Archiv der Kategorie: Urteilsgründe

StGB II: Prämienloch bei privater Pflegeversicherung, oder: War der Versicherungsnehmer leistungsfähig?

Bild von Wilfried Pohnke auf Pixabay

Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.01.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 554/21 – ordne ich dann auch mal unter „StGB“ ein, obwohl es in dem Beschluss  um eine Ordnungswidrigkeit geht. Ist aber eben auch „materielles Recht“. :-).

Das AG hat den Betroffenen „vorsätzlicher Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 121 Abs. 1 [Nr.] 6 in Verbindung mit §§ 23 I 1, 51 Abs. 1 Satz 2 SGB XI“ zu einer Geldbuße verurteilt. Nach den getroffenen Feststellungen schloss der Betroffene bei einer privaten Krankenversicherung am 01.03.2002 zusammen mit einer privaten Krankenversicherung einen Vertrag zur Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Bereits im Jahr 2014 sei der Vertrag „notleidend“ geworden, da der Betroffene mit Prämienzahlungen in Rückstand geraten sei. Die Pflegeversicherung sei seit dem 01.01.2015 „unbezahlt“. Unter dem Datum des 19.05.2020 habe die Krankenversicherung dem Betroffenen ein Erinnerungsschreiben zugesandt. Da für den Zeitraum 01.06.2021 bis zum 02.12.2021 keine Beiträge gezahlt worden seien, habe die pp. das Bundesversicherungsamt informiert (vgl. § 51 Abs. 1 S. 1 SGB XI). Die Höhe des Beitragsrückstandes zwischen dem 01.06.2021 und dem 02.12.2021 belaufe sich auf 1.809,48 EUR.

„Dagegen die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die Erfolg hatte:

2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet, weil das angefochtene Urteil einer materiell-rechtlichen Überprüfung im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht standhält. Die getroffenen Feststellungen sind unzureichend und tragen den Vorwurf der Begehung einer Ordnungswidrigkeit gemäß § 121 Abs. 1 Nr. 6 SGB XI nicht, wonach ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder leichtfertig mit der Entrichtung von sechs Monatsprämien zur privaten Pflegeversicherung in Verzug gerät.

a) Den Beschlussgründen ist zwar zu entnehmen, dass sich der Betroffene gegen das Risiko Krankheit bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert hat und demgemäß auch zur Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit bei diesem Unternehmen verpflichtet war (§ 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XI). Der Tatbestand des § 121 Abs. 1 Nr. 6 SGB XI, der einen Rückstand von mindestens sechs Monatsprämien zur privaten Pflegeversicherung sanktioniert (vgl. Bassen in: Udsching, SGB XI, 3. Aufl. § 121 Rn. 8; Krahmer/Stier in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, 4. Aufl., § 212 Rn. 12), setzt voraus, dass aufgrund des Abschlusses einer privaten Krankenversicherung eine Pflicht zur privaten Pflegeversicherung besteht (vgl. BT-Drucksache 12/5262, S. 155f.; 12/5952, S. 50). Die Versicherungspflicht entfällt insoweit erst bei – zulässiger – Beendigung der privaten Krankenversicherung.

Das Amtsgericht hat jedoch nicht berücksichtigt, dass die Verwirklichung des Tatbestandes eine Leistungsfähigkeit des Betroffenen voraussetzt, und hat hierzu Näheres nicht festgestellt. Bei § 121 Abs. 1 Nr. 6 SGB XI handelt es sich um ein echtes Unterlassungsdelikt (vgl. zur Abgrenzung KK-Rengier, OWiG, 6. Aufl., § 8 Rdnr. 8), das nach allgemeinen Grundsätzen als zusätzliches Tatbestandsmerkmal voraussetzt, dass dem Handlungspflichtigen die Erfüllung seiner gesetzlichen Pflicht möglich und zumutbar ist (vgl. BGHSt 47, 318ff.; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04. Januar 2012, L 5 AS 455/11, zit. n. juris; Gürtler/Thoma in: Göhler, OWiG, 18. Aufl., § 8 Rnr. 7; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 13 Rn. 44; siehe auch § 266a Rdnr. 14f.). Deshalb fehlt es an der Vorwerfbarkeit der Nichtentrichtung der Versicherungsprämien, wenn dem Betroffenen aufgrund schlechter finanzieller und wirtschaftlicher Verhältnisse eine Prämienzahlung im Einzelfall nicht möglich oder jedenfalls nicht zumutbar ist. Dass er nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts für seine finanzielle Leistungsfähigkeit verschuldensunabhängig einzustehen hat, ist für die Frage der Vorwerfbarkeit eines bußgeldbewehrten Unterlassens irrelevant.

Das Amtsgericht hat in den Entscheidungsgründen lediglich ausgeführt, dass sich der Betroffene dahin eingelassen habe, nicht in der Lage zu sein, die Beiträge zu entrichten (Bl. 3 UA); konkrete Feststellungen dazu hat die Bußgeldrichterin jedoch nicht getroffen. Hinsichtlich des Beitragsrückstandes zwischen dem 1. Juni 2020 und dem 2. Dezember 2020 ist überdies unklar, ob sich die genannte Summe von 1.809,48 € auf die Krankenversicherung, auf die Pflegeversicherung oder auf beides bezieht….“

OWi III: Schlechte Qualität des „Vorfallsfotos“, oder: Dann Einholung eines anthropologischen Gutachtens

In der letzten Entscheidung des Tages geht es dann mal wieder um das Lichtbild vom Vorfall und damit um die Identifizierung des Fahrers zum Vorfallszeitpunkt. Das AG hat den Betroffenen im Beschlussverfahren (§ 72 OWiG) wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Es hat sich dabei auf ein „Vorfallsfoto“ gestützt. Das genügte dem OLG hier nicht und es hat mit dem OLG Karlsruhe, Beschl. v. 02.02.2022 -3 Rb 33 Ss 854/21 – aufgehoben:

„1. Die auf die Sachrüge gebotene Überprüfung des angefochtenen Beschlusses führt zu dessen Aufhebung, weil die Beweiswürdigung zu der Feststellung, dass der Betroffene der Fahrer war, rechtlicher Überprüfung nicht standhält.

Das Amtsgericht stützte seine Überzeugung davon, dass der Betroffene der Fahrer des gemessenen Pkws war, auf eine vergleichende Betrachtung des auf dem Messfoto (AS 9) abgebildeten Fahrers, des Von der Verwaltungsbehörde zu den Akten gebrachten Porträtbildes des Betroffenen (AS 23) und des vom Betroffenen selbst eingesandten Lichtbildes (AS 89). Hierbei hätten sich deutliche Übereinstimmungen des Betroffenen mit dem auf dem Foto Abgebildeten gezeigt (junger Mann mit dunklem Backenbart, rundem, vollem Gesicht, einer geraden, eher breiten Nase, einem kräftigen Hals sowie einer charakteristischen Oberlippenpartie mit ausgeprägter vertikaler Mulde zwischen Mund und Nase).

Auch wenn dem Rechtsbeschwerdegericht im Beschlussverfahren nach § 72 OWiG – anders als im Urteilsverfahren – durch die erhobene Sachrüge der Zugang zu den Prozessakten eröffnet ist und ihm infolgedessen der gesamte Akteninhalt, insbesondere somit auch das Messfoto, zur Verfügung steht (vgl. OLG 8amberg, 8. v. 21.2.2018 – 2 Ss OWi 111/18), kann der Senat aufgrund der schlechten Qualität des Messfotos die vom Amtsgericht in diesem Fotobild festgestellten Identifizierungsmerkmale (u.a. rundes, volles Gesicht, ausgeprägte vertikale Mulde zwischen Nase und Mund) nicht zweifelsfrei erkennen.

Vor einer neuen Entscheidung wird deshalb ein Sachverständigengutachten einzuholen sein (zu den Anforderungen an ein anthropologisches Identitätsgutachten und dessen Darlegung im Urteil: OLG Zweibrücken, B. v. 29.1.2018 – 1 OWi 2 Ss8s 98/17 [auch zum Hinzutreten weiterer gewichtiger Indizien]; vgl. auch Huckenbeck/Krumm, NZV 2017, 453).“

OWi III: Verdoppelte Geldbuße nicht mehr geringfügig, oder: Nochmals Begründungsanforderungen

Bild von ElisaRiva auf Pixabay

Und zum Tagesschluss habe ich dann noch eine OLG-Entscheidung zu den Begründungsanforderungen bei Festsetzung einer Geldbuße, die über der sog. Geringfügigkeitsgrenze liegt. Es handelt sich um den OLG Brandenburg, Beschl. v. 24.11.2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 488/21.

Festgesetzt worden ist vom AG  nach Beschränkung des Einspruchs auf den Rechtsfolgenausspruch eine „verdoppelte“ Geldbuße von 480 EUR. Dem OLG reicht die Begründung des Rechtsfolgenausspruch nicht:

„2. Die in dem angefochtenen Beschluss für die Höhe der Geldbuße enthaltene Begründung genügt nicht den Anforderungen nach §§ 71 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 3 Satz 1 StPO, da sie aufgrund ihrer Lückenhaftigkeit dem Senat als Rechtsbeschwerdegericht die erforderliche Überprüfung nicht ermöglicht. Das Amtsgericht hat eine Geldbuße in Höhe von 480,00 Euro verhängt, die damit deutlich über der bei 250,00 Euro festzusetzenden Geringfügigkeitsgrenze des § 17 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG liegt, von der an genauere Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen als Bemessungskriterium für die Höhe der Geldbuße zu treffen sind (st. Senatsrechtsprechung, vgl. statt vieler: Senatsbeschluss vom 18. April 2017, (1 B) 53 Ss-OWi 194/17 (94/17); Senatsbeschluss vom 8. Juni 2010, 1 Ss (OWi) 109 B/10; siehe auch Kammergericht VRS 122, 285, 286 m. w. N.; Kammergericht VRS 111, 202; OLG Celle NJW 2008, 3079; OLG Jena VRS 110, 443, 446; OLG Jena VRS 113, 351; OLG Köln ZfSch 2006, 116; OLG Düsseldorf NZV 2000, 426; OLG Düsseldorf NZV 2008, 161; OLG Bamberg GewArch 2007, 389, 390; BayObLG DAR 2004, 594; OLG Zweibrücken NZV 1999, 219; OLG Zweibrücken NZV 2002, 97). In dem angefochtenen Beschluss fehlt es an jeglichen Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen, die etwaige Rückschlüsse auf seine finanzielle Situation ermöglichen. Überdies sind solche Feststellungen bei einer Geldbuße wie der vorliegenden auch deshalb veranlasst, um dem Rechtsbeschwerdegericht die Prüfung zu ermöglichen, ob der Tatrichter rechtsfehlerfrei von Erörterungen zu Zahlungserleichterungen nach § 18 OWiG abgesehen hat (vgl. OLG Hamburg NJW 2004, 1813 (1815)). Zudem lässt der Beschluss erkennen, dass die Höhe der verhängten Geldbuße auch auf eine verkehrsrechtliche Vorbelastung des Betroffenen zurückzuführen ist, ohne diese Vorbelastung näher zu bezeichnen.“

OWi I: Bezugnahme auf das „Tatlichtbild“ zulässig?, oder: Nein, denn es geht um den „Urkundeninhalt“

Bild von Michael Schwarzenberger auf Pixabay

In der Mitte der 11. KW. heute dann drei OWi-Entscheidungen.

Zunächste etwas aus Bayern, und zwar der BayObLG, Beschl. v. 31.01.2022 – 202 ObOWi 106/22 – zur Frage der Bezugnahme auf in ein Messfoto eingeblendete Daten. Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Das BayObLG meint in der Rechtsbeschwerde, dass die vom AG getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, und zwar auch nicht im Hinblick auf die vom AG gemnäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO vorgenommene Bezugnahme auf das „Tatlichtbild“. Denn:

„d) Auch die in den Urteilsgründen nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO erfolgte Bezugnahme auf das „Tatlichtbild“ erlaubt es dem Senat nicht, die dortigen Textfelder zur Korrektur der Urteilsgründe und Auflösung des Widerspruchs in den tatrichterlichen Feststellungen heranzuziehen.

aa) Die Bestimmung des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO, wonach der Tatrichter zur Erleichterung der Darstellung von Abbildungen wegen der Einzelheiten in Abkehr von dem grundsätzlichen Erfordernis, die maßgeblichen Umstände in den Urteilsgründen zu schildern, die Abbildung durch Bezugnahme zum Inhalt der Urteilsurkunde machen kann, erlaubt dem Senat nicht den Rückgriff hierauf, um Widersprüche in den Tatsachenfeststellungen des tatrichterlichen Urteils aufzulösen. Die Verweisung auf Urkunden, um deren Inhalt es geht, gestattet § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO gerade nicht (BGH, Urt. v. 20.10.2021 – 6 StR 319/21; 20.01.2021 – 2 StR 242/20, jew. a.a.O.). Bei den Messdaten handelt es sich aber nicht etwa um Abbildungen, die durch Inaugenscheinnahme zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemäß § 261 StPO gemacht werden könnten. Vielmehr geht es bei deren Verwertung um den Inhalt einer textlichen Darstellung, die allein dem Urkundenbeweis nach § 249 StPO zugänglich ist (ebenso: OLG Hamm, Beschl. v. 09.03.2021 – III-4 RBs 44/21 = ZfSch 2021, 531; 21.01.2016 – III-4 RBs 324/15 = NStZ-RR 2016, 121 = NZV 2016, 241; OLG Düsseldorf Beschl. v. 08.01.2016 – IV-3 RBs 132/15 = DAR 2016, 149; BeckOK StPO/Peglau [41. Ed. 1.10.2021] § 267 Rn. 11; KK-StPO/Kuckein/Bartel 8. Aufl. StPO § 267 Rn. 19, Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 267 Rn. 9), weil es nicht auf das äußere Erscheinungsbild des Textes, sondern allein den Inhalt ankommt. Eine über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO hinausgehende, entsprechende Anwendung dieser Bestimmung auf in den Akten befindliche Urkunden verbietet sich schon aus methodischen Gründen. Denn bei § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO handelt es sich um eine eng auszulegende und damit nicht analogiefähige Ausnahmevorschrift, die den Grundsatz, dass ein Urteil aus sich heraus verständlich sein muss, durchbricht.

bb) Es bedarf auch keiner Entscheidung, ob die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach die strenge Differenzierung zwischen Urkunden- und Augenscheinsbeweis für die Frage, ob der Urkundeninhalt wirksam aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) geschöpft wurde, dann eine Grenze findet, wenn der gedankliche Inhalt der Urkunde quasi „durch einen Blick“ auf diese erfasst wird (BGH, Beschl. v. 12.12.2013 – 3 StR 267/13 = NStZ 2014, 606 = StV 2015, 78), auf die Ergänzung der Urteilsgründe durch Bezugnahme auf entsprechende Textteile übertragen werden kann. Denn jedenfalls fehlt es schon an der vom Bundesgerichtshof postulierten Prämisse der Feststellung „auf einem Blick“. Der Text, der im Zusammenhang mit dem Messbild wiedergegeben wird, erschöpft sich nicht lediglich in einem Messwert, sondern enthält zahlreiche Textfelder über mehrere und auch über das Messbild verteilte Zeilen mit unterschiedlichsten Daten. Darauf, ob eine einzelne der dort abgedruckten Daten „auf einen Blick“ erfasst werden könnte, kommt es nicht an. Denn dies würde zur zuverlässigen Gewährleistung eines richtigen Ergebnisses schon deswegen nicht ausreichen, weil es zum Zwecke einer fehlerfreien Zuordnung zum verfahrensgegenständlichen Vorwurf auch eines Rückgriffs auf die weiteren Daten bedürfte und deren Abgleich untereinander geboten wäre, was darauf hinausliefe, dass das Rechtsbeschwerdegericht unzulässiger Weise Beweis erheben und eigene Sachverhaltsfeststellungen treffen müsste. Es ist indes nicht Aufgabe des Rechtsbeschwerdegerichts, das Urteil möglicherweise tragende Umstände selbst herauszufinden und zu bewerten; bei einem solchen Vorgehen handelt es sich nicht mehr um ein Nachvollziehen des Urteils, sondern um einen Akt eigenständiger Beweiswürdigung, der dem Rechtsbeschwerdegericht verwehrt ist (BGH, Urt. v. 02.11.2011 – 2 StR 332/11 = BGHSt 57, 53 = NJW 2012, 244 = GuT 2011, 541 = NZV 2012, 143 = NStZ 2012, 228 = StV 2012, 272 = BGHR StPO § 267 Abs 1 S 3 Verweisung 4).

cc) Darauf, dass der Tatrichter im Rahmen seiner Bezugnahme nicht einmal die Fundstelle in der Akte zitiert (vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 14.09.2011 – 5 StR 355/11 = BGHR StPO § 267 Abs 1 S 3 Verweisung 3), kommt es nach alledem nicht mehr entscheidend an. Gleiches gilt für den Umstand, dass im angefochtenen Urteil, ohne dies weiter zu hinterfragen, zudem festgestellt wurde, dass das Messgerät „bis zum Jahresende 2020 gültig geeicht“ gewesen sei, obwohl der Verstoß sich am 11.04.2021 ereignete.“

Verkehr II: Absehen von der Fahrerlaubnisentziehung, oder: Die Feststellungen müssen stimmen

Bild von Steffen L. auf Pixabay

Die zweite Entscheidung kommt dann auch vom KG.

Das hat im KG, Urt. v. 10.12.2021 – 3 Ss 56/21 – zu einigen Fragen in Zusammenhang mit der Wirksamkeit einer Berufungsbeschränkung Stellung genommen. Insoweit müssen hier die Leitsätze reichen, und zwar:

  1. Im Zweifel ist eine von der Staatsanwaltschaft eingelegte (Sprung-)Revision (auch) zuungunsten eines Angeklagten eingelegt. Bei Erhebung der allgemeinen Sachrüge wird die uneingeschränkte Überprüfung des tatrichterlichen Urteils begehrt.
  2. Eine Beschränkung des Rechtsmittels auf die Frage des Maßregelausspruchs nach §§ 69 ff. StGB ist dann nicht möglich, wenn im Einzelfall eine untrennbare Wechselwirkung zum Strafausspruch besteht. In einer solchen untrennbaren Wechselwirkung stehen regelmäßig Fahrverbot und Fahrerlaubnisentziehung.

Außerdem hat das KG sich zum Absehen von der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) geäußert. Vom LG war abgesehen worden. Das hat dem KG nicht gefallen:

„b) Auch das Absehen von der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB ist durchgreifenden rechtlichen Bedenken ausgesetzt.

aa) Entgegen den Ausführungen des Amtsgerichts greift vorliegend die Regelvermutung für die Fahrerlaubnisentziehung nach § 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 StGB.

Danach liegt ein Regelfall der Fahrerlaubnisentziehung wegen charakterlicher Ungeeignetheit vor, wenn der Täter eines unerlaubten Entfernens vom Unfallort im Sinne von § 142 StGB weiß oder wissen kann, dass an fremden Sachen bedeutender Schaden entstanden ist.

Ob ein bedeutender Schaden vorliegt, bemisst sich allein nach wirtschaftlichen Kriterien und beurteilt sich nach der Höhe des Betrages, um den das Vermögen des Geschädigten als direkte Folge des Unfalls vermindert wird (vgl. OLG Hamm NZV 2011, 356 m.w.N.). Entscheidend ist der Geldbetrag, der erforderlich ist, den Geschädigten so zu stellen, als wäre das schädigende Ereignis nicht eingetreten (BGH NStZ 2011, 215). Die Frage, welche Schadenspositionen dabei außer den Reparaturkosten zu berücksichtigen sind, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt, kann aber dahinstehen, da allein die – rechtskräftig festgestellten – Reparaturkosten von 3.096,34 Euro (netto) schon einen bedeutenden Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB darstellen (vgl. BayObLG, Beschluss vom 17. Dezember 2019 – 204 StRR 1940/19 -, BeckRS 2019, 38522). Auf weitere vom Tatgericht vermisste „genaue Feststellungen zur Schadenshöhe“, die es wegen des unentschuldigten Ausbleibens eines Zeugen nicht aufklären zu können glaubte, kommt es diesbezüglich nicht an.

bb) Die Annahme einer Ausnahme von diesem Regelprinzip durch das Amtsgericht ist rechtsfehlerhaft; die dazu getroffenen Feststellungen erweisen sich ebenfalls als lückenhaft.

Entgegen der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB kann von der Entziehung der Fahrerlaubnis nur dann abgesehen werden, wenn besondere Umstände vorliegen, die den seiner allgemeinen Natur nach schweren und gefährlichen Verstoß in einem anderen Licht erscheinen lassen als den Regelfall oder die nach der Tat die Eignung günstig beeinflusst haben (vgl. BT-Drs. IV/651, 17).

Solche Umstände lassen sich den Urteilsausführungen nicht entnehmen. Diese beschränken sich darauf mitzuteilen, dass – selbst wenn entgegen der Einschätzung des Amtsgerichts die Regelvermutung des § 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 StGB greifen sollte, „[u]nter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Fahrerlaubnis bereits seit dem 24. November 2020 vorläufig entzogen war, […] eine Entziehung der Fahrerlaubnis nicht mehr angemessen und erforderlich“ (UA S. 2) erscheine. Der bloße Zeitablauf rechtfertigt ein Absehen von der Maßregel indes nicht (vgl. Senat, Urteil vom 1. November 2010 a.a.O.). Da der Eignungsprüfung der Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht vorgegriffen werden soll (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. März 1999 – 1 Ws 191/99 -, juris), bedarf es in aller Regel der Feststellung von zusätzlichen Tatsachen, die über den bloßen Zeitablauf hinaus belegen, dass die Angeklagte zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht mehr ungeeignet ist (vgl. Senat, Urteil vom 1. November 2010 a.a.O.). Diese zusätzlichen Tatsachen fehlen hier.

Dies gilt gleichermaßen, sollte das Amtsgericht eine Gesamtwürdigung im Rahmen von § 69 Abs. 1 StGB vorgenommen haben wollen.“