Archiv der Kategorie: Verfahrensrecht

Haft I: Beschleunigungsgebot gilt auch in der Revision, oder: Wenn der BGH „bummelt“, rüffelt das OLG

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Und dann starte ich in die neue Woche mit zwei Entscheidungen zum Haftrecht.

Ich stelle zunächst den OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 06.06.2024 – 1 Ws 159/24. Das OLG hat einen (schon) außer Vollzug  U-Haftbefehl wegen Verstoßes gegen Beschleunigungsgebot im Revisionsverfahren aufgehoben. Aber diese Mal nicht wegen einer „Bummelei“ beim LG oder OLG, sondern – wie das OLG – meint beim BGH. Ich wage mal die Behauptung, dass man das beim BGH nicht so gern lesen wird.

Folgender SachverHalt: Der Angeklagte befand sich in dieser Sache in der Zeit vom 16.01.2018 bis zum 03.04.2024 in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 03.04.2024 setzte eine Strafkammer den Vollzug des Haftbefehls gegen zahlreiche Auflagen und Weisungen außer Vollzug.

Dem war vorausgegangen, dass der Angeklagte am 18.06.2019 – unter Freisprechung im Übrigen – vom LG Frankfurt am Main wegen vollendeten und versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitstrafe von zehn Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden war. Auf die Revision des Angeklagten hatte der BGH mit Beschluss vom 16.09.2020 (es dürfte sich um 2 StR 529/19 gehandelt haben) sämtliche Einzelstrafen, die Gesamtstrafe und die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aufgehoben. Das LG Frankfurt am Main  hat den Angeklagten sodann am 15.07.2021  zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH mit Beschluss vom 24.10.2023 das Urteil aufgehoben  und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer eines anderen LG zurückverwiesen (es dürfte sich um 2 StR 33/22 gehandelt haben).

Die Kammer hat auf Antrag des Angeklagten den Vollzug des Haftbefehls mit Beschluss vom 03.04.2024 ausgesetzt. Dagegen hat die GStA Beschwerde eingelegt. Die hatte nicht nur keinen Erfolg, sondern das OLG hat sogar zur Aufhebung des Haftbefehls geführt:

„Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls ist – was von der Generalstaatsanwaltschaft übersehen wird – vorliegend indes nicht gerechtfertigt, weil das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz MRK folgende Beschleunigungsgebot verletzt ist. Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. nur BVerfG, BeckRS 2007, 33088). Grundsätzlich kann daher die Untersuchungshaft zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vorliegt. Allerdings vergrößert sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs gegenüber dem Freiheitsrecht des Untersuchungsgefangenen, wenn der Schuldspruch – wie hier – rechtskräftig ist, da bei dieser Verfahrenslage die Unschuldsvermutung nicht mehr gilt. In solchen Fällen kommt es für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit daher nicht mehr allein darauf an, ob es zu einer sachlich nicht zu rechtfertigenden, vermeidbaren und erheblichen, von dem Angeklagten nicht zu vertretenden Verfahrensverzögerung gekommen ist, sondern es sind auch die zu erwartende Strafe und der Grad des die Justiz an der Verfahrensverzögerung treffenden Verschuldens zu berücksichtigen (OLG Köln, Beschluss vom 22. April 2005 – 2 Ws 151/05 mN).

Wie der Senat in seinen Beschlüssen vom 29. Januar 2019 (…) und 25. Mai 2021 (…) ausgeführt hat, ist das Verfahren bis dahin entsprechend dem Beschleunigungsgebot hinreichend gefördert worden. Auch danach sind bis zur Verkündung des Urteils am 15. Juli 2021 und Vorlage der Akten an den Bundesgerichtshof keine erheblichen Verfahrensverzögerungen zu verzeichnen.

Es war das – unter Wiedergabe der rechtskräftigen Feststellungen der (…) Strafkammer auf 94 Seiten – 135 Seiten umfassende Urteil abzusetzen, das Rechtsanwalt A am 06. Oktober 2021 und Rechtsanwalt B am 07. Oktober 2021 zugestellt wurde. Die Revisionsbegründung von Rechtsanwalt B ging am 05. November 2021 beim Landgericht ein, die von Rechtsanwalt A ebenso wie die von Rechtsanwalt C am 08. November 2021. Eine weitere Revisionsbegründung erfolgte am 25. November 2021 durch Rechtsanwalt B. Am 30. Oktober 2021 ging die Revisionsgegenerklärung der Generalstaatsanwaltschaft beim Landgericht ein. Am 14. Dezember 2021 verfügte der Vorsitzende die Übersendung der Akten an die Staatsanwaltschaft. Am 13. Januar 2022 fertigte die Generalsstaatsanwaltschaft den Übersendungsbericht an den Generalbundesanwalt, wo die Akten am 19. Januar 2022 eingingen. Der Antrag des Generalbundesanwalts vom 01. Februar 2022 ging mit den Akten am 02. Februar 2022 beim Bundesgerichtshof ein. Dort bestimmte der Vorsitzende am 28. Februar 2022 den Beisitzer. Mit Schriftsätzen vom 17. Februar 2022 und vom 18. Juli 2022 gaben die Verteidiger gemäß § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO Gegenerklärungen zu dem Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts (§ 349 Abs. 2 StPO) ab.

Am 24. Oktober 2023 entschied der Bundesgerichtshof durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 4 StPO über die Revision des Angeklagten. Bis dahin ist seit Eingang der letzten Gegenerklärung eine Verfahrensverzögerung von mindestens zehn Monaten zu verzeichnen. Zwar lässt sich aus dem Umstand, dass das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen für das gesamte Strafverfahren gilt und auch im Rechtsmittelverfahren bei der Prüfung der Anordnung der Fortdauer von Untersuchungshaft zu beachten ist (BVerfG, Beschlüsse vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05 und vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10, jeweils mN), nicht ableiten, dass der im Revisionsverfahren mit der Sache befasste Bundesgerichtshof den mit der Haftfrage befassten Gerichten der Landesjustiz umfassend Rechenschaft zu legen hätte (BGHSt 63, 75, 78 ff.). Vielmehr hat der Bundesgerichtshof das Beschleunigungsgebot in Haftsachen eigenständig zu wahren, was auch umfasst, dass er etwaige Verfahrensverzögerungen im Revisionsverfahren dem Gericht, dem die Haftkontrolle obliegt, anzeigt (BGH a.a.O.). Dies ist vorliegend geschehen, denn der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 24. Oktober 2023 darauf hingewiesen, dass der Tatrichter bei seiner Rechtsfolgenentscheidung die lange Dauer des Revisionsverfahrens zu berücksichtigen habe. Der Senat versteht diesen Hinweis dahin, dass der Bundesgerichtshof eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren bejaht, die im weiteren Verfahrensgang zu berücksichtigen ist. Die Dauer der Verfahrensverzögerung zwischen dem Eingang der letzten Gegenerklärung und der Beschlussfassung bemisst der Senat mit mindestens zehn Monaten. Dies vor dem Hintergrund, dass der Bundesgerichtshof für seine Entscheidung vom 16. September 2020 seit dem Eingang der letzten Gegenerklärung am 21. April 2020 etwa fünf Monate benötigt hat. Der Bundesgerichtshof hatte seinerzeit sowohl den Schuldspruch als auch Teile des Rechtsfolgenausspruchs zu überprüfen. Da der Bundesgerichtshof bei seiner Entscheidung vom 24. Oktober 2023 lediglich den Rechtsfolgenausspruch zu überprüfen hatte und bei der Entscheidung drei Richter mitgewirkt haben, die auch an der ersten Entscheidung beteiligt waren, kann eine Bearbeitungsdauer allenfalls noch in einem Umfang als angemessen angesehen werden, wie sie auch für die erste Entscheidung benötigt worden ist. Dies sind fünf Monate, so dass die zwischen dem 18. Juli 2022 und 24. Oktober 2023 liegenden 15 Monate eine Verfahrensverzögerung von mindestens zehn Monaten umfassen. Hinzu kommt, dass dem Senat nicht nachvollziehbar ist, weshalb der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 24. Oktober 2023 erst gut zwei Monate später ausgefertigt und erst am 16. Januar 2024 an die Beteiligten übersandt wurde. Der Senat sieht insoweit eine weitere zu berücksichtigende Verfahrensverzögerung von etwa zwei Monaten, so dass insgesamt der Justiz anzulastende nicht zu rechtfertigende Verfahrensverzögerungen von etwa einem Jahr festzustellen sind.

Die zu erwartende Strafe kann unter Berücksichtigung der bereits gegen den Angeklagten vollzogenen, anrechenbaren Untersuchungshaft von sechs Jahren und knapp drei Monaten nicht mehr als erheblich angesehen werden. Ausgehend von der zuletzt gegen ihn verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten dürfte unter Berücksichtigung der vom Bundesgerichtshof für erforderlich erachteten Prüfung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zu den jeweiligen Tatzeiten und einer sich daraus möglicherweise ergebenden Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 StGB sowie der überlangen Verfahrensdauer im Revisionsverfahren eine Strafe von mehr als sieben Jahren und weniger als acht Jahren Freiheitsstrafe zu erwarten sein, so dass allenfalls noch ein Strafrest von zehn Monaten bis zu einem Jahr und acht Monaten zu vollstrecken sein wird. Ob die Anordnung der Sicherungsverwahrung erneut in Betracht kommt, wird mit Blick auf das Ergebnis des vom Landgericht Wiesbaden in Auftrag gegebenen neuen Sachverständigengutachtens abzuwarten bleiben.

Die Abwägung zwischen dem Grundrecht des Angeklagten auf Wahrung seiner persönlichen Freiheit und dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung sowie -vollstreckung rechtfertigt angesichts der erheblichen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und der Dauer der bislang vollzogenen Untersuchungshaft von mehr als sechs Jahren die Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr.“

Irgendwie hat man den Eindruck, dass sich der BGH und das OLG Frankfurt am Main in Haftsachen nicht ganz grün sind, denn – ich meine – dass es bereits ähnliche Entscheidungen aus Frankfurt gibt, in denen das OLG den BGH „rüffelt“. Andererseits ist die Entscheidung des OLG aber auch nachvollziehbar. Denn man kann nicht auf die LG „einprügeln“ und Druck machen, dass die Verfahren möglichst beschleunigt erledigt werden, wenn dann eine Strafmaßrevision vom 0202.2022 bsi zum 24.10.2023 beim BGH liegt, bevor entschieden wird und der BGH dann fast drei Monate braucht, um den Beschluss vom 24.10.2023 zu begründen und auszufertigen. Das sind/waren knapp vier Seiten Text.

Strafe III: Einbeziehung der Gerichtshilfe „vergessen“, oder: Kein schwerer Verfahrensfehler?

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Und als dritte Entscheidung stelle ich den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 02.07.2024 – 18 Qs 22/24 – vor, und zwar noch einmal. Über den Beschluss habe ich bereits wegen der auch angesprochenen Zustellungsproblemati berichtet (vgl. hier: StPO III: Immer wieder Zustellungsproblematik, oder: Vollmacht, ZU-Bevollmächtigter, Ersatzzustellung).

Jetzt stelle ich die Entscheidung vor wegen der Ausführungen des LG zur vom AG unterlassenen Einbeziehung der Gerichtshilfe nach § 463d Satz 2 Nr. 1 StPO:

„Zwar hat das Amtsgericht entgegen der seit dem 01.10.2023 geltenden Fassung des § 463d Satz 2 Nr. 1 StPO eine Einbeziehung der Gerichtshilfe vor seiner Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung nicht erkennbar erwogen. Eine Aufhebung und Rückverweisung der Sache war gleichwohl ebenso wenig veranlasst wie eine Nachholung der Einbeziehung der Gerichtshilfe durch die Beschwerdekammer.

1.a) § 463d StPO hatte bis zum 30.09.2023 folgenden Wortlaut:

„Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen; dies kommt insbesondere vor einer Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung des Strafrestes in Betracht, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist.“

Seit dem 01.10.2023 hat § 463d StPO folgenden Wortlaut:

„Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen. Die Gerichtshilfe soll einbezogen werden vor einer Entscheidung
1. über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung eines Strafrestes, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist,
2. über die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, um die Abwendung der Anordnung oder Vollstreckung durch Zahlungserleichterungen oder durch freie Arbeit zu fördern.“

Im Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 30.12.2022 (Drucksache 687/22) bzw. vom 06.03.2023 (Drucksache 20/5913) war folgende Formulierung vorgeschlagen:

„Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen. Dies kommt insbesondere in Betracht vor einer Entscheidung
1. über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung eines Strafrestes, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist,
2. über die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, um die Abwendung der Anordnung oder Vollstreckung durch Zahlungserleichterungen oder durch freie Arbeit zu fördern.“

In der Begründung hierzu heißt es (Seiten 86/87 bzw. 75/76):

„Derzeit enthält § 463d StPO eine konkretisierende Regelung zur Einschaltung der Gerichtshilfe nur für den Fall des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung. Dieser Regelungsgehalt soll beibehalten und in den neuen Satz 2 Nummer 1 überführt werden.

Durch die neue Nummer 2 soll der Vollstreckungsbehörde ausdrücklich nahegelegt werden, die Gerichtshilfe auch vor der Entscheidung über die Anordnung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafe einzuschalten, um die Bereitschaft der verurteilten Person zu Ratenzahlungen oder gemeinnützigen Arbeitsleistungen zu fördern und so die Anordnung oder Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe so weit wie möglich zu vermeiden. Die Einschaltung der Gerichtshilfe, mit der zugleich die Hinweispflicht des neuen § 459e Absatz 2 Satz 2 StPO-E erfüllt werden kann, soll aber im Ermessen der Vollstreckungsbehörde stehen und kann unterbleiben, etwa, wenn die verurteilte Person das Angebot von Zahlungserleichterungen oder der Ableistung freier Arbeit bereits endgültig abgelehnt hat. In Fällen, in denen beispielsweise ein freier Träger die Beratung der verurteilten Person im Wege der aufsuchenden Sozialarbeit übernommen hat, wie dies derzeit bereits in einigen Ländern praktiziert wird, kann sich die Einschaltung der Gerichtshilfe auch darauf beschränken, die dafür notwendigen personenbezogenen Daten an den freien Träger zu übermitteln (siehe vorstehend zu Nummer 3 Buchstabe b). Im Übrigen wird zu Hintergrund und Zweck der Regelung auf die Ausführungen im Allgemeinen Teil unter I. 1. Buchstabe c und II. 1. vor Buchstabe a verwiesen.“

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) vom 26.05.2023 (Drucksache 20/7026) schlugen jedoch folgenden Wortlaut vor (Hervorhebung durch das Gericht):

„Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen. Die Gerichtshilfe soll einbezogen werden vor einer Entscheidung
1. über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung eines Strafrestes, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist,
2. über die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, um die Abwendung der Anordnung oder Vollstreckung durch Zahlungserleichterungen oder durch freie Arbeit zu fördern.“

Die Fraktion der SPD hatte zur Begründung wie folgt ausgeführt:

„Mit der im Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen vorgeschlagenen Anpassung des § 463d Satz 2 StPO soll ein intendiertes Ermessen festgeschrieben werden, damit die Gerichtshilfe in den Fällen des § 463d Satz 2 Nr. 1 und 2 StPO-E im Regelfall einbezogen werde.“

Die Fraktion der CDU/CSU hatte dem entgegnet:

„Auch im Hinblick auf die vorgeschlagene Änderung des § 463d StPO komme ein gewisses Misstrauen gegenüber den Gerichten zum Ausdruck, weil der Entscheidungsspielraum zur Frage der Einbindung der Gerichtshilfe eingeschränkt werde.“

Am 22.06.2023 wurde der Gesetzentwurf in der in Kraft getretenen Form mit den Stimmen der Regierungskoalition unter Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der AfD-Fraktion angenommen und im Bundesgesetzblatt vom 02.08.2023 veröffentlicht.

b) § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO enthält eine gleichgelagerte Sollvorschrift für die Form der Anhörung des Verurteilten:

„Hat das Gericht über einen Widerruf der Strafaussetzung wegen Verstoßes gegen Auflagen oder Weisungen zu entscheiden, so soll es dem Verurteilten Gelegenheit zur mündlichen Anhörung geben.“

Die mündliche Anhörung ist dort zwingend, wenn eine weitere Aufklärung des Sachverhalts möglich erscheint und ihr keine schwerwiegenden Gründe entgegenstehen (vgl. KK-StPO/Appl, 9. Aufl. 2023, StPO § 453 Rn. 7; MüKoStPO/Nestler, 1. Aufl. 2019, StPO § 453 Rn. 11; BeckOK StPO/Coen, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 453 Rn. 7; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 453 StPO, Rn. 16). Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Verurteilte beachtenswerte Gründe für die Nichterfüllung haben kann, aber nicht in der Lage ist, diese Gründe in einer das Gericht überzeugenden Weise schriftlich darzustellen (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf des 23. StrÄndG – BT-Drucksache 370/84 vom 24.08.1984). Das Gesetz will dort damit von vornherein der Gefahr begegnen, dass schwerwiegende Widerrufsentscheidungen ohne zureichende Tatsachengrundlage ergehen. Die Ausgestaltung als Sollvorschrift eröffnet dem Gericht lediglich die Möglichkeit, von der grundsätzlich zwingend gebotenen mündlichen Anhörung aus schwerwiegenden Gründen abzusehen, anderenfalls ein schwerwiegender Verfahrensmangel vorliegt, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung führt (statt vieler Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 15.12.2008 – 1 Ws 212/08).

c) aa) Die Einführung dieser Soll-Regelung in § 463d Satz 2 StPO macht die Einbeziehung der Gerichtshilfe für die dort genannten Fälle – insbesondere bei Entscheidungen der nach § 462a Abs. 2 StPO zuständigen Gerichte, wo in der Mehrzahl kein Bewährungshelfer bestellt ist – bei einer Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung seit dem 01.10.2023 zum Regelfall und zwingend. Die Nichteinbeziehung der Gerichtshilfe ist in den dort genannten Fällen nun begründungsbedürftig und damit implizit justiziabel (Pollähne in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 463d StPO, Rn. 2). Sie kann jedoch unterbleiben, wenn sie keinerlei zusätzlichen Erkenntnisse oder Erfolgsaussichten verspricht oder ihr zwingende Gründe entgegenstehen. Vertreten wird, dass die Nichteinschaltung der Gerichtshilfe – wie bei § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO – aber ermessensfehlerhaft sei und einen Verfahrensfehler begründen könne, der in Abweichung von § 309 Abs. 2 StPO eine Aufhebung und Rückverweisung rechtfertigen könne (BeckOK StPO/Coen, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 463d Rn. 4; KK-StPO/Appl, 9. Aufl. 2023, StPO § 463d Rn. 3).

bb) Eine dahingehende Differenzierung zwischen einem Widerruf der Strafaussetzung wegen der in § 56f Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 3 StGB genannten Verstöße, bei denen die Einbeziehung der Gerichtshilfe zu erfolgen hätte, und solchen der Begehung einer Straftat in der Bewährungszeit nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB, bei der von ihrer Einbeziehung abgesehen werden könnte, ist nach dem Gesetzeswortlaut nicht zulässig, der nur von „Widerruf der Strafaussetzung“ spricht und gerade nicht differenziert. Aus dem Umstand, dass die Sätze 2 und 4 in § 453 Abs. 1 StPO ausdrücklich differenzieren und die mündliche Anhörung nur im Fall eines „Verstoßes gegen Auflagen oder Weisungen“ vorsehen, hingegen die Neufassung in § 463d Satz 2 Nr. 1 StPO nicht in gleicher Weise verfährt, ist zu schließen, dass der Gesetzgeber dort eine entsprechende Differenzierung gerade nicht anstrebte, sondern die Einbeziehung der Gerichtshilfe in allen Fällen eines Widerrufes der Strafaussetzung wollte. Dass die konsequente Befolgung der durch den Gesetzgeber ausdrücklich so gewollten Anordnung des § 463d Satz 2 StPO in der Form, grundsätzlich in allen Fällen die Gerichtshilfe einzubeziehen, in denen bei Fehlen eines Bewährungshelfers – aus welchem Grund auch immer – über den Widerruf der Strafaussetzung oder die Aussetzung eines Strafrestes entschieden werden muss, zu einer erheblichen Mehrbelastung der Gerichtshilfestellen führen wird, der diese in der gegenwärtigen personellen Ausstattung kaum standhalten können, hat für die nach § 462a StPO und im Beschwerdeverfahren zuständigen Gerichte ebenso wenig entscheidungserheblich zu sein wie die Frage der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit dieser in § 463d Satz 2 StPO getroffenen Regelung.

2. Die entgegen § 463d Satz 2 StPO gewählte Vorgehensweise des Amtsgerichts rechtfertigt jedenfalls in der hier vorliegenden Fallkonstellation, in der die Beschwerdekammer angesichts des ausführlichen Beschwerdevorbringens im Schriftsatz vom 02.05.2024, des psychiatrischen Gutachtens vom 15.02.2024, des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.04.2024 und der Stellungnahme des Hauses [ ] vom 02.05.2024 über alle zur Entscheidung notwendigen Informationen mit aktuellem Stand verfügt, weder eine Rückverweisung an das Amtsgericht zur Nachholung der Einbeziehung der Gerichtshilfe noch deren Nachholung durch die Beschwerdekammer selbst.

a) Anders als im Falle des § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO und unterbliebener mündlicher Anhörung des Verurteilten durch das Beschwerdegericht rechtfertigt der Verstoß gegen § 463d Satz 2 StPO durch Nichteinbeziehung der Gerichtshilfe – entgegen der insoweit bereits geäußerten Rechtsmeinung – keine Aufhebung und Zurückverweisung.

Eine Zurückverweisung der Akten an die erste Instanz zum Zwecke der weiteren Aufklärung ist nicht zulässig. Lediglich in Ausnahmefällen kann das Beschwerdegericht aus rechtlichen Gründen die Sache an die Vorinstanz zurückverweisen (MüKoStPO/Neuheuser, 2. Aufl. 2024, StPO § 309 Rn. 10; BeckOK StPO/Cirener, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 309 Rn. 10, KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl. 2023, StPO § 309 Rn. 7). Solche liegen nur dann vor, wenn die Entscheidung des Erstgerichts an einem schweren Mangel leidet und von einer ordnungsgemäßen Justizgewährung nicht mehr auszugehen ist, bspw. wenn das Erstgericht eine gesetzlich vorgeschriebene mündliche Anhörung nicht durchgeführt hat (MüKoStPO/Neuheuser, 2. Aufl. 2024, StPO § 309 Rn. 36; BeckOK StPO/Cirener, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 309 Rn. 17 m. w. N.).

Ein derart schwerwiegender Verfahrensmangel liegt jedenfalls nicht im Verstoß des Erstgerichts gegen § 463d Satz 2 StPO. Insbesondere wurden keine (mündlichen) Anhörungsrechte der Beschwerdeführerin verletzt. Eine Rückverweisung in dieser Konstellation wäre unzulässig, weil sie letztlich auf eine weitere Aufklärung durch das Erstgericht durch Einbeziehung der Gerichtshilfe gerichtet wäre.

b) Eine Nachholung der Einbeziehung der Gerichtshilfe durch die Beschwerdekammer war nicht veranlasst. Über die Inhalte der oben zitierten Fundstellen hinaus könnten durch die Einbeziehung der Gerichtshilfe keine weiteren für die Entscheidung wesentlichen Informationen erlangt werden, über die die Beschwerdekammer nicht schon verfügt.“

StGB III: Ausreichende Feststellungen beim Diebstahl, oder: Wenn im Urteil nichts drin steht

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Und dann habe ich hier noch etwas vom BayObLG.

Das hat im  BayObLG, Beschl. v. 03.06.2024 – 203 StRR 172/24 – zu den erforderlichen Feststellungen beim Diebstahl (§ 242 StGB) Stellung genommen, und zwar wie folgt:

Beschränkt sich die Feststellung des erstinstanzlichen Tatrichters darauf, dass der Angeklagte am Tattag in den Geschäftsräumen eines Verbrauchermarkts Lebensmittel im Wert von 34.00 Euro entwendete, um diese ohne Bezahlung für sich zu behalten, erweist sich in der Revision die Beschränkung der Berufung auf die Rechtsfolgen als unwirksam, sofern nicht das Berufungsgericht eigene weitere Feststellungen zum Tatablauf getroffen hat.

Pflichti III: Überstellung zur Strafvollstreckung, oder: Wann entscheidet das OLG über einen Pflichtbeistand?

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Und im dritten Posting dann etwas aus dem IRG, nämlich zur Beistandsbestellung im sog. Überstellungsverfahren. Es handelt sich um den OLG Nürnberg, Beschl. v. 23.08.2024 – Ausl OAus 82/24 (kleiner Hinweis: Im Rubrum des vom OLG übersandten Beschlusses heißt es „22. August 2024“, da hat sich also ggf. ein Fehler eingeschlichen, wenn die allgemeinen Angaben in der Übersendung stimmen).

Das OLG hat die Bestellung, die die StA beantragt hatte, „derzeit“ abgelehnt. Es führt zum Zeitpunkt der Bestellung aus:

„Der Verurteilte wurde mit seit 28.06.2023 rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Traunstein vom 25.01.2023 (7 KLs 310 Js 13221/22) wegen Vergewaltigung mit Raub zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Die Freiheitsstrafe wird derzeit in der Justizvollzugsanstalt Straubing vollstreckt. Das Strafende ist für 08.04.2030 vorgemerkt.

Die Staatsanwaltschaft Traunstein prüft derzeit die Übertragung der weiteren Vollstreckung der Freiheitsstrafe nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27.11.2008 (Rb-Freiheitsstrafen) nach Rumänien. Bei seiner Anhörung durch das Amtsgericht Straubing am 04.03.2024 auf Antrag der Staatsanwaltschaft Traunstein erklärte der Verurteilte, nicht nach Rumänien überstellt werden zu wollen.

Die Staatsanwaltschaft Traunstein beantragte am 25.07.2024, dem Verurteilten schon jetzt für die Vorbereitung der oberlandesgerichtlichen Entscheidung über die Zulässigkeit seiner Überstellung nach Rumänien, insbesondere zur Gewährung rechtlichen Gehörs zu der von der Staatsanwaltschaft zu treffenden Ermessensentscheidung einen Pflichtbeistand zu bestellen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg hat die Akten zur Entscheidung über den Antrag der Staatsanwaltschaft Traunstein vorgelegt.

II.

Eine Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Bestellung eines Rechtsbeistands für den Verurteilten ist nicht veranlasst, da das gerichtliche Verfahren nach § 85a IRG, in dessen Rahmen durch das Oberlandesgericht ein Beistand nach § 85a Abs. 2 in Verbindung mit § 53 IRG bestellt werden könnte, noch nicht begonnen hat.

Das gerichtliche Verfahren vor dem Oberlandesgericht nach § 85a IRG beginnt nach § 85a Abs. 1 S. 1 IRG erst dann, wenn entweder die Vollstreckungsbehörde nach § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 IRG beantragt, die Vollstreckung der freiheitsentziehenden Sanktion in einem anderen Mitgliedsstaat für zulässig zu erklären, oder der Verurteilten einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 85 Abs. 5 S. 3 IRG stellt. Dies ist beides nicht der Fall. Insbesondere hat die Vollstreckungsbehörde noch keinen solchen Antrag gestellt.

Darüber, ob für die von der Staatsanwaltschaft gemäß § 85 Abs. 1 S. 1 IRG zu treffende Entscheidung, ob das Überstellungsverfahren durchgeführt werden soll, und ob für die Erklärung des Einverständnisses des Verurteilten mit der Übertragung der Vollstreckung zu Protokoll eines Richters gemäß § 85 Abs. 2 S. 2 IRG gemäß § 53 Abs. 2 IRG ein Rechtsbeistand zu bestellen ist, hat das Oberlandesgericht in diesem Verfahrensstadium nicht zu entscheiden. Gemäß § 85a Abs. 2 S. 1 IRG hat das Oberlandesgericht nach § 53 IRG erst dann über eine Bestellung eines Pflichtbeistands zu entscheiden, wenn einer der beiden vorstehend beschriebenen Anträge zum Oberlandesgericht vorliegt. Alles andere würde dem Zweck der „Verschlankung des Verfahrens“ zuwiderlaufen, mit dem der Gesetzgeber die Übertragung der Vollstreckung ohne gerichtliches Verfahren bei Einverständniserklärung des Verurteilten möglichst einfach und ohne Einschaltung des Oberlandesgerichts regeln wollte (vgl. BT-Drucks. 18/4347 S. 139).“

Pflichti II: Nochmals „Schwere der Rechtsfolge“, oder: „Drohende“ Gesamtstrafenbildung

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Im zweiten Posting dann etwas aus der Instanz zur Pflichtverteidigung. So ganz viel ist es aber nicht. Es handelt sich nur um eine LG-Entscheidung. Ich habe in meinem Ordner zwar noch eine zweite LG-Entscheidung hängern, die stelle ich aber dann erst demnächst vor, da wir die Problematik „Rückwirkung“ schon recht oft in der Berichterstattung hatten.

Hier stelle ich vor den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 04.09.2024 – 18 Qs 34/24. In ihm geht es – auch noch einmal – um die „Schwere der Rechtsfolge“. Die Staatsanwaltschaft führt gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen Vergehens nach dem Gewaltschutzgesetz. Sein Verteidiger hat seine Beiordnung als Pflichtverteidiger unter Verweis auf ein weiteres gegen den Beschuldigten bei der Staatsanwaltschaft geführtes Ermittlungsverfahren beantragt. In diesem Verfahren liegen dem Beschuldigten gefährliche Körperverletzung, versuchte gefährliche Körperverletzung, Bedrohung und Sachbeschädigung zur Last.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Fürth vom 19.07.2024 wurde der Antrag von Rechtsanwalt pp., ihn zum Pflichtverteidiger des Beschuldigten im Verfahren Az.: 951 Js 163055/24 zu bestellen, abgelehnt. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1, 2 StPO nicht vorliege. Der Beschluss wurde dem Verteidiger am 24.07.2024 und dem Beschuldigten am 25.07.2024 zugestellt.

Das AG hat die Bestellung abgelehnt. Dagegen legte der Beschuldigte  Beschwerde ein und begründete diese damit, dass aufgrund der notwendigen Verteidigung in dem anderen Verfahren auch im hiesigen Verfahren ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben sei. Das Rechtsmittel hatte beim LG Erfolg:

„1. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO ist ein Fall notwendiger Verteidigung anzunehmen, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Nach herrschender Meinung ist die Erwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe die Grenze, ab der aufgrund der Schwere der Tat, bzw. der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist. Die Schwelle von einem Jahr Freiheitsstrafe gilt auch bei Gesamtstrafenbildung, denn maßgeblich ist der Umfang der Rechtsfolgen, die insgesamt an den Verfahrensgegenstand geknüpft sind, nicht die Höhe der Einzelstrafen. Dies gilt auch, wenn die Gesamtstrafe aus der verfahrensgegenständlichen Verurteilung und künftigen Verurteilungen aus noch nicht abgeschlossenen Verfahren gebildet werden wird (BeckOK StPO/Krawczyk, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 140 Rn. 24 m.w.N). Die Notwendigkeit der Beiordnung eines Verteidigers hinge sonst von bloßen Zufälligkeiten, nämlich von der Frage ab, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht (LG Magdeburg, Beschl. v. 01.06.2022, 21 Qs 23/22 m.w.N.). Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt hingegen nicht vor, wenn die verfahrensgegenständliche Verurteilung voraussichtlich geringfügig ausfallen und die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflussen wird (OLG Stuttgart, Beschl. v. 02.03.2012, 2 Ws 37/12 m.w.N.).

2. Unter Würdigung dieser Vorgaben ist ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.

a) Dem Beschuldigten droht bei Bildung einer Gesamtstrafe mit der im Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 zu erwartenden Verurteilung eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als einem Jahr.

Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat gegen den Beschuldigten im Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 Anklage zum Schöffengericht erhoben. Dies bedeutet, dass die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass gegen den Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verhängt werden wird, vgl. § 28 i.V.m. § 25 Nr. 2 GVG.

Das Gesetz sieht für Vergehen nach dem Gewaltschutzgesetz Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe vor, § 4 GewSchG. Im vorliegenden Verfahren liegen dem Beschuldigten zwei derartige Verstöße zur Last. Im Falle einer Verurteilung wäre mit einer Strafe aus dem Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 eine (nachträgliche) Gesamtstrafe zu bilden. Unter Zugrundelegung der Straferwartung, welche die Anklage zum Schöffengericht impliziert, ist davon auszugehen, dass gegen den Beschuldigten eine (nachträgliche) Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verhängt würde.

Es kommt dabei nicht darauf an, dass der Beschuldigte im vorliegenden Strafverfahren isoliert betrachtet keine Freiheitsstrafe von einem Jahr zu erwarten hat. Es ist nicht davon auszugehen, dass allein wegen der Taten im hiesigen Verfahren gegen den Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von einem Jahr verhängt würde. Denn die Verstöße gegen den Beschluss gem. § 1 GewSchG stellen sich jeweils nicht besonders gravierend dar. Der Beschuldigte hat die Geschädigte nicht angesprochen oder gar körperlich angegangen. Zudem liegt die Verurteilung des Beschuldigten wegen Nachstellung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen mit Strafbefehl des Amtsgerichts Fürth vom 08.11.2019 fast fünf Jahre zurück.

b) Es ist ohne Belang, dass gegen den Beschuldigten im hiesigen Verfahren noch keine Anklage erhoben wurde.

Denn aus § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO folgt, dass die Pflichtverteidigerbestellung unverzüglich zu erfolgen hat, wenn dem Beschuldigten der Tatvorwurf eröffnet worden ist. Vorliegend wurde dem Beschuldigten der Tatvorwurf mit seiner Ladung zur Beschuldigtenvernehmung am 08.04.2024 eröffnet, sodass auf den entsprechenden Antrag des Verteidigers vom 16.04.2024 hin dessen Bestellung zum Pflichtverteidiger angezeigt gewesen wäre.

c) Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die verfahrensgegenständliche Tat im Falle ihrer Anklage und Verurteilung die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflussen würde.

Vor dem Hintergrund, dass der Beschuldigte nur zwei Wochen nach der versuchten gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil seiner ehemaligen Lebensgefährtin gegen den im Nachgang hierzu erwirkten Beschluss des Amtsgerichts Fürth vom 19.03.2024 verstieß, ist davon auszugehen, dass dem Beschuldigten im hiesigen Verfahren eine nicht nur unerhebliche Strafe, möglicherweise eine Freiheitsstrafe droht. Diese würde dann auch im Rahmen einer (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit einer Strafe aus dem Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 nicht nur unerheblich ins Gewicht fallen. Andererseits liegt in dem Verfahren Az.: 951 Js 161267/24 kein bereits für sich genommen so gewichtiger Tatvorwurf vor, dass der Unrechtsgehalt der vorliegenden Straftaten dem gegenüber gänzlich in den Hintergrund treten würde.“