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Strafzumessung III: Falsche Einkommensschätzung, oder: Zulässigkeit von Finanzermittlungen

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Und dann zum Schluss des Tages noch einmal der OLG Celle, Beschl. v. 31.03.2023 – 3 Ss 3/23. „Noch einmal“, weil ich über den hier schon einmal berichtet habe (vgl. hier: StPO II: Wirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses, oder: Name des Angeklagten und Aktenzeichen fehlen).

Ich komme jetzt auf den Beschluss noch einmal wegen der Ausführungen des OLG zur Tagessatzhöe zurück:

„2. Die Festsetzung der Höhe der Tagessätze auf 200 EUR hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung indes nicht stand.

Gemäß § 40 Abs. 2 StGB bestimmt das Gericht die Höhe eines Tagessatzes unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters, wobei in der Regel von dem Nettoeinkommen auszugehen ist, das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat oder haben könnte. Wenn der Angeklagte – der zu Auskünften nicht verpflichtet ist – keine, unzureichende oder gar unzutreffende Angaben zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen macht, sind diese grundsätzlich durch Finanzermittlungen aufzuklären (vgl. Nr. 14 RiStBV). Eine Schätzung des Einkommens ist immer dann angezeigt, wenn eine Ausschöpfung der Beweismittel das Verfahren unangemessen verzögern würde oder der Ermittlungsaufwand zu der zu erwartenden Geldstrafe in einem unangemessenen Verhältnis stünde (BeckOK StGB/Heintschel-Heinegg, 45. Ed. 1.2.2020, StGB § 40 Rn. 18). Eine volle Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel ist dabei nicht geboten. Jedoch darf nicht „ins Blaue hinein“ geschätzt werden; vielmehr setzt eine Schätzung die konkrete Feststellung der Schätzungsgrundlagen voraus; bloße Mutmaßungen genügen nicht. Die Grundlagen, auf welche sich die Schätzung stützt, müssen festgestellt und erwiesen sein sowie im Urteil überprüfbar mitgeteilt werden (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 1. Juni 2015 – 2 BvR 67/15 –, juris).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht in jeder Hinsicht gerecht.

Das Landgericht hat das Einkommen des Angeklagten auf 6.000 € netto nach Abzug seiner Unterhaltsverpflichtungen geschätzt, wobei es berücksichtigt hat, dass der Angeklagte nicht nur Geschäftsführer, sondern auch Gesellschafter eines „größeren“ Handwerksbetriebes mit einer „gewissen“ Anzahl von Angestellten sei. Zudem sei der Betrieb des Angeklagten auch Ausbildungsbetrieb und die Betriebsräumlichkeiten seien großzügig und gut ausgestattet.

Die getroffenen Feststellungen zu dem von dem Angeklagten betriebenen Handwerksbetrieb tragen nicht die Schlussfolgerung, dass der Angeklagte in dem relevanten Betrachtungszeitraum ein monatliches Nettoeinkommen von 6.000 Euro netto nach Abzug seiner Unterhaltsverpflichtungen erzielt hat.

Insoweit bleibt bereits im Ausgangspunkt die vom Landgericht in Ansatz gebrachte Höhe der abgezogenen Unterhaltsverpflichtungen unklar, denn das angefochtene Urteil erschöpft sich in der Mitteilung, ein Sohn des Angeklagten sei noch in der Ausbildung und werde von dem Angeklagten unterhalten. Das Urteil lässt jedoch Informationen dazu vermissen, ob die Ehefrau des Angeklagten ein eigenes Einkommen erzielt oder ob auch Unterhaltszahlungen des Angeklagten an seine Ehefrau in Abzug zu bringen waren.

Im Übrigen stellen sich die dargestellten Erwägungen des Landgerichts zur Höhe des Einkommens als bloße Mutmaßungen dar, denn das Urteil lässt konkrete Feststellungen zur Größe des Betriebes, zur Anzahl der Angestellten und Auszubildenden vermissen.

3. Da die Festsetzung der Tagessatzhöhe in aller Regel losgelöst vom übrigen Urteilsinhalt selbständig überprüft werden kann (vgl. BGHSt 27, 70, 72; 34, 90, 92) und hier keine Anhaltspunkte für eine andere Beurteilung bestehen, führt der festgestellte Mangel lediglich zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang und zu einer entsprechenden Zurückverweisung an das Berufungsgericht zur erneuten Festsetzung der Tagessatzhöhe.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Zur Aufklärung der wirtschaftlichen Verhältnisse eines Angeklagten, der hierzu keine Angaben macht, können in zwei Schritten Finanzermittlungen durchgeführt werden. Zunächst kann die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) um Auskunft über die Kontostammdaten des Angeklagten ersucht werden (§ 24c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG). Ein solches Auskunftsersuchen ist nicht an eine bestimmte Schwere der zu verfolgenden Straftat gebunden und auch in Fällen nur leichter Kriminalität zulässig (vgl. OLG Stuttgart, Beschl. v. 13.2.2015 ? 4 Ws 19/15, NStZ 2016, 48). Nach Erhalt der Auskunft zu den Kontostammdaten können die betreffenden Kreditinstitute um Auskunft zu den dort geführten Konten des Angeklagten ersucht werden (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. April 2021 – III-2 RVs 11/21 –, juris). Alternativ kommt hinsichtlich der aufzuklärenden Einkommensverhältnisse auch die Anordnung einer Durchsuchung in Betracht, wobei allerdings die Möglichkeit der Finanzermittlungen sowie die Schätzungsbefugnis gem. § 40 Abs. 3 StGB in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen sind (BeckOK StGB/Heintschel-Heinegg, 45. Ed. 1.2.2020, StGB § 40 Rn. 16).“

Strafzumessung II: Strafzumessung beim Unbestraften, oder: Strafmilderungsgrund „Unbestraftsein“

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Die zweite Entscheidung kommt dann mit dem BGH, Beschl. v. 06.06.2023 – 4 StR 133/23 – auch vom 4. Strafsenat des BGH. Dort hatte die Revision gegen ein im zweiten Durchgang ergangenes Urteil des LG Münster – erneut – Erfolg:

„Das Landgericht hatte die Angeklagte im ersten Rechtsgang unter Freisprechung im Übrigen wegen Beihilfe durch Unterlassen zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten verurteilt. Auf die Revision der Angeklagten hob der Senat das Urteil im Strafausspruch auf und verwarf die weiter gehende Revision. Die Feststellungen wurden aufrechterhalten.

Im zweiten Rechtsgang hat das Landgericht die Angeklagte erneut zu der Freiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich die Angeklagte mit ihrer auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Der Strafausspruch kann – auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 2021 – 5 StR 148/20 Rn. 18 mwN) – wiederum keinen Bestand haben.

a) Das Landgericht hat bei der Ablehnung eines minder schweren Falls gemäß § 176a Abs. 4 StGB (in der ab 27. Januar 2015 geltenden Fassung) und bei der konkreten Strafzumessung das Vorleben der Angeklagten lediglich unter den Gesichtspunkten ihrer eigenen Missbrauchserfahrung und ihrer besonderen Haftempfindlichkeit als Erstverbüßerin berücksichtigt.

b) Die Unbestraftheit eines Angeklagten ist ein gewichtiger Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO), dessen Berücksichtigung es regelmäßig bedarf (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2022 – 6 StR 61/22 Rn. 2 mwN; Beschluss vom 29. September 2016 – 2 StR 63/16 Rn. 15; Urteil vom 27. Oktober 1987 – 1 StR 492/87, NStZ 1988, 70; Beschluss vom 26. Mai 1982 – 3 StR 110/82, NStZ 1982, 376).

c) Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das straffreie Vorleben der Angeklagten hat die Strafkammer nicht ausdrücklich strafmildernd angeführt. Auch im Übrigen lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, dass das Landgericht das Fehlen von Vorstrafen bei der Strafrahmenwahl und der konkreten Strafzumessung beachtet hat. Es ist daher zu besorgen, dass ihm dies trotz der Übernahme der bindenden Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen der Angeklagten aus dem Urteil im ersten Rechtsgang aus dem Blick geraten ist.

d) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht ohne diesen Rechtsfehler eine niedrigere Strafe verhängt hätte.“

Strafzumessung I: Verbreitung/Herstellung von KiPo, oder: Abstellen auf ein „tatsächliches Geschehen“

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Strafzumessungsentscheidungen hätte ich länger nicht mehr. Heute kommen dann mal wieder drei.

Und als erste der BGH, Beschl. v. 22.05.2023 – 4 StR 124/23. Das LG hat den Angeklagten  „wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexueller Nötigung und mit Herstellung kinderpornographischer Inhalte sowie wegen Verbreitung kinderpornographischer Schriften“ verurteilt. Dagegen die Revision, die keinen Erfolg hatte:

„….

Ergänzend zur Antragsschrift bemerkt der Senat:

Soweit das Landgericht in den Fällen II.1. und 2. der Urteilsgründe strafschärfend berücksichtigt hat, dass die kinderpornographischen Schriften ein tatsächliches und nicht nur ein wirklichkeitsnahes Geschehen zum Gegenstand hatten, lässt dies nicht besorgen, dass das Landgericht dies losgelöst von den konkreten Umständen strafschärfend berücksichtigt und damit gegen § 46 Abs. 3 StGB verstoßen haben könnte (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 – 4 StR 657/98 , BGHSt 44, 361, 366 f. ). Das Landgericht hat vielmehr erkennbar auf die Schwere der konkreten Rechtsgutsverletzung abgestellt, die es nicht nur in dem erheblichen Gewicht der in dem Video festgehaltenen sexuellen Handlung, sondern auch darin gesehen hat, dass dieses ein reales Geschehen unter Beteiligung zweier Kinder zeigte. Die von der Revision beanstandete strafschärfende Erwägung begegnet daher unter den hier gegebenen Umständen keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2015 – 4 StR 570/14 ; Beschluss vom 17. Dezember 2008 – 2 StR 461/08 , NStZ-RR 2009, 103).“

OWi II: Geschwindigkeitsmessung mit Provida, oder: Nachträgliche Auswertung vom ProViDa-Video erlaubt

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Als zweite Entscheidung dann das AG Dortmund, Urt. v. 14.02.2023 – 729 OWi-264 Js 110/23 -12/23 – zur Geschwindigkeitsüberschreitung und Zulässigkeit der nachträglichen Feststellung der gefahrenen Geschwindigkeitsfeststellung durch nachträgliche Auswertung eines ProViDa-Videos. Das AG sagt: Ist zulässig und ist dann wie folgt vorgegangen:

„Das Gericht hat das Video des Vorfalls in Augenschein genommen und auch die bei-den Videoprints, anhand derer die Messung stattgefunden hat.

Zunächst war festzustellen bei Inaugenscheinnahme des Videofilms, dass das Video im Bereich startete, indem die Geschwindigkeit auf 80 km/h beschränkt wurde. Zu Beginn des Videos sind also die beidseitigen 80 km/h-Beschilderungen erkennbar und auch das Fahrzeug des Betroffenen, hinter das sich das Fahrzeug um 15:25:29 Uhr setzte.

Die Zeitangabe konnte das Gericht feststellen durch urkundsbeweisliche Verlesung des oberen rechten Datenfeldes des Messgerätes, eingespielt in die Videoaufnahme des Messsystems. In diesem Bereich unmittelbar vor der Front, ggf. eine Fahrzeug-länge davor, war zu dieser Zeit die linksseitige Beschilderung 60 km/h an der Fahr-bahn und ebenso die rechtsseitige Beschilderung sichtbar, an der der Betroffene vorbeigefahren ist und die er bei ordnungsgemäßer Sorgfalt im Straßenverkehr hätte beachten können und müssen.

Auf dem Video war dann sichtbar, wie der Betroffene im gleichbleibenden Abstand vor dem Polizeifahrzeug auf der linken Fahrspur herfuhr. Anhand der für das Polizei-fahrzeug durch das Messgerät stets eingespielten Geschwindigkeit, die das Gericht jeweils urkundsbeweislich verlesen konnte und die sich rechts unter im Video erkennen ließ, konnte festgestellt werden, dass der Betroffene stets die zulässige Höchst-geschwindigkeit während des gesamten zwischen 15:25:22 Uhr und etwa 15:29 Uhr gefertigten und in Augenschein genommenen Videos überschritten hat, bis nach dem geschwindigkeitsbegrenzenden 80-Km/h-Bereich ein Bereich von 120 km/h Höchst-geschwindigkeit folgt.

Bei Inaugenscheinnahme der maßgeblichen Prints der Messung (hier eingefügt; auf die beiden Prints wird wegen der Einzelheiten – insbesondere zur Größe des Fahr-zeugs des Betroffenen auf der linken Fahrspur, des gleichbleibenden Abstands zum videografierenden Polizeifahrzeug, der Erkennbarkeit der Beschilderung und der 2-spurigen Fahrbahnführung – verwiesen gem. § 267 Abs. 1 Nr. 3 StPO) konnte das Gericht feststellen, dass beide Prints aus einer Nachfolgesituation um 15:25:31 Uhr (unteres Print) und 15:25:37 Uhr (oberes Print) gefertigt wurden. Wegen der eingespielten und von der Eichung des Gerätes umfassten Uhrzeitangabe wurden die Datenfelder der Prints urkundsbeweislich verlesen. Das Polizeifahrzeug befand sich zu dieser Zeit gemeinsam mit dem Fahrzeug des Betroffenen auf dem linken Fahrstreifen und folgte diesem im gleichmäßigen Abstand. Ein Vergleich der Prints ergab dabei, dass das Fahrzeug des Betroffenen sich von dem Fahrzeug der Polizei geringfügig entfernte während der festgestellten Messstrecke, so dass dies eine zusätzliche Sicherheit zu Gunsten des Betroffenen bei der Geschwindigkeitsberechnung bot.

Das Gericht hat anhand der eingespielten und urkundsbeweislich verlesenen Daten in dem 1. genannten gefertigten Print einen Stand des Wegstreckenzählers von 188.981 Metern feststellen können und bei dem 2. Bild von 15:25:37 Uhr einen Weg-streckenzählerstand von 189.177 Metern. Hieraus ließ sich eine Differenz von 196 Metern für die freigewählte und freiwählbare Messstrecke feststellen.

Anhand der beiden Prints und der darin enthaltenen urkundsbeweislich verlesenen Datenfelder hat das Gericht dann auch die Zahl der einzelnen von dem Messgerät genutzten Einzelbilder zur Aufzeichnung feststellten können. Diese ergaben sich aus einem Vergleich des Einzelbildzählers auf dem 1. zeitlich gefertigten Lichtbild von 334.009 Bildern und bei dem 2. gefertigten Lichtbild von 334.167 Bildern, woraus sich eine Differenz von 158 Bilder für die gewählte Messstrecke ergab. Jedes dieser Bilder ist entsprechend der Bedienungsanleitung des ProViDa-Messgerätes und der technischen Gegebenheiten des Messsystems 0,04 Sekunden lang, so dass sich eine Messzeit von 6,32 Sekunden errechnen lässt.

Die Geschwindigkeit war dann zu berechnen anhand der Formel: 196 Meter Mess-strecke x 3,6 : 6,32 Sekunden. Hieraus ergab sich eine zu bestimmende Geschwindigkeit von 111,65 km/h. Hiervon hat das Gericht einen Toleranzabzug entsprechend der Bedienungsanleitung von 6 km/h vorgenommen, so dass sich nach Streichung der Nachkommastellen eine Geschwindigkeit von 105 km/h als vorwerfbare Geschwindigkeit ergab und folgerichtig eine Überschreitung von 45 km/h. Diese Art der Geschwindigkeitsfeststellung ist anerkannt, auch wenn sie kein standardisiertes Messverfahren darstellt (hierzu etwa: OLG Hamm Beschl. v. 22.6.2017 – 1 RBs 30/17, BeckRS 2017, 122484; AG Castrop-Rauxel Urt. v. 26.8.2022 – 6 OWi-264 Js 1170/22-486/22, BeckRS 2022, 22074; AG Lüdinghausen Urt. v. 20.4.2015 – 19 OWi-89 Js 1431/14-139/14, BeckRS 2015, 10022).“

StGB I: Ein „Knast für Quarantäne-Verweigerer“, oder: Verharmlosen von NS-Verbrechen?

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Ich mache heute dann mal wieder einen StGB-Tag. Also Entscheidungen zum StGB, und zwar alles sog. Äußerungsdelikte.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 21.03.2023 – 203 StRR 562/22. AG und LGhaben den Angeklagten wegen Volksverhetzung verurteilt. Das BayObLG hebt wegen nicht ausreichender Feststellungen für Verurteilung des Angeklagten wegen Volksverhetzung nach § 130 Abs. 3 StGB auf:

„Nach § 130 Abs. 3 StGB macht sich strafbar, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost. Das Merkmal des Verharmlosens ist erfüllt, wenn der Äußernde die Anknüpfungstatsachen für die Tatsächlichkeit der NS-Gewalttaten herunterspielt, beschönigt, in ihrem wahren Gewicht verschleiert oder in ihrem Unwertgehalt bagatellisiert oder relativiert (BGH, Urteil vom 22. Dezember 2004 – 2 StR 365/04 –, juris Rn. 24; Krauß in Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2009, § 130 Volksverhetzung Rn. 107). Der Täter muss in qualitativer oder quantitativer Hinsicht Art, Ausmaß, Folgen oder Unrechtsgehalt einzelner oder die Gesamtheit nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen herunterspielen (vgl. Krauß a.a.O.).

Ein solches Relativieren und Bagatellisieren ist durch die Feststellungen des Landgerichts nicht belegt. Danach postete der Angeklagte am 15. Januar 2021 in die Telegram-Gruppe „dd2_Plz91“, zugänglich für 148 Teilnehmer der Gruppe, zu angeblichen Plänen des Freistaates Sachsen, einen „Knast für Quarantäne-Verweigerer“ einzurichten, als Reaktion auf den Kommentar einer Nutzerin, dass dies gar nicht schlimm sei, folgenden Beitrag: „Ja, evtll gibt es dort auch Duschräume und Impfzentren. Wahrscheinlich auch gestreifte Einheitskleidung. Wenn ich der Staat wäre würde ich solche Lager mit Bahnanbindung bauen“. Das Landgericht hat in dieser Äußerung eine vergleichende Gegenüberstellung der Judenverfolgung und -vernichtung in den Konzentrationslagern unter der Herrschaft des Nationalsozialismus einerseits und möglichen politischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gesehen, wodurch der Angeklagte die Judenvernichtung gröblich herabgesetzt und verharmlost hätte.

Auf der Grundlage der Feststellungen zum Wortlaut der Äußerungen konnte das Landgericht hier nach der verfassungsmäßig gebotenen Auslegung der vom Angeklagten verwendeten Formulierungen jedoch nicht ohne weiteres von einer Verharmlosung der Judenverfolgung und Judenvernichtung ausgehen. Zwar hat das Bayerische Oberste Landesgericht einen Vergleich der Stimmung gegen die AfD und ihre Mitglieder mit dem nationalsozialistischen Völkermord von bis zu 6 Millionen Juden als Volksverhetzung angesehen, weil durch die Gleichsetzung von bloßen Befindlichkeiten und Belästigungen mit dem Holocaust den Verbrechen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates deren Dimension abgesprochen und ihr Unrechtsgehalt beschönigt wurde (vgl. BayObLG, Beschluss vom 25. Juni 2020 – 205 StRR 240/20 –, juris; ähnlich Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Entscheidung vom 5. Juli 2022 – 1854/22 –, juris Rn. 12). Ob dies indes der Zielsetzung des Angeklagten entsprach, ist den bislang getroffenen Feststellungen nicht hinreichend zu entnehmen. Vielmehr kann es auch das Ziel der Anspielungen auf Duschräume, Einheitskleidung und Bahnanbindung gewesen sein, den Freistaat Sachsen zu bezichtigen, im Zusammenhang mit der pandemischen Lage Internierungslager einzurichten, in denen Ungeimpfte und erkrankte Personen entrechtet, entmenschlicht und eventuell auch getötet würden, also das Bundesland mit dem Verdacht eines schimpflichen faschistischen Verhaltens zu überziehen. Dies würde nicht den Tatbestand von § 130 Abs. 3 StGB erfüllen. In der Darstellung eines Bundeslandes als Unrechtsstaat, der sogar die Ermordung ihm unliebsamer Personen organisiert, könnte indes – auch unter Berücksichtigung der Reichweite von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG – eine nach § 90a StGB tatbestandsmäßige Verunglimpfung eines Staatswesens in der Gesamtheit zu sehen sein (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Februar 2002 – 3 StR 446/01 –, juris Rn. 7; BayObLG, Beschluss vom 23. Oktober 1995 – 3 St 3/95 –, juris, unter 2b aa; BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 28. November 2011 – 1 BvR 917/09-, juris Rn. 24; Steinsiek in Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar, 13. Aufl. 2021, § 90a Rn. 10; Steinmetz in Münchener Kommentar, StGB, 4. Aufl., § 90a Rn. 11). Denn es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass in der Gleichsetzung der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihr angehörenden Landes mit einem faschistischen Staat eine Beschimpfung im Sinn von § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB gesehen wird (BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 287/93 –, juris Rn. 43).

Aufgrund der festgestellten Mängel war das Urteil des Landgerichts mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 349 Abs. 4, § 353 StPO). Da nicht auszuschließen ist, dass weitergehende Feststellungen getroffen werden können, die eine Verurteilung des Angeklagten nach § 130 Abs. 3 StGB oder nach § 90a Abs. 1 und 3 StGB tragen, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (354 Abs. 2 StPO). Dem neuen Tatrichter obliegt es dabei, nicht nur den Wortlaut, sondern auch den Sinn und den politischen Hintergrund der potentiell strafrechtlich erheblichen Äußerung festzustellen.

Die Rückverweisung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth erfolgt trotz des Umstandes, dass hier auch eine Verurteilung nach § 90a Abs. 3 StGB im Raum steht und damit eine Zuständigkeit der Staatsschutzkammer nach § 74a Abs. 1 Nr. 2 GVG in Betracht kommen könnte. Denn für die Zuständigkeit im Berufungsverfahren ist nach § 74 Abs. 3 GVG ausschließlich ausschlaggebend, welches Gericht in erster Instanz entschieden hat (BayObLG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – 206 StRR 220/22 –, juris Rn. 12; Gericke in KK-StPO, 8. Aufl., § 355 Rn. 6). Eine zulässige Verfahrensrüge der Verletzung von § 328 Abs. 2 StPO hat der Angeklagte nicht erhoben.