Archiv der Kategorie: Hauptverhandlung

Pflichti III: Störung des Vertrauensverhältnisses, oder: Wie umfangreich muss vorgetragen werden?

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Und als letzte Entscheidung habe ich heute dann hier noch einen Beschluss zur Entpflichtungsproblematik, und zwar den OLG Saarbrücken, Beschl. v. 01.07.2022 – 4 Ws 194/22.

Der dem Angeklagten bestellte Pflichtverteidiger hat seine Entpflichtung beantragt. Zur Begründung gab er an, das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Angeklagten sei endgültig zerstört, so dass keine angemessene Verteidigung mehr gewährleistet sei. Im letzten Gespräch mit dem Angeklagten hätten sich derart konträre Ansichten und gegenteilige Meinungen aufgetan, dass es aus seiner Sicht keine Möglichkeit gebe, den Angeklagten angemessen zu verteidigen. Auch der Angeklagte wünsche die Beiordnung eines anderen Verteidigers. Das LG hat den Antrag zurückgewiesen. Dagegen die sofortige Beschwerde des Pflichtverteidigers, die beim OLG Erfolg hatte.

Das OLG sieht das Rechtsmittel als zulässig an – insoweit verweise ich auf den Volltext. Zur Begründetheit führt es aus:

„Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

1. Nach § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufzuheben, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung gewährleistet ist. Der Gesetzgeber hat mit der Schaffung dieser Vorschrift das Ziel verfolgt, zwei von der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannte Fälle des Rechts auf Verteidigerwechsel zu normieren (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. Juni 2021 – 3 Ws 200/21 –, juris). Insofern kann für die Frage, wann im Einzelnen eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zu bejahen ist, auf die in dieser Rechtsprechung dargelegten Grundsätze zurückgegriffen werden (BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 – StB 4/20 –, juris; OLG Karlsruhe a.a.O.; Senatsbeschluss vom 27. Oktober 2021 – 4 Ws 157/21 -; vgl. auch BT-Drucks. 19/13829, S. 48). Hiernach beurteilt sich die Frage, ob das Vertrauensverhältnis zum Verteidiger endgültig und nachhaltig erschüttert ist, vom Standpunkt eines vernünftigen und verständigen Beschuldigten (BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 – StB 4/20 –, juris; st. Rspr. des 1. Strafsenats des Saarländischen Oberlandesgerichts, vgl. nur Beschluss vom 1. Juni 2015 – 1 Ws 89/15 -; Senatsbeschluss a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 143a Rdnr. 20). Differenzen zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Angeklagten über die Verteidigungsstrategie rechtfertigen eine Entpflichtung grundsätzlich nicht (BGH, Beschlüsse vom 05. März 2020 – StB 6/20 -, juris und vom 15. Juni 2021 – StB 24/21 -, juris; OLG Karlsruhe a.a.O.). Etwas anderes kann mit der Folge einer endgültigen und nachhaltigen Erschütterung des Vertrauensverhältnisses gelten, wenn solche Meinungsverschiedenheiten über das grundlegende Verteidigungskonzept nicht behoben werden können und der Verteidiger sich etwa wegen der Ablehnung seines Rats außerstande erklärt, die Verteidigung des Angeklagten sachgemäß zu führen (BGH a.a.O.; OLG Karlsruhe a.a.O.). Die Entpflichtung eines Pflichtverteidigers kann geboten sein, wenn Umstände vorliegen, die den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährden (BVerfGE 39, 238, 244; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26. Oktober 2006 – 2 BvR 426/06 -, juris). Die Gründe für die endgültige und nachhaltige Erschütterung des Vertrauensverhältnisses sind substantiiert darzulegen (Beschluss des 1. Strafsenats des Saarländischen Oberlandesgericht vom 01. Juni 2015   – 1 Ws 89/15 -; Senatsbeschluss vom 27. Oktober 2021 – 4 Ws 157/21 -). Beruft sich der Angeklagte auf eine Erschütterung des Vertrauensverhältnisses durch Differenzen mit seinem Verteidiger, hat er darzulegen, dass und warum der Pflichtverteidiger hierdurch zu einer sachgerechten Verteidigung außer Stande gewesen sein soll (BGH, Beschluss vom 15. Juni 2021 – StB 24/21 -, juris).

2. Unter Anwendung dieser Grundsätze wäre vorliegend eine Entpflichtung von Rechtsanwalt L. geboten gewesen.

Der Verteidiger hat dargelegt, dass der Angeklagte von ihm ein Verteidigungskonzept verlangt, das durch ihn nicht vertreten werden kann. Hierdurch ist in ausreichender Weise dargetan, dass grundlegende Meinungsverschiedenheiten über das Verteidigungskonzept bestehen, diese nicht behoben werden können und er sich nicht in der Lage sieht, die Verteidigung sachgerecht zu führen. Die für den Angeklagten selbst bestehenden Substantiierungspflichten können für den Verteidiger, der hier aus eigenem Recht seine Entpflichtung beantragt hat, nicht uneingeschränkt gelten, da einer näheren Substantiierung die anwaltliche Schweigepflicht entgegenstehen kann. Das Recht des Verteidigers, sich aus eigenem Recht gegen die Ablehnung seiner Entpflichtung zu wenden, würde letztlich leerlaufen, wenn er aufgrund seiner Schweigepflicht gehindert wäre, sein Rechtsmittel in der gebotenen Weise zu begründen. Hinzu kommt, dass Angaben eines Strafverteidigers kraft seiner Stellung als Organ der Rechtspflege grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen ist (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 07. März 2012 – 2 BvR 988/10 -, juris) und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Angaben des Verteidigers wahrheitswidrig sein könnten. Einen solchen Schluss erlaubt insbesondere nicht die Tatsache, dass der Verteidiger den Angeklagten bereits längere Zeit unbeanstandet verteidigt hat, da der Verteidiger insoweit dargelegt hat, die Meinungsverschiedenheiten über das Verteidigungskonzept seien erst im letzten Besprechungstermin aufgetreten, was vor dem Hintergrund der im letzten Hauptverhandlungstermin zu Tage getretenen offenen Fragen hinsichtlich der Aussagetüchtigkeit der Geschädigten nicht ausgeschlossen erscheint und gleichzeitig zu erklären geeignet ist, wieso der Entpflichtungsantrag erst relativ kurz vor dem Neubeginn der Hauptverhandlung gestellt wurde.

Dass bereits die frühere Pflichtverteidigerin des Angeklagten entbunden worden ist, vermag nichts daran zu ändern, dass die Frage der Entbindung des jetzigen Pflichtverteidigers sich nach dem klaren Wortlaut des § 143a Abs. 2 Nr. 3 StPO allein daran zu orientieren hat, ob das Vertrauensverhältnis zu diesem endgültig zerstört ist. Hinzu kommt, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Entpflichtungsanträge zum Zwecke der Verfahrensverzögerung gestellt worden sein könnten. Beide Anträge wurden nicht durch den Angeklagten selbst, sondern durch die jeweiligen Verteidiger gestellt und jeweils sachlich begründet. Die bisherige, nicht unerhebliche Verfahrensdauer beruht nicht auf diesen Anträgen, sondern darauf, dass Sachverständigengutachten einzuholen waren und anberaumte Verhandlungstermine aufgrund einer Erkrankung bzw. eines beruflichen Wechsels sonstiger Verfahrensbeteiligter bisher nicht zu einem Urteil geführt haben.“

BVerfG I: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Eilantrag gegen Haftbefehl hat Erfolg

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In die 30. KW./2022 starte ich heute mit zwei Entscheidungen des BVerfG. Beide haben mit Haft zu tun.

Zunächst stelle ich den BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 – vor. Er ist in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren ergangen, in dem das OLG Celle mit dem OLG Celle, Beschl. v. 20.04.2022 – 2 Ws 62/22 – zur Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung im Recht der Wiederaufnahme Stellung genommen hat (vgl. hier Neues Spurengutachten 40 Jahre nach Freispruch, oder: Wiederaufnahme zu Ungunsten verfassungmäßig?). 

Das OLG Celle hatte in dem Verfahren die neue Regelung in § 362 Nr. 5 StPO als verfassungsgemäß angesehen. Das LG Verden hatte nach fast 40 Jahren in einem Verfahren, in dem der Angeklagte von der Tötung einer 17-jährigen frei gesprochen worden war, den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederaufnahme des Verfahrens für zulässig erklärt und Untersuchungshaft angeordnet. Grundlage für den Wiederaufnahmeantrag war ein im Jahr 2012 erstelltes molekulargenetischen Gutachten des LKA Niedersachsen zu einer Spermaspur am Slip der Getöteten. Nach dem Gutachten kann der Angeklagte als Verursacher dieser Spermaspur in Betracht kommen.

Das OLG Celle hatte in dem Verfahren (auch) die Haftbeschwerde des Angeklagten gegen die angeordnete U-Haft verworfen.

Dagegen die Verfassungsbeschwerde und der Antrag, den Haftbefehl im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde außer Vollzug zu setzen. Dem Antrag ist das BVerfG gefolgt. Dazu das BVerfG in seiner Entscheidung, die übrigens mit 5 : 3 Stimmen ergangen ist:

„aa) Entzieht sich der Beschwerdeführer dem Strafverfahren, wird das – im Fall der Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde bestehende – öffentliche Interesse an der Wiederaufnahme und der anschließenden Durchführung des Strafverfahrens gegen ihn beeinträchtigt und unter Umständen vereitelt.

(1) Die besonders strengen Voraussetzungen für die Aussetzung der Geltung eines Gesetzes müssen hier nicht erfüllt sein. Zwar besteht nach der Gesetzesbegründung ohne die Neuregelung die Gefahr einer nachhaltigen Störung des Rechtsfriedens und des Vertrauens in die Strafrechtspflege. Dabei nimmt sie ausdrücklich auf den hier streitgegenständlichen Fall Bezug (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 10) und bringt damit zum Ausdruck, dass gerade die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ermöglicht werden soll. Dennoch blieben die Folgen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung auf den vorliegenden Fall begrenzt. Entzöge sich der Beschwerdeführer infolge der Außervollzugsetzung des Haftbefehls dem erneuten Strafverfahren, bliebe die Anwendung des Gesetzes in anderen Wiederaufnahmefällen unberührt.

(2) Es besteht aber auch im Einzelfall ein gewichtiges Allgemeininteresse an der Strafverfolgung eines Mordes. Das Grundgesetz weist den Erfordernissen einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege einen hohen Rang zu (vgl. BVerfGE 80, 367 <375>). Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222>; 122, 248 <272>; 130, 1 <26>). Hierzu zählt, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222 f.>; 122, 248 <272 f.>; 133, 168 <199 Rn. 57>). Dies umfasst die Pflicht, die Durchführung eingeleiteter Strafverfahren und die Vollstreckung rechtskräftig erkannter (Freiheits-)Strafen sicherzustellen (vgl. BVerfGE 46, 214 <222 f.>; 51, 324 <344>; 133, 168 <199 f. Rn. 57>).

bb) Käme es dagegen lediglich zu einer Verzögerung des Wiederaufnahmeverfahrens sowie der daran anschließenden erneuten Hauptverhandlung, so hätte dies für sich genommen angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Falles kein besonders schweres Gewicht.

(1) Grundsätzlich ist auch eine zügige Durchführung des Strafverfahrens ein gewichtiger Belang einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (vgl. BVerfGE 63, 45 <68 f.>; 122, 248 <273>; 133, 168 <200 f. Rn. 59>). Sie erfordert eine Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs innerhalb so kurzer Zeit, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnehmen kann (vgl. BVerfGE 122, 248 <273>). Die Zwecke der Kriminalstrafe werden durch unnötige Verfahrensverzögerungen in Frage gestellt (vgl. BVerfGE 122, 248 <273>) und die verfassungsrechtliche Pflicht zur bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit wird beeinträchtigt, da die Beweisgrundlage durch Zeitablauf verfälscht werden kann (vgl. BVerfGE 57, 250 <280>; 122, 248 <273>; 133, 169 <201>).

Hier liegt die verfolgte Straftat allerdings bereits über 40 Jahre zurück. Es steht daher nicht zu erwarten, dass eine spätere Durchführung der erneuten Hauptverhandlung eine substantielle Verschlechterung der Beweislage und damit eine (weitere) Erschwerung der Wahrheitsermittlung mit sich brächte. Ebenso geht vom Beschwerdeführer angesichts des langen Zeitraumes, in dem er strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist, keine mit dem Mordvorwurf typischerweise verbundene besondere Gefährlichkeit aus, der insbesondere der spezialpräventive Zweck der Bestrafung entgegenwirken soll.

(2) Auch kann die vom Gesetzgeber mit der Neuregelung bezweckte Befriedungswirkung besser erreicht werden, wenn über die Verfassungsbeschwerde bereits vor der Weiterführung des Wiederaufnahmeverfahrens abschließend entschieden ist. Es wäre nicht mit der Unsicherheit belastet, dass die Verfassungsbeschwerde Erfolg haben und ihm damit die Rechtsgrundlage entziehen könnte.

c) Sowohl die Folgen einer einstweiligen Anordnung als auch die Folgen ihres Unterlassens sind damit insgesamt von solchem Gewicht, dass sie jeweils nicht vollständig zurücktreten dürfen.

Anders als in anderen Fällen der Anordnung von Untersuchungshaft besteht nicht nur die Möglichkeit, dass sich der Tatverdacht im Zuge der Ermittlungen beziehungsweise des Strafverfahrens nicht erhärtet. Ausschlaggebend ist vielmehr die Möglichkeit, dass die Untersuchungshaft gar nicht hätte erfolgen dürfen, weil die Strafverfolgung insgesamt unzulässig ist, wenn sich die Norm, die die Strafverfolgung eröffnet, als verfassungswidrig erweist. Dem grundrechtlichen Schutz aus Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG kommt unter diesen Umständen daher ein größeres Gewicht zu als dem durch die Untersuchungshaft gesicherten staatlichen Strafverfolgungsinteresse.

Die Schwere des Tatvorwurfs, der im Wiederaufnahmefall den berechtigten Strafverfolgungsanspruch des Staates begründet, hat jedoch ein solches Gewicht, dass auch dem staatlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung Rechnung getragen werden muss. Dies kann zwar im Rahmen der hier erlassenen einstweiligen Anordnung den Vollzug des Haftbefehls nicht rechtfertigen, wohl aber die Anordnung von Maßnahmen, die weniger intensiv in Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG eingreifen. Angesichts der von den Fachgerichten festgestellten Fluchtgefahr, die der Beschwerdeführer nicht substantiiert entkräftet hat, sind die im Tenor aufgeführten Maßnahmen geboten, um den staatlichen Strafverfolgungsanspruch ausreichend zu sichern. Dem Eilbegehren des Beschwerdeführers trägt dies größtmöglich Rechnung. Dem Landgericht obliegt es, die Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Weiteren auszugestalten und – soweit erforderlich – den Zweck des Haftbefehls durch Maßnahmen nach § 116 Abs. 4 StPO zu gewährleisten. Ein verbleibendes Risiko, dass sich der Beschwerdeführer der Strafverfolgung dennoch entzieht, muss dabei angesichts der besonderen Grundrechtsbelastung, die mit der – erneuten – Untersuchungshaft im Zuge der Zulassung des Wiederaufnahmeantrags verbunden ist, hingenommen werden.“

Hat man nicht so häufig, oder doch? 🙂

StPO II: Die früher gestellte Strafanzeige des Richters, oder: Nicht in jedem Fall „befangen“

Und als zweite Entscheidung dann der OLG Rostock, Beschl. v. 24.01.2022 – 3 W 144/21. Also schon etwas älter und – wie man an dem Aktenzeichen erkennt – auch aus dem Zivilverfahren. Die von dem Richter hier im Rahmen einer „Selbstablehnung“ (§ 48 ZPO) vorgetragenen Gründe können aber auch im Strafverfahren eine Rolle spielen. Daher stelle ich den Beschluss hier vor.

Der Richter hatte geltend gemacht:

„Vor einigen Jahren hatte ich auf dem später von der Klägerin erworbenen Grundstück auf dem D. einen Raum gemietet. Die Zugangstür war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Die Klägerin bzw. deren Vorstand, Herr M., ließ das Schloss beseitigen und durch ein anderes Vorhängeschloss ersetzen. Ich habe daraufhin Herrn M. wegen Diebstahls angezeigt. Es folgte auch ein von mir eingeleitetes einstweiliges Verfügungsverfahren .“

Die darauf gestützte Ablehnung des Richters hatte dann beim LG keinen Erfolg. Das OLG hat die sofortige Beschwerde gegen den ablehnenden Beschluss des LG dann zurückgewiesen:

„Das Landgericht hat das Befangenheitsgesuch zu Recht zurückgewiesen.

Die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit findet gem. § 42 Abs. 2 ZPO nur statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Entscheidend ist, ob ein Prozessbeteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit eines Richters zu zweifeln (BVerfG, Beschluss vom 02.12.1992 – 2 BvF 2/90 -, NJW 1993, 2230, beck-online; BGH, Beschluss vom 14.03.2003 – IXa ZB 27/03 -, NJW-RR 2003, 1220, 1221, beck-online; Beschluss v. 12.10. 2011 ? V ZR 8/10, NJW-RR 2012, 61, beck-online; Zöller/Vollkommer, ZPO, 34. Aufl., § 42 Rz. 9 m.w.N.).

Objektive Gründe, die sich aus dem Verfahren selbst ergeben, hat die Klägerin nicht vorgetragen. Die Klägerin macht vielmehr allein geltend, dass sie sich vor über 10 Jahren mit dem abgelehnten Richter in einem Rechtsstreit über eine Räumlichkeit gegenübergestanden und der abgelehnte Richter in dem Sachzusammenhang auch eine Strafanzeige gegen ihren Geschäftsführer gestellt habe. Dies, sowie der Umstand, dass sich die Räumlichkeit auf dem streitgegenständlichen Grundstück des aktuellen Verfahrens befunden habe, lasse befürchten, dass der abgelehnte Richter dem Rechtsstreit nicht unvoreingenommen gegenüberstehe, sich aufgrund seiner damaligen strafrechtlichen Vorwürfe vielmehr von sachfremden Erwägungen leiten lasse.

Diese Befürchtung teilt der Senat nicht. Zwar mögen die konkreten Umstände in einem Fall, in dem der Richter gegen eine Partei Strafanzeige erstattet und ein einstweiliges Verfügungsverfahren angestrengt hat, bei vernünftiger Betrachtung aus Sicht der Partei oftmals den Schluss zulassen, der Richter könne die Sache der Partei nicht mehr unvoreingenommen bearbeiten. Es kann nach Auffassung des Senats jedoch nicht generell angenommen werden, ein Richter sei befangen, wenn er gegen eine Partei einmal eine Strafanzeige wegen eines vermeintlichen Diebstahls erstattet hat, denn anderenfalls mutet man einem Richter zu, auf einen jedem Bürger zustehenden strafrechtlichen Schutz zu verzichten (vgl. OLG Koblenz, Beschluss v. 04.09.2002 – 9 WF 606/02 -, zit. n. juris, Rn. 3; OLG Zweibrücken, Beschluss v. 10.03.2000 – 3 W 46/00 -, zit. n. juris, Rn. 4; Zöller/Vollkommer, ZPO, 34. Aufl., § 42 Rn. 29 m.w.N.; Stein/Jonas/Bork, ZPO, 22. Aufl., § 42 Rn. 7 m.w.N.). Nichts Anderes kann gelten, wenn es darum geht, zivilrechtliche Schritte zum Schutz der eigenen Interessen zu unternehmen.

Deshalb kann es nach Auffassung des Senats für die Entscheidung, ob der Richter befangen ist, allein darauf ankommen, wie seine Reaktion bzw. seine weitere Reaktion erfolgt ist (vgl. OLG Koblenz, a.a.O.; OLG Zweibrücken, a.a.O.). Hat der Richter – wie offenbar hier – seine Strafanzeige in sachlicher Form angebracht, dann begründet dies nicht die Besorgnis, er sei befangen (vgl. OLG Koblenz, a.a.O.; MünchKomm-Stackmann, ZPO, 7. Aufl., § 42 Rn. 24), zumal der abgelehnte Richter seine Strafanzeige offenbar nicht weiterverfolgt hat, denn diese war der Klägerin bis zur „Selbstanzeige“ des abgelehnten Richters nach § 48 ZPO unbekannt. Entgegen der Auffassung der Klägerin hatte der abgelehnte Richter mit der Erstattung der Strafanzeige auch seinen Einfluss auf die Strafanzeige nicht völlig verloren, denn einem „Verletzten“ stehen bei Einstellung etc. des Verfahrens Rechtsmittel zur Verfügung (vgl. u.a. § 172 Abs. 2 StPO). Dass es im Rahmen des einstweiligen Verfügungsverfahrens zu Verwerfungen zwischen den Parteien gekommen ist, hat die Klägerin nicht vorgetragen. Ohnehin muss sich die Klägerin vorhalten lassen, hierzu und insbesondere zum Verhalten des abgelehnten Richters im einstweiligen Verfügungsverfahren – dessen Ergebnis im Übrigen unbekannt ist – nichts weiter vorgetragen zu haben. Die damaligen Umstände sind ebenfalls nicht geeignet, auf Voreingenommenheit des abgelehnten Richters schließen zu lassen. Die Klägerin hat nicht behauptet, dass der abgelehnte Richter seinerzeit keinen Mietvertrag besessen habe, auch wenn sie dessen Rechtmäßigkeit indirekt in Frage gestellt hat.

Wird unter Berücksichtigung dessen jedoch das Schloss des angemieteten Lagerraums aufgebrochen, dann erscheint es nachvollziehbar, dass sich ein Mieter gegen diese (vermeintlich) verbotene Eigenmacht (§ 858 BGB) mit rechtlichen Mitteln zur Wehr setzt. Zutreffend hat das Landgericht in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass derjenige, der im Rahmen einer Eigentumsübernahme das Schloss eines gesicherten Raums aufbricht und austauscht, nur weil ihm vom Voreigentümer kein Mietvertrag hierzu vorgelegt worden ist, auch hiermit rechnen muss. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist dabei auch von Bedeutung, dass der Vorfall bereits über 10 Jahre zurückliegt. Wenn schon aktuelle Streitigkeiten zwischen Partei und abgelehntem Richter nicht zwingend den Vorwurf der Voreingenommenheit begründen können (s.o.), dann gilt dies erst Recht für Vorgänge aus der Vergangenheit, zumal nicht vorgetragen worden ist, dass es hiernach zu weiteren persönlichen Diskrepanzen zwischen Partei und abgelehntem Richter gekommen ist, selbst wenn es an einer ausdrücklichen Erklärung beider Parteien fehlt, dies dem jeweils anderen nicht mehr vorzuhalten (vgl. hierzu auch: BGH, Beschluss v. 30.10.2014 – V ZB 196/13 -, zit.n. juris, Rn. 4). Ohne anderslautende Hinweise kann insoweit vielmehr eine professionelle Distanz des abgelehnten Richters unterstellt werden.

Andere Anhaltspunkte, die die Besorgnis der Befangenheit begründen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere ist auch nicht dargetan, dass der abgelehnte Richter in der Folgezeit Reaktionen gezeigt hat, die darauf schließen lassen könnten, dass er der Klägerin voreingenommen gegenübersteht. Selbst in einem ähnlich gelagerten Verfahren, in dem die Klägerin ebenfalls als solche aufgetreten und der abgelehnte Richter zuständig war, hat es insoweit keinen Vorwurf gegeben.

Allein die Tatsache, dass der abgelehnte Richter den Vorfall in einer dienstlichen Stellungnahme geschildert hat, begründet nicht die Besorgnis seiner Befangenheit. Damit erfüllt er lediglich seine Dienstpflicht, die Parteien über einen möglichen Befangenheitsgrund zu informieren. Der Anzeige des abgelehnten Richters ist nicht zu entnehmen, dass er sich auch selbst für befangen hält.

Unter Berücksichtigung dessen lässt sich keine Haltung des abgelehnten Richters erkennen, die vom Standpunkt einer vernünftigen Partei ein Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen geeignet wäre. Die von der Klägerin vorgebrachten Ablehnungsgründe vermögen bei der gebotenen objektiven Betrachtung eine Besorgnis der Befangenheit des abgelehnten Richters nicht zu begründen.“

StPO I: Vorbefassung = Befangenheit eines Schöffen, oder: Was bringt die neuere EGMR – Rechtsprechung?

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Auch heute gibt es hier – trotz der Hitze – drei Entscheidungen, und zwar aus dem Bereich der StPO – Thematik: Befangenheit.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 07.06.2022 – 5 StR 460/21 – zur sog. Vorbefassung eines Schöffen. Der Angeklagte hatte einen Schöffen wegen (Vorbefassung“ abgelehnt (§§ 24 ff. StPO). Das LG war dem Antrag nicht gefolgt. Die entsprechende Verfahrensrüge hatte beim BGH keinen Erfolg. Sie war schon unzulässig. In dem Zusammenhang macht der BGH Ausführungen zu den Anforderungen an die Vorbefassung, auch im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des EGMR:

„… 2. Die Revision trägt zudem entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO keine Tatsachen vor, bei deren Vorliegen die Besorgnis der Befangenheit gegen den abgelehnten Schöffen begründet wäre.

a) Der Befangenheitsantrag wird darauf gestützt, dass die Vorbefassung auch eines Schöffen zwar keine Befangenheit begründe, vielmehr konkrete Umstände des Einzelfalls hinzutreten müssten, wobei das Vorliegen solcher Umstände aber behauptet wird. Außer dem Verweis auf eine Vorbefassung, die sich daraus ergebe, dass der Angeklagte des früheren Verfahrens wegen der Taten verurteilt worden sei, die auch dem Angeklagten zur Last gelegt werden, und dem darauf beruhenden „weitergehenden Kenntnisstand“ des Schöffen werden aber keine Tatsachen geltend gemacht, die solche Umstände belegen. Vor allem fehlt es am Vortrag des früheren Urteils.

b) Dessen hätte es aber bedurft (BGH, Beschluss vom 10. Januar 2018 – 1 StR 571/17, NStZ 2018, 550; vgl. zur Unzulässigkeit schon des Antrags gemäß § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO BGH, Beschlüsse vom 18. November 2008 – 1 StR 541/08, NStZ-RR 2009, 85; vom 19. April 2018 – 3 StR 23/18, NStZ-RR 2018, 252; Urteil vom 23. Januar 2019 – 5 StR 143/18, NStZ-RR 2019, 120). Denn hierzu gilt:

Eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vortätigkeit eines erkennenden Richters, soweit sie nicht gesetzliche Ausschlussgründe erfüllt, ist regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit des Richters im Sinne von § 24 Abs. 2 StPO zu begründen, wenn nicht besondere Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2012 – 3 StR 400/11, NStZ 2012, 519, 520; vom 10. Januar 2018 – 1 StR 571/17, NStZ 2018, 550; vgl. auch EGMR, Urteil vom 10. August 2006 – Nr. 75737/01, StraFo 2006, 406). Dies gilt auch für die Verurteilung eines Mittäters, selbst wenn die Schilderung des Tatgeschehens auch Handlungen des Ablehnungsberechtigten einschließt. Dabei gelten bei Schöffen grundsätzlich keine anderen Maßgaben für die Unvoreingenommenheit als bei Berufsrichtern (BGH, Urteil vom 17. Juli 1996 – 5 StR 121/96, BGHSt 42, 191,193 f.). Etwas anderes gilt nach innerstaatlicher Rechtsprechung nur dann, wenn besondere Umstände hinzutreten, die die Besorgnis rechtfertigen, der Richter sei nicht bereit, sich von seiner bei der Vorentscheidung gefassten Meinung zu lösen, etwa wenn er unnötige und sachlich unbegründete Werturteile über den Angeklagten geäußert hat (BGH, Beschlüsse vom 27. April 1972 – 4 StR 149/72, BGHSt 24, 336, 338; vom 10. Januar 2012 – 3 StR 400/11, NStZ 2012, 519, 520 f.; vom 8. Mai 2014 – 1 StR 726/13; vom 10. Januar 2018 – 1 StR 571/17, NStZ 2018, 550; vgl. auch EGMR aaO).

c) Auch die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zur Befangenheit bei Vorbefassung (Urteil vom 16. Februar 2021 – Nr. 1128/17, NJW 2021, 2947) führt nicht zu demgegenüber herabgesetzten Vortragserfordernissen. Denn auch der Gerichtshof betont, dass es für Zweifel an der Unparteilichkeit – die er unter dem Aspekt des Art. 6 Abs. 1 EMRK prüft – nach wie vor nicht ausreiche, dass der Richter frühere Entscheidungen wegen derselben Strafsache erlassen oder in einem gesonderten Strafverfahren gegen Mitbeschuldigte verhandelt habe. Die objektiv gerechtfertigte Besorgnis der Befangenheit (vgl. zur Prüfung nach einem subjektiven und objektiven Ansatz EGMR, Urteil vom 2. Februar 2017 – Nr. 10211/12, 27505/14; vom 16. Februar 2021 – Nr. 1128/17, NJW 2021, 2947) könne aber darin begründet liegen, dass der Richter in einem früheren Urteil umfangreiche Tatsachenfeststellungen getroffen habe, die die Schuld des jetzigen Angeklagten vorwegnehmen, und er mithin eine vorgefasste Meinung über seine Schuld habe. Dies könne zum Beispiel in Formulierungen zum Ausdruck kommen, die über die zur rechtlichen Einstufung der Tat des Mittäters erforderlichen Feststellungen hinausgingen.

Selbst wenn bei der danach erforderlichen Abwägung einzustellen sein sollte, dass Schöffen sich nicht so gut von früheren Eindrücken freimachen könnten wie Berufsrichter (vgl. hierzu EGMR aaO Rn. 51), kann in Ermangelung des Vortrags des früheren Urteils eine Prüfung nach diesen Maßgaben nicht erfolgen. Auf der Grundlage des derart mangelhaften Vortrags ergibt sich schon kein Anhalt dafür, dass sich der Schöffe in dem früheren Verfahren überhaupt mit einer Einbindung des hiesigen Angeklagten befasst hat. Die dort verurteilten Taten werden als Handel mit Betäubungsmitteln beschrieben, die Feststellungen werden nur dahin wiedergegeben, dass Lieferant der gehandelten Betäubungsmittel ein „Verkäufer aus den Niederlanden mit dem Spitznamen ‚H. ‘ – bei dem es sich möglicherweise um einen Bu.     handele – “ sei, was eine Bewertung von Tatbeiträgen des Angeklagten nicht nahelegt. Eine Prüfung, ob das frühere Urteil die Schuld des Angeklagten vorwegnehmende Feststellungen enthielt, ist damit nicht möglich.

3. Die erhobene Verfahrensrüge hätte auf der Grundlage des Revisionsvorbringens auch in der Sache keinen Erfolg, da keine Umstände vorgetragen sind, aus denen die Besorgnis der Befangenheit des Schöffen hätte resultieren können. Allein die Vorbefassung mit dem Verfahrensgegenstand reicht dabei angesichts des vorstehend Dargelegten nicht aus.“

U-Haft I: Nachlässigkeiten begründen keine Flucht, oder: (Hohe) Straferwartung reicht allein nicht

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Ich habe seit längerem keine Beschlüsse zur U-Haft mehr vorgestellt. Jetzt hat sich einiges angesammelt, das ich heute vorstellen möchte.

An der Spitze der („schöne“) OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.07.2022 – 4 Ws 302/22, den mir der Kollege Stehr aus Göppingen geschickt hat.

Der Kollege verteidigt in einem Verfahren wegen eines Vergewaltigungsverdachts. Der Angeklagte hat sich zunächst aufgrund eines auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls vom 03.07.2019 bis zum 02.09.2019 in Untersuchungshaft befunden.

Im ersten Rechtsgang hat das LG den Angeklagten mit Urteil vom 09.12. 2020 der Vergewaltigung schuldig gesprochen und ihn unter Einbeziehung anderweitig verhängter Geldstrafen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH das Urteil des LG mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache an das LG zurückverwiesen. Mit Beschluss vom 29.10.2021 hat die nunmehr zuständige Strafkammer des LG den Haftbefehl vom 03.07.2019 mangels dringenden Tatverdachts sowie aus Verhältnismäßigkeitserwägungen aufgehoben. In der Folge wurde zur Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten eingeholt, welches dann am 09.05.2022 bei Gericht einging.

Am 02.06.2022 beantragte die Staatsanwaltschaft, gegen den Angeklagten einen neuerlichen Haftbefehl zu erlassen. Der Angeklagte sei aufgrund des zwischenzeitlich vorliegenden Gutachtens dringend tatverdächtig. Zudem bestehe der Haftgrund der Flucht. Der Angeklagte sei seit dem 07.03.2022 nicht auffindbar. Das LG hat sodann am 09.06.2022 gegen Angeklagten einen auf den Haftgrund der Flucht gestützten Haftbefehl erlassen. Mit Beschluss vom selben Tag hat das LG zudem das Verfahren wegen unbekannten Aufenthalts des Angeklagten vorläufig eingestellt. Zugleich verfügte der stellvertretende Kammervorsitzende die formlose Übersendung des Einstellungsbeschlusses an die Verfahrensbeteiligten. Diese Verfügung wurde am 13.06.2022 ausgeführt.

Nur zwei Tage später, am 15.06.2022, hat der Kollege dann der Strafkammer telefonisch mitgeteilt, dass es eine ladungsfähige Anschrift des Angeklagten gebe, unter der dieser auch erreicht werden könne. Diese Anschrift hat der Verteidiger sodann noch am selben Tag schriftsätzlich übermittelt. Daraufhin hat die Strafkammer eine polizeiliche Überprüfung der vom Verteidiger mitgeteilten Anschrift in Auftrag gegeben. Die Überprüfung hat ergeben, dass der Angeklagte dort tatsächlich wohnhaft war. Am Briefkasten war sein Name angebracht und eine Hausmitbewohnerin hat gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten seine regelmäßige Anwesenheit bestätigt. Am 23.06.2022 nehmen Polizeikräfte den Angeklagten an der zuvor von seinem Verteidiger mitgeteilten Adresse fest. Der Angeklagte wurde zunächst dem AG vorgeführt, welches den Haftbefehl aufrecht erhielt und in Vollzug setzte. Nachdem der Angeklagte dies beantragt hatte, wurde er in der Folge am 01.07.2022 dem LG vorgeführt. Die Strafkammer hat Haftfortdauer angeordnet.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat. Das Rechtsmittel hatte beim OLG Erfolg. Das OLG bejaht den dringenden Tatverdacht, hat aber das Vorliegen eines Haftgrundes verneint. Der Angeklagte sei nicht flüchtig im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO (gewesen):

„2. Es fehlt jedoch an einem Haftgrund. Der Angeklagte war nicht flüchtig im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO.

a) Zwar war der Angeklagte nicht nur in vorliegender Sache, sondern auch in weiteren Verfahren für die Strafverfolgungsbehörden einige Zeit nicht erreichbar. Auch hat er es versäumt, seine aktuelle Anschrift mitzuteilen bzw. sich ordnungsgemäß umzumelden. Dies rechtfertigt die Anordnung bzw. Fortdauer der Untersuchungshaft jedoch nicht.

Denn der Haftgrund der Flucht ist nicht schon dann gegeben, wenn sich der Beschuldigte von seinem bisherigen Lebensmittelpunkt absetzt. Vielmehr muss in subjektiver Hinsicht hinzukommen, dass der Wechsel des Wohn- oder Aufenthaltsortes erfolgt, um zumindest auch in einem Strafverfahren unerreichbar zu sein und sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen (BeckOk StPO/Krauß, 43. Ed., § 112, Rn. 18). Es muss sich aus den Gesamtumständen der Wille des Angeklagten ergeben, sich dem Verfahren nicht stellen zu wollen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. Dezember 2016 – 2 Ws 343/16, BeckRS 2016, 110810, Rn. 42). Bloße Nachlässigkeit, und sei sie auch noch so unverständlich, begründet den Haftgrund der Flucht dagegen nicht.

b) Gemessen hieran erweist sich der angefochtene Beschluss als rechtsfehlerhaft.

Gegen ein zielgerichtetes Untertauchen spricht schon, dass der Angeklagte an seiner neuen Wohnung sowohl am Klingelschild als auch auf dem Briefkasten jeweils seinen Namen anbrachte. Dies ergibt sich zum einen aus den vorgelegten Lichtbildern, zum anderen aber auch aus den im Rahmen der polizeilichen Anschriftenüberprüfung gewonnenen Erkenntnissen. Dass es sich nicht um eine Scheinanschrift handelte, belegen überdies die Angaben einer von den Polizeibeamten befragten Hausbewohnerin, die die regelmäßige Anwesenheit des Angeklagten in seiner Wohnung ausdrücklich bestätigte. Weiter konnte der Angeklagte problemlos und ohne dass es besonderer Fahndungsmaßnahmen bedurft hätte zeitnah an seiner Wohnanschrift festgenommen werden.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte über seinen Verteidiger unmittelbar nach dem Erlass des Einstellungsbeschlusses sowohl telefonisch als auch schriftsätzlich seine neue Anschrift mitteilen ließ. Er hat seine Wohnanschrift gegenüber dem Landgericht also nicht länger verschwiegen oder gar zu verheimlichen versucht, sondern diese im Gegenteil sogar aktiv offenbart.

All dies spricht gegen die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe es zumindest billigend in Kauf genommen, dass das Verfahren gegen ihn aufgrund seines Wohnsitzwechsels nicht durchgeführt werden kann, zumal sein Aufenthaltsort vor Erlass des Haftbefehls leicht über eine Anfrage bei seinem Verteidiger hätte abgeklärt werden können.

3. Darüber hinaus sind auch keine anderen Haftgründe ersichtlich.

Verdunkelungsgefahr liegt ersichtlich nicht vor und es sind auch keine hinreichend konkreten Tatsachen ersichtlich, auf die die Annahme von Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt werden könnte. Zwar hat der Angeklagte im Fall der Verurteilung eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe zu gewärtigen, wenngleich dann im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen wäre, dass die Tat zwischenzeitlich mehr als drei Jahre zurückliegt. Zudem vermag die Straferwartung alleine Fluchtgefahr ohnehin nicht zu begründen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112, Rn. 24). Darüber hinaus hat sich der Angeklagte — wohl wissend, dass ihm eine erhebliche, nicht mehr bewährungsfähige Freiheitsstrafe droht — dem bisherigen Verfahren gestellt. Insbesondere ist er zu den Hauptverhandlungsterminen jeweils erschienen, ohne dass dies durch Zwangsmaßnahmen sichergestellt werden musste. Der Umstand, dass er sich an zwei Verhandlungstagen nicht unerheblich verspätete, rechtfertigt die Annahme von Fluchtgefahr nicht.

Weiter kommt hinzu, dass der Angeklagte auch dann keine Fluchtvorbereitungen traf, als der stellvertretende Vorsitzende in einem mit dem Verteidiger geführten Telefonat am 1. Ju-ni 2022 signalisierte, dass eine Strafe im bewährungsfähigen Bereich aus Sicht der Straf-kammer wohl nicht in Betracht komme. Dennoch ließ der Angeklagte, unmittelbar nachdem der Einstellungsbeschluss ergangen war, von seinem Verteidiger seine aktuelle Anschrift mitteilen. Auch blieb er in der Folge dort aufhältig. Fluchtgefahr scheidet deshalb aus.“

Der Entscheidung ist nichts hinzuzufügen, außer, dass sie zutreffend ist. Sie ist zudem ein schöner Beweis, dass die Kontrollmechanismen auch im Haftrecht (noch) funktionieren. Man ist zudem erfreut über den Hinweis des Senats an die Strafkammer, dass man die Anschrift des Angeklagten beim Verteidiger hätte abklären können. Das OLG geht also wohl von der Notwendigkeit eines solchen Anfrage aus, wobei dahin gestellt bleiben soll, ob darauf eine Antwort erfolgt. Aber: Fragen kann man ja mal.

Zu begrüßen ist auch die Auffassung des OLG, dass alleine die – eine „hohe“ – Straferwartung nicht ausreicht, um die Fluchtgefahr zu begründen. Dabei geht es hier – die Vorstellungen der Strafkammer als richtig unterstellt – um ein Strafe von mehr als zwei Jahre bis zu der im ersten Rechtsgang verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen. Das ist eine Strafhöhe, bei der andere Gerichte ohne Probleme Fluchtgefahr angenommen hätten. Dazu nachher mehr.