bei der Verfassungsbeschwerde geben.

StPO II: Anforderungen an Durchsuchungsbeschluss, oder: Angaben zum Tatzeitraum im KiPO-Verfahren

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Im zweiten Posting dann etwas von einem Landesverfassungsgericht zur Durchsuchung, und zwar der VerfG Brandenburg, Beschl. v. 21.06.2024 – VfGBbg 35/21.

Zugrunde liegt der Entscheidung ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Der Beschwerdeführer ist sorgeberechtigter Vater seiner im Jahr 2013 geborenen Tochter. Von der ebenfalls sorgeberechtigten Kindesmutter ist er seit Januar 2016 rechtskräftig geschieden. Seit der Trennung im Februar 2014 hatte der Beschwerdeführer zunächst regelmäßig Umgang mit seiner Tochter. Ab dem Jahr 2019 war das Umgangsrecht auf Veranlassung der Kindesmutter eingeschränkt. Am 12. 012021 erstattete diese Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer, woraufhin das Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war, das zwischenzeitlich mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden ist.

Am 21.01.2021 ordnete das AG wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern die Durchsuchung der Wohn- und Geschäfts-räume, einschließlich aller Nebenräume und Kraftfahrzeuge sowie der Person des Beschwerdeführers, an. Daneben wurde die Beschlagnahme eventuell vorgefundener Beweismittel, wie Computer, Laptops, Mobiltelefone, Digitalkameras und anderer Speichermedien, angeordnet. In der Begründung des Beschlusses wird ausgeführt:

„Es besteht gegen den Beschuldigten aufgrund der bisherigen Ermittlungsergebnisse der Verdacht des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Der Verdacht beruht auf den bisherigen Ermittlungsergebnissen, insbesondere auf Zeugenaussagen sowie zur Akte gereichten Berichte. Danach besteht der Anfangsverdacht gegen den Beschuldigten, zwei Kinder mit der weiteren Be-schuldigten pp. sexuell missbraucht zu haben, wobei Teile der Taten gefilmt worden sein sollen.“

Gegen diese Durchsuchungsanordnung geht der ehemalige Beschuldigte vor. Er hat aber weder beim AG noch beim LG Erfolg. Das VerfG gibt ihm dann endlich Recht:

„….. 2. Die angegriffenen Entscheidungen tragen den aus Art. 15 Abs. 2 LV folgenden Anforderungen an die Begrenzungsfunktion von Durchsuchungsanordnungen nicht hinreichend Rechnung.

a) Der Beschluss des Amtsgerichts enthält zunächst keine Angabe zum Tatzeitraum (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfG, Beschluss vom 4. April 2017 2 BvR 2551/12 -, Rn. 21 ff., juris). Die Begründung des Beschlusses vermittelt auch sonst keine Anhaltspunkte für eine Begrenzung des Tatzeitraums. Vielmehr ermöglicht die mit dem Beschluss getroffene Anordnung der Sache nach eine Durchsuchung und Beschlagnahme von Beweismitteln für einen unbestimmten Zeitraum und wird bereits deshalb seiner Begrenzungsfunktion nicht gerecht.

b) Darüber hinaus lassen sich der Begründung des Beschlusses des Amtsgerichts keine hinreichenden tatsächlichen Angaben über das dem Beschwerdeführer konkret vorgeworfene strafrechtswidrige Verhalten entnehmen, dessen Aufklärung die An-ordnung der Durchsuchung dienen soll.

Die Beschlussbegründung erwähnt nur schlagwortartig den „Verdacht des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern“, bezieht sich auf bisherige, allerdings nicht näher beschriebene Ermittlungsergebnisse, insbesondere auf Zeugenaussagen und zur Akte gereichte Berichte, und behauptet dann formelhaft, dass nach diesen Unterlagen der Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer bestehe, zwei Kinder mit einer weiteren Beschuldigten sexuell missbraucht zu haben, wobei Teile der Tat gefilmt worden seien.

Offen erscheint danach bereits, unter welchen der in § 176a StGB geregelten Qualifikationstatbestände in der bis zum 30. Juni 2021 geltenden Fassung der Tatvorwurf einzuordnen ist. Der Beschlussinhalt lässt sich zwar dahin deuten, dass das Amtsgericht seinen Tatvorwurf auf § 176a Abs. 2 Nr. 1 a. F. StGB stützt. Danach macht sich strafbar, wer als Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich vornehmen lässt, die mit dem Eindringen in den Körper verbunden sind. An diesem Tatbestand orientierte konkrete Lebenssachverhalte werden in dem Durchsuchungsbeschluss nicht bezeichnet, obwohl dies, wie der Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts vom 12. April 2021 zeigt, ohne Weiteres mit Hilfe der in der angefochtenen Durchsuchungsanordnung bezeichneten Unterlagen möglich gewesen wäre. Entsprechende Handlungen erschließen sich jedenfalls nicht aus der Bemerkung des Amtsgerichts, Teile der Taten seien gefilmt worden.

Soweit die in dem Durchsuchungsbeschluss enthaltene – möglicherweise versehentliche – Formulierung des Betreffs („wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Wiederholungstäter“) auf § 176a Abs. 1 a. F. StGB verweist, enthält der Beschluss des Amtsgerichts keine Angaben darüber, ob der Beschwerdeführer innerhalb der letzten fünf Jahre wegen einer Straftat nach § 176 Abs. 1 oder 2 StGB rechtskräftig verurteilt worden ist. Der in der Beschlussbegrün-dung enthaltene Hinweis des Amtsgerichts, dass Teile der Taten gefilmt worden sein sollen, könnte dahingehend verstanden werden, dass sich der Tatvorwurf auch auf § 176a Abs. 3 a. F. StGB stützen soll. Insoweit fehlt es aber an Angaben dazu, ob der Beschwerdeführer als Täter oder anderer Beteiligter in der Absicht gehandelt hat, die Tat zum Gegenstand eines pornographischen Inhalts (§ 11 Abs. 3 StGB) zu machen, der i. S. d. § 184b Abs. 1 oder 2 StGB verbreitet werden soll.

c) Die beschriebenen Mängel bei der ermittlungsrichterlich zu verantwortenden Um-schreibung des Tatvorwurfs in zeitlicher und sachlicher Hinsicht konnten weder durch den Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts vom 12. April 2021 noch durch das Landgericht im Beschwerdeverfahren geheilt werden.“

„Einsatz“ des Baseballschlägers im Straßenverkehr, oder: Entziehung der Fahrerlaubnis

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Und im zweiten Posting gibt es dann mal wieder etwas zur Entziehung der Fahrerlaubnis, und zwar den VG Düsseldorf, Beschl. v. 07.05.2024 – 14 L 783/24. Die Verwaltungsbehörde hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens die Fahrerlaubnis entzogen. Dagegen die Klage mit Antrag, die aufschiebende Wirkung wieder herzustellen, den das VG abgelehnt hat. Der Betroffene hatte das wegen „erhöhten Agressionspotential“ angeforderte Gutachten nicht vorgelegt. Das VG hat den Antrag abgelehnt:

“ ….. Die materiellen Voraussetzungen für die Gutachtenanordnung lagen ebenfalls vor. Nach § 11 Abs. 3 Ziffer 6 FeV kann zur Klärung von Eignungszweifeln ein medizinisch-psychologisches Gutachten angeordnet werden bei einer erheblichen Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen.

Dabei können Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial etwa bei hoher Angriffslust und Streitsüchtigkeit oder bei impulsivem Durchsetzen eigener Interessen unter schwerwiegender Verletzung der Interessen anderer bestehen, wobei Anhaltspunkte für diese Eigenschaften ausreichen und deren Vorhandensein nicht festgestellt sein muss,

vgl. Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., 2023, § 11 FeV, Rdnr. 35d; VG Ansbach, Urteil vom 29. Oktober 2012 – 10 K 12.00455 – juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 14. November 2016 – 14 L 3473/16 – juris.

Allerdings lässt hohe Aggressionsbereitschaft nur dann Rückschlüsse auf die Kraftfahreignung zu, wenn zu besorgen ist, dass der Betreffende in konflikthaften Verkehrssituationen emotional impulsiv handelt und dadurch das Risiko einer gefährdenden Verkehrssituation erhöht,

vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 5. Juli 2012 – 11 C 12.874 – juris.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der am 00. 00 0000 geborene Antragsteller ist strafrechtlich in Erscheinung getreten. Ausweislich des rechtskräftigen Strafurteils des Landgerichts H. vom 00. 00 0000 (Az.: 00 KS-000 Js 00/00-00/00) ist der Antragsteller wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Bewährung verurteilt worden. Das Urteil führt u.a. aus:

„Am 00. 00 0000 befuhr der Angeklagte gegen 06:15 Uhr pp. den linken Fahrstreifen der Autobahn A 59 in Fahrtrichtung N.. Vor ihm fuhr der im folgenden Getötete E. J., geboren am 00. 00 0000. J. war erheblich alkoholisiert – er wies eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 2,25 Promille auf – und fuhr Schlangenlinien. Als sich der Angeklagte mit seinem Fahrzeug unmittelbar hinter J. befand, bremste dieser plötzlich ohne ersichtlichen Grund stark ab, woraufhin der Angeklagte ebenfalls stark abbremsen musste, um eine Kollision zu vermeiden. Der Angeklagte betätigte die Lichthupe und überholte J., der schließlich die linke Spur geräumt hatte. Beim Überholvorgang zeigte J. noch dem Angeklagten den Mittelfinger, was der Angeklagte auch wahrnahm. Kurz darauf nahmen beide Fahrzeuge die Ausfahrt H.-X., wobei der Angeklagte nunmehr vor J. fuhr. Im Bereich der Abbiegespur in Richtung W., unmittelbar vor der Ampelanlage in der Autobahnausfahrt, kam der Angeklagte zum Stehen. J. hielt hinter ihm. Der Angeklagte stieg aus, nahm einen ca. 60-70 cm langen Baseballschläger aus Holz, der sich in seinem Fahrzeug befand, an sich und ging auf J., welcher sein Fahrzeug ebenfalls verlassen hatte, zu. Der Angeklagte … griff mit beiden Händen den Baseballschläger, holte seitlich zum Schlag aus und schlug in Körperverletzungsabsicht auf den Körper des J., den er auch traf, … J. kam zu Fall und lag rücklings auf dem Boden, … Zu diesem Zeitpunkt schlug der Angeklagte erneut in Verletzungsabsicht mit dem Baseballschläger zu.“ Nachdem ein weiteres Fahrzeug, besetzt mit drei Personen, angekommen und die Personen ausgestiegen waren, schrie der Antragsteller den Personen zu „Das Schwein ist besoffen“ , stieg in sein Fahrzeug und fuhr davon. Der Geschädigte J. erlitt aufgrund von Komplikationen im Krankenhaus ein Multiorganversagen, dass am 13. November 2020 zum Tod führte.

Diese Straftat gibt ausreichende Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial des Antragstellers. Entgegen der Ansicht des Antragstellers steht der der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt insofern im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung und dem Straßenverkehr, als der Antragsteller aufgrund des Verhaltens eines anderen motorisierten Verkehrsteilnehmers derartig aggressiv geworden ist, dass er diesen mit einem Baseballschläger zu Boden geschlagen und weiter auf den bereits auf dem Boden liegenden eingeschlagen hat. Nachdem er geschrien hat „Das Schwein ist besoffen“ hat der Antragsteller den Geschädigten überdies auf dem Boden liegen lassen und ist davongefahren. Aufgrund der Art, Schwere und Umstände dieser Tat besteht die Gefahr, dass der Antragsteller im motorisierten Straßenverkehr in Konfliktsituationen und beim Zusammentreffen mit alkoholisierten Kraftfahrern die Rechte anderer Verkehrsteilnehmer nicht respektieren wird und auch dort eigene Bedürfnisse aggressiv durchsetzen will. Zwar geht aus dem Urteil des Landgerichts auch hervor, dass die Tat vor dem Hintergrund gesehen werden müsse, dass der Antragsteller durch den alkoholisierten Kraftfahrer an den Tod seines Bruders erinnert wurde, der im Jahr 2017 durch einen alkoholisierten Kraftfahrer ums Leben kam. Auch wenn das Gericht nicht verkennt, dass dies für den Antragsteller einen gravierenden Schicksalsschlag bedeutete, so ist es dennoch vor dem Hintergrund des Gefahrenabwehrrechts nicht zu verantworten, dass der Antragsteller den – möglicherweise nicht verarbeiteten Tod des Bruders – in aggressiver Weise in vergleichbaren Verkehrssituationen an anderen Verkehrsteilnehmern auslässt. Ob der Antragsteller den Tod des Bruders nun in einer Weise verarbeitet hat, dass er in zukünftigen Situationen nicht in ähnlicher Weise aggressiv wird, hätte durch das angeordnete Gutachten geklärt werden müssen.

Das in § 11 Abs. 3 FeV eingeräumte Ermessen hat die Antragsgegnerin angesichts der geschilderten Verurteilung richtigerweise dahingehend ausgeübt, die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen. Ein Untätigbleiben wäre bei der aufgrund der vom Antragsteller möglicherweise ausgehenden erheblichen Gefährdung des Straßenverkehrs nämlich unverantwortlich gewesen.

Die Antragsgegnerin ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass der Gutachtenaufforderung und die auf die Nichtbeibringung eines solchen Gutachtens gestützten Entziehung der Fahrerlaubnis nicht die Bestimmung des § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG entgegensteht. Nach dieser Bestimmung kann die Fahrerlaubnisbehörde in einem Entziehungsverfahren, in dem sie einen Sachverhalt berücksichtigen will, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, nicht zum Nachteil des Betroffenen vom Inhalt des Strafurteils abweichen, als sich dieses auf die Feststellung des Sachverhalts oder die Beurteilung u.a. der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht.

Mit dieser Vorschrift soll die sowohl dem Strafrichter (vgl. § 69 StGB) als auch der Verwaltungsbehörde (vgl. § 3 Abs. 1 StVG) eingeräumte Befugnis, bei fehlender Kraftfahreignung die Fahrerlaubnis zu entziehen, so aufeinander abgestimmt werden, dass Doppelprüfungen unterbleiben und die Gefahr widersprechender Entscheidungen ausgeschaltet wird. Der Vorrang der strafrichterlichen vor der behördlichen Entscheidung findet seine innere Rechtfertigung darin, dass auch die Entziehung der Fahrerlaubnis durch den Strafrichter als Maßregel der Besserung und Sicherung keine Nebenstrafe, sondern eine in die Zukunft gerichtete, aufgrund der Sachlage zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu treffende Entscheidung über die Gefährlichkeit des Kraftfahrers für den öffentlichen Straßenverkehr ist. Insofern deckt sich die dem Strafrichter übertragene Befugnis mit der Ordnungsaufgabe der Fahrerlaubnisbehörde. Während die Behörde allerdings die Kraftfahreignung aufgrund einer umfassenden Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers zu beurteilen hat, darf der Strafrichter nur eine Würdigung der Persönlichkeit vornehmen, soweit sie in der jeweiligen Straftat zum Ausdruck gekommen ist. Deshalb ist die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung auch nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruht und wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als der Strafrichter auszugehen hat. Die Bindungswirkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn die Verwaltungsbehörde den schriftlichen Urteilsgründen sicher entnehmen kann, dass überhaupt und mit welchem Ergebnis das Strafgericht die Fahreignung beurteilt hat. Deshalb entfällt die Bindungswirkung, wenn das Strafurteil überhaupt keine Ausführungen zur Kraftfahreignung enthält oder wenn jedenfalls in den schriftlichen Urteilsgründen unklar bleibt, ob das Strafgericht die Fahreignung eigenständig beurteilt hat. Dabei gilt die in § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG angeordnete Bindungswirkung nicht nur für die Maßnahme der Entziehung selbst, sondern nach ihrem Sinn und Zweck für das gesamte Entziehungsverfahren unter Einschluss der vorbereitenden Maßnahmen, so dass in derartigen Fällen die Behörde schon die Beibringung eines Gutachtens nicht anordnen darf.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. Juni 2012 – 16 B 711/12 -, juris. BVerwG, Urteil vom 15. Juli 1988 – 7 C 46.87 -, BVerwGE 80, 43; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 3. Mai 2010 – 10 S 256/10 -, VRS 119, 164 = Blutalkohol 47, 310 = juris, Rn. 3 m.w.N.

Ausgehend von diesen Grundsätzen war die Antragsgegnerin hier gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG nicht gehindert, die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Eignungsgutachtens anzuordnen und auf die Nichtvorlage gemäß § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 8 FeV mit der Entziehung der Fahrerlaubnis zu reagieren.

Allein die Tatsache, dass ein Strafgericht – wie vorliegend – anstelle einer in Betracht kommenden Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) ein Fahrverbot (§ 44 StGB) verhängt, ist regelmäßig nicht schon für sich genommen Ausdruck einer stillschweigenden Prüfung (und Bejahung) der Fahreignung, so dass nicht bereits deswegen eine Bindungswirkung entsteht,

vgl. Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., 2023, § 3 FeV, Rdnr. 59; Bay VGH, Beschluss vom 7. August 2008 – 11 CS 08.1854 – juris; OVG NRW, Beschluss vom 19. März 2015 – 16 B 55/15 – juris.

Aus den Urteilsgründen lässt sich hier eine eindeutige Feststellung zur Fahreignung des Antragstellers nicht erkennen. Das Urteil des Landgerichts H. führt dazu wörtlich aus:

„Daneben hielt die Kammer gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 StGB die Verhängung eines Fahrverbots für erforderlich, um allen Strafzwecken zu genügen. Unter Berücksichtigung des gesamten Tatbildes, der Täterpersönlichkeit und des Umstandes, dass das hier verhängte Fahrverbot gemäß § 44 Abs. 1 S. 2 StGB der Vermeidung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe dienen sollte, war nach Auffassung der Kammer ein Fahrverbot von fünf Monaten angemessen“.

Daraus wird deutlich, dass das Strafgericht nicht deshalb von einer Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB abgesehen hat, weil es den Antragsteller als fahrgeeignet angesehen hat, sondern ausschließlich aus anderen Gründen, nämlich, weil dies der Vermeidung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe dienen sollte. Eine Bindungswirkung an das strafgerichtliche Urteil kann bei einer solchen offenen Formulierung jedenfalls nicht angenommen werden. Denn Grundlage für die Frage, ob die Fahrerlaubnisbehörde an der eigenständigen Beurteilung der Fahreignung des Antragstellers gehindert ist, sollen nicht Mutmaßungen sein, sondern eindeutige Feststellungen im Urteil, an denen es indessen fehlt….“