Archiv der Kategorie: Strafvollstreckung

Pflichti III: Rechtsmittel im Vollstreckungsverfahren?, oder: Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung

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Und dann zum Schluss des Tages noch den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.04.2023 – 2 Ws 91/23 – zur Frage Anfechtbarkeit der Ablehnung der Verteidigerbestellung im Strafvollstreckungsverfahren und zur Frage der rückwirkenden Bestellung:

„Der Verurteilte wendet sich mit seinem Rechtsmittel gegen die Ablehnung seines am 23.1.2023 gestellten Antrags, ihm für das Verfahren über die Aussetzung der Vollstreckung von Freiheitsstrafen zur Bewährung einen Verteidiger beizuordnen.

Das Rechtsmittel ist unzulässig.

Dabei bedarf es vorliegend keiner abschließenden Entscheidung, ob die Entscheidung entsprechend der dahingehend von der Strafvollstreckungskammer erteilten Rechtsmittelbelehrung mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar ist. Soweit nach § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO gerichtliche Entscheidungen über die Bestellung eines Verteidigers mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar sein sollen, gilt dies allerdings – wie sich § 143 Abs. 1 StPO entnehmen lässt – unmittelbar nur bis zur Einstellung oder bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens, also nur für das strafrechtliche Erkenntnis-, nicht aber das Vollstreckungsverfahren (vgl. BT-Drs. 19/13829 S. 44; BGH NStZ-RR 2022, 357). Mangels anderweitiger gesetzlicher Regelung spricht daher mehr dafür, dass nach der allgemeinen Regelung in § 304 Abs. 1 StPO die einfache Beschwerde eröffnet ist.

Unabhängig davon ist das Rechtsmittel mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.

Der Senat hält an seiner bereits mehrfach geäußerten (Beschlüsse vom 20.7.2017 – 2 Ws 162/17, juris, vom 3.9.2021 – 2 Ws 245/21 und vom 17.1.2013 – 2 Ws 338/22, jew. n.v.), auch sonst in der obergerichtlichen Rechtsprechung (KG StraFo 2020, 326; OLG Hamburg StraFo 2020, 486; OLG Bremen NStZ 2021, 253; OLG Braunschweig, Beschluss vom 2.3.2021 – 1 Ws 12/21, juris) überwiegend vertretenen Auffassung fest, dass die Bestellung eines Verteidigers allein der Sicherung einer ordnungsgemäßen Verteidigung in einem noch laufenden Verfahren dient. Soweit mit dem Rechtsmittel das Ziel der Bestellung für das Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer verfolgt wird, kann dieser Zweck aber nicht mehr erreicht werden, nachdem das Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer, die den Beiordnungsantrag unverzüglich beschieden hat, mit der Entscheidung in der Hauptsache durch Beschluss vom 24.2.2023 abgeschlossen wurde. Soweit dem entgegengehalten wird, dass mit der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung durch das Gesetz vom 10.12.2019 (BGBl. I 2019, 2128) im Umsetzung der Richtlinie 2016/1919/EU (ABl. L 297/1) auch die Bezahlung des Rechtsbeistands gesichert werden soll (OLG Nürnberg StraFo 2021, 71; OLG Bamberg NStZ-RR 2021, 315), verfängt dies vorliegend schon deshalb nicht, weil der Regelungsbereich des Gesetzes wie der zugrundeliegenden EU-Richtlinie – wie vorstehend aufgezeigt – außer im Bereich der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf das Erkenntnisverfahren beschränkt ist.“

Pflichti I: Einiges Neues zu den Beiordnungsgründen, oder: Vollstreckung, Einziehung, Schwere der Tat u.a.

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Bevor es dann morgen noch einen „Gebührentag“ gibt und dann das Pfingstwochenende kommt, stelle ich heute erst noch einmal Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Da haben sich seit dem letzten „Pflichti-Tag“ wieder einige angesammelt.

Hier zunächst eine Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, allerdings – wie gewohnt – nur die Leitsätze:

1. In entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ist dem Verurteilten auch im Vollstreckungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten oder besondere Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen. Dies gilt auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019.

2. Zu den Gründen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Verfahren über die Reststrafenaussetzung.

1. Aus § 428 Abs. 2 StPO ergibt sich keine ausdrückliche Einschränkung dahingehend, dass der Beiordnungsantrag nicht von einem Rechtsanwalt für die Einziehungsbeteiligte gestellt werden darf.

2. Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (vgl. § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO) beurteilt sich für eine Beiordnung nach § 428 Abs. 2 StPO nicht nach der gesamten Strafsache, sondern nur nach dem Verfahrensteil, den die Einziehungsbeteiligung betrifft.

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

Erstrebt die Staatsanwaltschaft mit einer Berufung gegen ein erstinstanzliches Verfahren in einer Parallelsache, in der der Angeklagte bereits schon zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, eine (deutlich) höhere Freiheitsstrafe, sodass dem Angeklagten auch im Wege einer (ggf. nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit der Strafe aus einer etwaigen Verurteilung in dem Verfahren, in dem über eine Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden ist, insgesamt ein (deutlich) höherer Freiheitsentzug als ein Jahr drohen würde, ist ihm wegen Schwere der Tat ein Pflichtverteidiger zu bestellen, auch wenn es sich bei der Verurteilung aus dem Verfahren, in dem die Entscheidung zu treffen ist, voraussichtlich nur um eine Geldstrafe handeln wird.

Ist der „Vorgang“ wegen der Aktenführung unübersichtlich ist von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen, deren Bestehen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers als geboten erscheinen lassen kann.

Pflichti I: Etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: U-Haft im Ausland, Höhe der Strafe, Strafvollstreckung

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Heute stelle ich dann Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Es haben sich wieder einige angesammelt. Herzlichen Dank allen Kollegen für die Einsendung.

Ich beginne mit zwei Entscheidungen zu Beiordnungsgründen. Hier sind die Leitsätze zu:

1. Zur Anwendung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO, wenn zwar gegen den Beschuldigten im Ausland Untersuchungshaft vollstreckt worden ist, dem Beschuldigten aber bei einer Auslieferung nach Deutschland wegen des Spezialitätsgrundsatzes keine Untersuchungshaft droht.
2. Daher gilt, nicht schon jede zu erwartende Freiheitsstrafe, sondern erst eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe, sollte in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers geben
3. Zur verneinten Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage.

    1. Zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren.
    2. Die Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist im Vollstreckungsverfahren nicht anwendbar; insofern richtet sich die Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO analog.

StPO III: Anhörung des SV per Videokonferenz?, oder: Nicht bei Fortdauer der Unterbringung

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Und die dritte Entscheidung kommt dann aus dem Vollstreckungsverfahren, und zwar mit folgendem Sachverhalt..

Entschieden werden muss über die Fortdauer einer Unterbringung. Die StVK hat den Untergebrachten durch den beauftragten Richter mündlich angehört. Der Termin war in den Räumlichkeiten der Klinik, in der untergebracht war, anberaumt. An diesem Termin nahmen der anhörende Richter, der Untergebrachte mit seinem Verteidiger sowie zwei Gutachter der Unterbringungseinrichtung teil. Die Teilnahme des externen Sachverständigen an der Anhörung erfolgte im Wege der Bild- und Tonübertragung durch eine Videokonferenzschaltung. Mit Beschluss vom selben Tag hat die Große Strafvollstreckungskammer dann die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers angeordnet. Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner sofortigen Beschwerde. Die hat mit dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 14.03.2023 – 1 Ws 9/23 – Erfolg:

„1.Die Entscheidung der Großen Strafvollstreckungskammer leidet an dem Verfahrensfehler, dass die nach den § 463 Abs. 3 Satz 1, § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO erforderliche mündliche Anhörung des Sachverständigen in persönlicher Anwesenheit unterblieben ist, sondern lediglich im Wege der Videokonferenzschaltung stattgefunden hat.

Die Durchführung der mündlichen Anhörung im Wege der Bild- und Tonübertragung ist in der mit dem durch Art. 1 Nr. 65 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 25.06.2021 eingeführten und zum 01.07.2021 in Kraft getretenen Vorschrift des § 463e StPO geregelt (BGBl. I 2021, S. 2099). Holt das Gericht zur Vorbereitung einer Fortdauerentscheidung nach den § 67d Abs. 6, § 67e StGB ein Sachverständigengutachten ein, ist der Sachverständige gemäß § 463 Abs. 4 Satz 7, § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO mündlich zu hören. Nach § 463e Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 StPO kann das Gericht für die Durchführung der mündlichen Anhörungen des Sachverständigen vor einer nach dem Abschnitt der StPO über die Strafvollstreckung zu treffenden gerichtlichen Entscheidung bestimmen, dass sich der Sachverständige bei der mündlichen Anhörung an einem anderen Ort als das Gericht aufhält und die Anhörung zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Verurteilte aufhält, und in das Sitzungszimmer übertragen wird. Dieser mögliche Einsatz von Videokonferenztechnik im Rahmen der mündlichen Anhörung des Sachverständigen ist aber gemäß § 463e Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 StPO ausgeschlossen, wenn der Verurteilte zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt oder die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist. Wegen des besonderen Gewichts dieser, die (weitere) Vollstreckung von unbefristet angeordneten Freiheitsentziehungen betreffenden Entscheidungen sieht die Neuregelung des § 463e StPO eine mündliche Anhörung bei gleichzeitiger persönlicher Anwesenheit der Beteiligten und des Sachverständigen im selben Raum vor, während bei zeitiger Freiheitsstrafe und bei der Unterbringung in der Entziehungsanstalt die mündliche Anhörung des Sachverständigen mittels audiovisueller Übertragung ohne Weiteres zulässig ist (s. BT-Drucks. 19/27654, 115 u. 116).

Bei der hier zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist es gemäß § 463e Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 StPO unzulässig, die mündliche Anhörung des Sachverständigen im Wege der Bild- und Tonübertragung durch Zuschaltung zum Termin über Videokonferenztechnik durchzuführen.

2. Dieser Verfahrensfehler führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 309 Rn. 8).“

BVerfG II: Aussetzung des Strafrestes nach 50 Jahren, oder: Begründungstiefe bei lebenslanger Strafe

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Im zweiten Posting weise ich dann hin auf den BVerfG, Beschl. v. 24.02.2023 – 2 BvR 117/20 u. 2 BvR 962/21. Es handelt sich um erfolgreiche Verfassungsbeschwerden gegen Ablehnungen von Anträgen auf Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe zur Bewährung u.a. durch das LG bzw. OLG Koblenz.

Auch hier beziehe ich mich wegen der Länge der Entscheidung auf die Pressemitteilung Nr. 39/2023 des BVerfG v. 31.03.2023, zumal die den Beschluss m.E. auch sehr schön zusammenfasst:

„Mit heute veröffentlichten Beschlüssen hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts den Verfassungsbeschwerden eines im Jahr 1972 wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilten Häftlings stattgegeben. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen fachgerichtliche Entscheidungen, mit denen die Aussetzung des Strafrestes einer seit mehr als 47 Jahren vollzogenen lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung abgelehnt wurde.

Die angegriffenen Entscheidungen der Fachgerichte verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG), weil die Fortdauer der Freiheitsentziehung nicht in einer Weise begründet worden ist, die den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügt.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer, ein wegen Mordes an einer Frau und deren Tochter rechtskräftig zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe Verurteilter, befand sich seit Juni 1970 in Untersuchungs- und sodann in Strafhaft. Nachdem er die Taten zunächst eingeräumt hatte, widerrief er in der Folgezeit sein Geständnis.

Ab dem Jahr 1991 befand sich der Beschwerdeführer im offenen Vollzug. In den folgenden Jahren wurde er jedoch mehrfach in den geschlossenen Vollzug zurückverlegt, weil bei ihm wiederholt pornografisches Material und weitere unerlaubte Gegenstände aufgefunden worden waren.

Im Jahr 1997 stellte das Landgericht Koblenz fest, dass die besondere Schwere der Schuld des Beschwerdeführers die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht mehr gebiete. Eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung lehnte es gleichwohl ab, da eine günstige Gefahrenprognose nicht gestellt werden könne.

Mit angegriffenem Beschluss vom 17. Mai 2019 lehnte das Landgericht Koblenz einen Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung ab. Es bestehe eine geringe Gefahr, dass der Beschwerdeführer künftig schwere Straftaten begehen werde. Er sei aufgrund seiner rigiden Verweigerungshaltung in Bezug auf die sexuelle Devianz nicht hinreichend einschätzbar. Verbleibende Zweifel hinsichtlich einer günstigen Prognose gingen zu seinen Lasten.

Mit angegriffenem Beschluss vom 9. Dezember 2019 verwarf das Oberlandesgericht Koblenz die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde als unbegründet. Zugunsten des Beschwerdeführers spreche zwar, dass er sich seit März 2017 wiederum im offenen Vollzug bewährt habe. Dem stehe aber die fehlende Aufarbeitung der Anlasstaten gegenüber. Dass die Persönlichkeitsdefizite, die auch den Anlassmorden zugrunde gelegen hätten, unbearbeitet seien, müsse sich prognostisch ungünstig auswirken. Weiterhin sei ein sozialer Empfangsraum, der ausreichende Kontrollmöglichkeiten biete, bislang nicht vorhanden.

Mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 22. Januar 2021 lehnte das Landgericht Koblenz wiederum die Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe ab. Auch die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Koblenz erneut mit Beschluss vom 29. April 2021 als unbegründet.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die zulässigen Verfassungsbeschwerden sind offensichtlich begründet. Die fachgerichtlichen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.

1. a) Ob im Einzelfall die weitere Vollstreckung einer rechtskräftig ausgesprochenen lebenslangen Freiheitsstrafe nach § 57a Strafgesetzbuch (StGB) zur Bewährung auszusetzen ist, ist eine Frage der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts. Das Bundesverfassungsgericht prüft fachgerichtliche Entscheidungen nicht in jeder Hinsicht nach und hat insbesondere nicht seine eigene Wertung des Einzelfalls nach Art eines Rechtsmittelgerichts an die Stelle derjenigen des zuständigen Richters zu setzen. In derartigen Fällen lässt sich vielmehr eine Grundrechtsverletzung nur feststellen, wenn der zuständige Vollstreckungsrichter entweder nicht erkannt hat, dass in seine Abwägung Grundrechte einwirken, oder wenn seine Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung dieser Grundrechte beruht.

b) Bei der Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedarf es von Verfassungs wegen einer Gesamtwürdigung, die die von dem Verurteilten ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs ins Verhältnis setzt. Auf der einen Seite verlangt die im Rahmen der Aussetzungsentscheidung zu treffende Prognose die Verantwortbarkeit der Aussetzung mit Rücksicht auf unter Umständen zu erwartende Rückfalltaten. Auf der anderen Seite hat dabei der grundsätzliche Freiheitsanspruch des Verurteilten wegen der regelmäßig zurückgelegten langen Haftzeit großes Gewicht. Je höherwertige Rechtsgüter in Gefahr sind, desto geringer muss das Rückfallrisiko sein.

c) Darüber hinaus folgen aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfahrensrechtliche Anforderungen, die mit zunehmender Dauer der Freiheitsentziehung steigen. Vor allem wenn die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht mehr gebietet, hat sich das Vollstreckungsgericht bei einer Aussetzungsentscheidung von Verfassungs wegen um eine möglichst breite Tatsachenbasis zu bemühen und die für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte näher darzulegen. Mit zunehmender Dauer einer Freiheitsentziehung verengt sich der Bewertungsrahmen des Strafvollstreckungsrichters und wächst die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht. Sie verfehlen die sich aus der sehr langen Dauer der Freiheitsentziehung ergebenden Anforderungen an die Begründungstiefe der Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes der lebenslangen Freiheitsstrafe.

2. a) Die Fachgerichte verhalten sich bereits nicht zu dem Lebensalter des Beschwerdeführers und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten. Dabei ist davon auszugehen, dass angesichts der außerordentlichen Länge der Vollzugsdauer die Gefahr künftiger (Sexual-) Straftaten von nur geringem oder mittlerem Gewicht einer Aussetzung des Strafrestes der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung nicht mehr entgegenstehen dürfte.

Selbst wenn das im Zeitpunkt der Begehung der Anlassdelikte im Jahr 1970 zutage getretene Persönlichkeitsdefizit in Form einer sexuellen Devianz und gesteigerten sexuellen Verlangens unbearbeitet geblieben ist, kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass die sexuelle Dranghaftigkeit des Beschwerdeführers in seinem hohen Alter in einem Maße fortbesteht, dass die Wahrscheinlichkeit der Begehung vergleichbarer, gegen das Leben gerichteter (Sexual-) Straftaten als gegeben angesehen werden kann.

b) Nichts Anderes ergibt sich, soweit die Fachgerichte darauf verweisen, die besondere Dranghaftigkeit des Beschwerdeführers sei während seiner Inhaftierung immer wieder zum Vorschein gekommen, da sämtliche Regelverstöße im Zusammenhang mit seiner Sexualität gestanden hätten.

Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Besitz der aufgefundenen Gegenstände für sich genommen keinen Aufschluss über die Gefahr künftiger besonders schwerer (Sexual-) Straftaten zu geben vermag. Zudem liegen keine Hinweise vor, dass der Beschwerdeführer während der mehrjährigen Phasen des offenen Vollzugs Straftaten begangen hat. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer den seit 2017 erneut angeordneten offenen Vollzug – soweit ersichtlich – bisher beanstandungsfrei absolviert hat.

c) Nicht nachvollziehbar sind darüber hinaus die Ausführungen des Landgerichts Koblenz zur Bewertung des Umstands, dass der Beschwerdeführer zwei Langzeitausgänge ordnungsgemäß durchgeführt hat. Das Landgericht beschränkt sich auf die Feststellung, der Beschwerdeführer habe erkannt, dass eine Entlassung perspektivisch nur realisierbar sei, wenn er sich beanstandungsfrei führe. Es sei daher davon auszugehen, dass er auch künftige Langzeitausgänge beanstandungsfrei absolvieren werde. Das Landgericht misst damit der erfolgreichen Durchführung von angeordneten Lockerungsmaßnahmen keinerlei Aussagewert zu. Dies ist mit dem Grundsatz, dass Vollzugslockerungen für eine zutreffende Prognoseentscheidung eine besondere Bedeutung zukommt, nicht vereinbar.

d) Schließlich setzen sich die Fachgerichte unzureichend mit der Frage einer möglichen Reduzierung des verbliebenen Risikos der Begehung erneuter (Sexual-) Straftaten des Beschwerdeführers durch die Erteilung von Auflagen und Weisungen im Rahmen einer Aussetzung des Vollzugs der Freiheitsstrafe zur Bewährung auseinander.

Sie beschränken sich insoweit auf die Feststellung, dass ein geeigneter sozialer Empfangsraum fehle, weil der Beschwerdeführer nicht bereit sei, eine Unterbringung in einer betreuten Wohnform außerhalb des ihm bekannten sozialen Umfelds zu akzeptieren, und es an einem entsprechenden Angebot fehle.

Die Gerichte lassen dabei außer Betracht, dass der gerichtlich beauftragte Sachverständige ausgeführt hat, dass der Beschwerdeführer kein impulsiv handelnder Straftäter sei. Das Restrisiko weiterer Straftaten könne daher durch geeignete Weisungen reduziert werden. Als solche seien eine regelmäßige sozialarbeiterische Betreuung mit kontrollierenden Funktionen, die Untersagung des Besitzes von Gegenständen, die für voyeuristische Zwecke eingesetzt werden können, und eine dahingehende regelmäßige Kontrolle der Wohnung in Betracht zu ziehen.

Diesen Ausführungen kann nicht entnommen werden, dass aus Sicht des Sachverständigen die Überführung in eine betreute Wohnform die einzige Möglichkeit darstellt, um im Rahmen eines Entlassungssettings die Gefahr künftiger schwerer (Sexual-) Straftaten des Beschwerdeführers auf das unvermeidbare Mindestmaß zu reduzieren.

Vor diesem Hintergrund wäre es Sache der Fachgerichte gewesen, sich mit der Möglichkeit einer Reststrafenaussetzung unter ausreichend risikominimierenden Auflagen gesondert zu befassen. Es erscheint – nicht zuletzt auch wegen der erfolgreich absolvierten Langzeitausgänge – nicht von vornherein ausgeschlossen, dass angesichts der dem Beschwerdeführer durch den Sachverständigen attestierten fehlenden Impulsivität die Möglichkeit besteht, durch Bewährungsauflagen eine begleitende und kontrollierende Struktur zu schaffen, die die Gefahr erneuter, gegen das Leben gerichteter Sexualstraftaten auf das unvermeidbare Mindestmaß beschränkt.“

Auch hier: Es hat gedauert. Zwar nicht so lange wie bei den Beschlüssen über die Vorratsdatenspeicherung, aber es sind auch hier vier bzw. drei Jahre. Das ist m.E. zu lang, zumal es ja hier auch um (Straf)Haft geht.

In der Sache hat das BVerfG Recht, wenn es eine bessere Begründung solcher Beschlüsse fordert. Die Strafvollstreckungskammern und die OLG wird das freuen 🙂 .