Archiv der Kategorie: Urteil

OWi II: Es war kein Handy, sondern ein Kühlakku, oder: „etwas unglückliche“ Beweiswürdigungsformulierung

Kühlakku

Und dann als zweite Entscheidung dann der OLG Hamm, Beschl. v. 29.08.2023 – III-5 ORbs 70/23 – zur Beweiswürdigung bei einem Handyverstoß.

Das AG hatte den Betroffenen wegen eines Verstoßes gegen § 23 Abs. 1 StVO verurteilt. Hier das AG Iserlohn, Urt. v. 15.11.2021 – 18 OWi 271/21 -, das ich mit einstelle, da man sonst den OLG Beschluss nicht versteht. Darin führt das AG aus:

„Der Betroffenen hat das Tatgeschehen bestritten. Er hat angegeben, immer Probleme mit seinen Zähnen gehabt zu haben und ein Kühlakku, welches von einem anthrazitfarbenen Handtuch umwickelt war, an seine linke Wange gehalten zu haben. Diesen Kühlakku brachte er zum Hauptverhandlungstermin mit.

Diese Angaben waren nach der durchgeführten Beweisaufnahme und Inaugenscheinnahme des besagten Akkus als Schutzbehauptung widerlegt.

Zum einen konnte schon eine Ähnlichkeit zwischen einem Handy und dem umwickelten Kühlakku nicht festgestellt werden. Die Einlassung des Angeklagten war schon wenig nachvollziehbar und plausibel. Gleichzeitig ist nicht nachvollziehbar weil widersprüchlich, aus welchen Gründen der Betroffene im Rahmen der anschließenden Verkehrskontrolle den einschreitenden Polizeibeamten gar nichts hinsichtlich seines vermeintlich genutzten Kühlakkus erwähnt hat. Erschwerend und mitentscheidend für die mangelnde Glaubhaftigkeit der Einlassung des Betroffenen sind die glaubhaften Angaben der Zeugin pp.. Diese gab an, dass sie sich vage erinnern könne. Sie wisse noch, dass es sich um eine gezielte Verkehrsüberwachung gehandelt habe und sie gefahren sei, der Kollege habe hinten und die Kollegin neben ihr im Fahrzeug gesessen. Sie hätten alle den Verstoß gesehen. Es habe sich 100 %-ig um ein Mobiltelefon gehandelt, keinesfalls um den mitgebrachten Kühlakku oder Ähnliches. Daran erinnere sie sich genau, da der Betroffene das Handy sofort heruntergenommen habe, als er von ihnen —den Zeugen- entdeckt worden sei. Die Angaben sind glaubhaft, weil lebensnah, plausibel und im Wesentlichen widerspruchsfrei. Es bestehen weder Zweifel an der Wahrnehmungsfähigkeit noch an der Wahrnehmungsbereitschaft der Zeugin. Insbesondere hat die Zeugin den Betroffenen nicht übermäßig belastet und hat auch eingeräumt, dass sie sich an die zeitliche Abfolge, wie lange sie n.eben dem Betroffen hergefahren seien, nicht genau erinnern könne. Auch ist keinerlei Motivation einer Falschbelastung auf Seiten der Zeugin erkennbar. Maßgeblich für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin war, dass diese das Geschehen in sich konstant wiedergegeben hat. Die Angaben standen auch nicht im Widerspruch zu den Bekundungen des Zeugen pp. Der Zeuge gab sofort an, sich nicht mehr genau an das Tatgeschehen erinnern zu können. Ob er oder seine Kollegin gefahren sei, wisse er nicht mehr genau. Er konnte sich lediglich an die Verkehrsüberwachung erinnern und daran, dass der Betroffene im Gespräch angegeben habe: „Eine Sauerei, dass aus einem Zivilfahrzeug heraus kontrolliert wird!“ Insoweit wertet das Gericht die Angaben des Betroffenen lediglich als reine Schutzbehauptung.

Dagegen die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die das OLG verworfen hat, und zwar mit folgendem Zusatz:

„Die Erwägungen in dem Schriftsatz des Verteidigers vom 25.08.2023 rechtfertigen keine andere Entscheidung.

Zwar ist die Formulierung des Tatgerichts in der Beweiswürdigung betreffend das Verhalten des Betroffenen im Rahmen der Verkehrskontrolle (vgl. UA S. 3) etwas unglücklich. Gleichwohl lässt sich daraus nicht der Schluss ziehen, das Amtsgericht habe das Schweigerecht des Betroffenen bzw. den Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ verletzt. Zum einen kann auch der Zeitpunkt, zu dem sich ein Betroffener zur Sache einlässt, ein Umstand sein, der im Rahmen der Gesamtwürdigung die Glaubhaftigkeit der Einlassung beeinflussen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 22.02.2001 — 3 StR 580/00 = BeckRS 2001, 30163532, beck-online). Zum anderen hat der Betroffene ausweislich der Urteilsgründe gar nicht vollständig von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht, sondern geäußert, es sei eine Sauerei, dass aus einem Zivilfahrzeug heraus kontrolliert werde (vgl. UA S. 4). Darüber hinaus ist die tragende Erwägung im Rahmen der — nur eingeschränkt überprüfbaren — Beweiswürdigung des Tatgerichts die Aussage der Zeugin.“

Als ich die Einlassung gelesen habe, musste ich mich an meine Fortbildungen im Verkehrsrecht erinnern 🙂 . Lang, lang ist es her, aber wird offenbar immer noch gern genommen die Einlassung. 🙂 .

OWi I: Geschwindigkeitsüberschreitung mit Motorrad, oder: Vorsatz, Lichtbild, Geldbuße, Fahrverbot

Und heute dann ein wenig OWi – die „Entscheidungslage“ ist in dem Bereich derzeit sehr mau.

Ich habe dann hier aber noch den auch schon etwas älteren BayObLG, Beschl. v. 10.07.2023 – 201 ObOWi 621/23.

Der Betroffene ist am 05.01.2023 – wegen einer am 25.7.2021 begangenen vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung –  Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 99 km/h – zu einer Geldbuße in Höhe von 1.200 EUR verurteilt worden; außerdem hat das AG ein Fahrverbot von zwei Monaten festgesetzt. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte keinen Erfolg, die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hatte hingegen Erfolg.

Das BayObLG hat u.a. die Fahrverbotsdauer angehoben. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext. Hier stelle ich nur die Leitsätze des BayObLG ein. Die lauten:

1. Bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen um mehr als 40 % kann in der Regel von vorsätzlicher Tatbegehung des Betroffenen ausgegangen werden, wenn dieser die zulässige Höchstgeschwindigkeit kannte.
2. Erst ab einem Zeitraum von zwei Jahren zwischen der Tat und der letzten tatrichterlichen Verhandlung ist allein wegen der Verfahrensdauer die Herabsetzung eines mehrmonatigen Regelfahrverbots in Betracht zu ziehen, wenn sich der Betroffene in der Zwischenzeit verkehrsordnungsgemäß verhalten hat.
3. Solange die im Bußgeldkatalog vorgesehene, nicht mehr geringfügige Regelgeldbuße verhängt wird, sind Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen nicht zwingend geboten, solange sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass diese außergewöhnlich schlecht sind.
4. Zu den Urteilsanforderungen bei Identifizierung des Fahrers anhand eines von dem Verkehrsverstoß gefertigten Lichtbildes.

 

StPO II: Verurteilung aufgrund einer DNA-Mischspur, oder: Anhaltspunkte für eine Sekundärübertragung?

In der zweiten BGH-Entscheidung geht es um die Beweiswürdigung bei Vorliegen einer DNA-Mischspur.

Das LG hat die Angeklagte wegen der Verletzung des Dienstgeheimnisses in drei Fällen verurteilt. Im Übrigen hat es sie vom Vorwurf der Beteiligung an einem BtM-Handel freigesprochen. Hiergegen richtet sich die zu Ungunsten der Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie angreift, dass die Angeklagte in einem Fall der Anklage nicht auch wegen tateinheitlicher Beihilfe zum (bandenmäßigen) Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt und in einem anderen Fall der Anklage freigesprochen wurde. Das vom GBA vertretene Rechtsmittel hatte Erfolg. Der BGH beanstandet im BGH, Beschl. v. 16.08.2023 – 5 StR 434/22 – die Beweiswürdigung des LG:

„a) Die Beweiswürdigung erweist sich, auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs des Revisionsgerichts (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2022 – 3 StR 185/22; NStZ-RR 2022, 372 f.), als rechtsfehlerhaft.

aa) Das Landgericht hat insoweit ausgeführt, dass die Angeklagte bestritten habe, in irgendeiner Form von dem Betäubungsmittelhandel der Nichtrevidenten gewusst zu haben. Sie habe zu keinem Zeitpunkt Betäubungsmittel gelagert oder transportiert. Ihre Einlassung sei „nicht mit der für eine Verurteilung nötigen Sicherheit zu widerlegen“. Für den Umstand, dass am 27. Januar 2021 die Betäubungsmittel in ihrer Wohnung gelagert wurden, gebe es eine Erklärung, die die Strafkammer „nicht mit der nötigen Sicherheit“ habe ausschließen können. Denn der Lebensgefährte der Angeklagten, A., dessen Daumenabdruck an einer Rewe-Tüte festgestellt wurde, die sich zusammen mit den Betäubungsmitteln in einer Media-Markt-Tüte befand, habe glaubhaft angegeben, dass die Angeklagte vom Rauschgift nichts gewusst habe. Dem stehe nicht entgegen, dass an der Außenseite einer der Vakuumverpackungen (des Marihuanas) innerhalb der Media-Markt-Tüte die DNA der Angeklagten als abgrenzbare Hauptkomponente in einer Mischspur gesichert werden konnte. Insoweit hat es die Strafkammer für „ohne weiteres vorstellbar“ gehalten, dass die DNA durch A. übertragen worden sei.

bb) Die Ausführungen werden den Maßstäben, die der Bundesgerichtshof an die Beweiswürdigung stellt, nicht gerecht.

Denn sie geht von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes aus und erweist sich als lückenhaft.

(1) Das Landgericht hat sich mit dem Beweiswert der festgestellten DNA der Angeklagten in einer Mischspur am Verpackungsmaterial der Betäubungsmittel nicht ausreichend auseinandergesetzt, obwohl es sich hierbei um ein gewichtiges, auf die Angeklagte als Teilnehmerin der Betäubungsmittelstraftat hindeutendes Indiz gehandelt haben könnte. Dessen Bedeutung hat das Landgericht sogleich – der Sache nach unter fehlerhafter Anwendung des Zweifelssatzes – mit Verweis auf eine „vorstellbare“ Sekundärübertragung relativiert. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Sekundärübertragung tatsächlich stattgefunden haben kann, lassen sich den Urteilsgründen indes nicht entnehmen. Das Landgericht hat vielmehr Zweifeln Raum gegeben, die lediglich auf einer abstrakt-theoretischen Möglichkeit gründen. Ein auf Tatsachen beruhendes Geschehen, das Rückschlüsse auf einen möglichen Übertragungsweg zuließe, wird nicht mitgeteilt. Insbesondere ergeben sich dafür keine weiterführenden Erkenntnisse aus der nur rudimentär wiedergegebenen Einlassung des A., wonach er „die Tüte dort deponiert“ habe. Weil das Landgericht auch nicht erörtert hat, wie sich der Fundort dieser DNA-Spur zu der ebenfalls festgestellten Daumenabdruckspur des A. verhält, fehlen dem Revisionsgericht wichtige Gesichtspunkte für die Überprüfung der Annahme einer Sekundärübertragung. Dies gilt auch, soweit im Urteil nicht angegeben wird, ob und gegebenenfalls welche weiteren Spuren an den Betäubungsmitteln und dem Verpackungsmaterial festgestellt wurden, und welche Erkenntnisse zu Anzahl und gegebenenfalls Identität der Mitverursacher der DNA-Mischspur vorgelegen haben. Solche Umstände sind aber von entscheidender Bedeutung. Denn eine Sekundärübertragung ist unwahrscheinlich, wenn Spuren des vorgeblichen Sekundärüberträgers völlig fehlen (vgl. dazu BGH, Urteil vom 3. Mai 2022 – 6 StR 120/21 Rn. 14). Nichts Anderes kann gelten, wenn zwar eine Spur eines möglichen Sekundärüberträgers vorhanden ist (Daumenabdruck des A.), zwischen dieser und einer festgestellten DNA-Spur (der Angeklagten) aber kein Zusammenhang erkennbar ist, so wie möglicherweise hier. Demgegenüber schließt die vom Landgericht in diesem Kontext angeführte Überlegung, dass die Angeklagte selbst im Ermittlungsverfahren die Überprüfung möglicher DNA-Spuren angeregt habe, und es deshalb „fernliegend“ sei, dass sie mit dem Auffinden solcher Spuren gerechnet habe, sie als direkte Verursacherin der Spur nicht aus; eine Sekundärübertragung wird allein hierdurch nicht „plausibel“.

(2) Zudem leidet die Beweiswürdigung unter einem durchgreifenden Darlegungsmangel, da die Ergebnisse des molekulargenetischen Gutachtens zu der festgestellten DNA-Mischspur nur unzureichend mitgeteilt werden.

Wenn sich das Tatgericht bei seiner Überzeugungsbildung auf das Gutachten eines Sachverständigen stützt, hat es im Urteil dessen wesentliche Anknüpfungstatsachen und Ausführungen so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind. Die Ergebnisse einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung sind dabei so darzustellen, dass sie nachvollziehbar sind. Dies gilt auch für die hier bedeutsame Frage eines indirekten Transfers von DNA-Material, weil insoweit der DNA-Gehalt einer Spur und die Anzahl der Übereinstimmung untersuchter DNA-Profile, neben anderen Faktoren, von wesentlicher Bedeutung sein kann (vgl. zum Forschungsstand: Vennemann/Oppelt/Grethe/Anslinger/H. Schneider/P.M. Schneider, NStZ 2022, 72, 78).

Bei DNA-Mischspuren muss danach grundsätzlich mitgeteilt werden, wie viele DNA-Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen mit den DNA-Merkmalen des Angeklagten ergaben und mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist (BGH, Urteil vom 29. April 2021 – 4 StR 46/21 Rn. 8; Beschlüsse vom 12. August 2021 – 2 StR 325/20; vom 29. Juli 2020 – 6 StR 211/20; jeweils auch zu den Darstellungsanforderungen bei Mischspuren).

Diese Anforderungen erfüllen die Ausführungen des Landgerichts nicht im Ansatz. Sie erschöpfen sich in der Mitteilung, dass eine DNA-Mischspur festgestellt worden sei, deren abgrenzbare Hauptkomponente von der Angeklagten stamme.“

StPO I: Wiedererkennen des Angeklagten durch Zeugen, oder: Anforderungen an die Urteilsgründe

© Dan Race Fotolia .com

Und heute dann noch einmal StPO-Entscheidungen, und zwar dreimal BGH (davon habe ich im Moment einiges)

Hier kommt dann zunächst der BGH, Beschl. v. 12.09.2023 – 4 StR 142/23 – zu den Anforderungen an die Urteilsgründe beim Wiedererkennen.

Das hat hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit zweifacher gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hatte Erfolg:

„Nach den getroffenen Feststellungen kam es zwischen dem Angeklagten und dem ihm unbekannten Geschädigten K. am Busbahnhof in M. zu einem Streit. In dessen Verlauf brachte der Angeklagte den Geschädigten auf dem Rücken zu Boden. Er kniete sich auf ihn und hielt ihn fest. Spätestens jetzt entschloss sich der Angeklagte im Einvernehmen mit seinen zwei Begleitern, dem Geschädigten die Geldbörse zu entwenden. Hierzu sprühte er ihm Pfefferspray in das Gesicht, um erwarteten Widerstand zu verhindern. Währenddessen bewegte sich der bis dahin unbeteiligte Geschädigte Me. auf den Angeklagten zu. Der dies wahrnehmende Angeklagte richtete nun den Strahl des Pfeffersprays auf den Herannahenden. Wie von ihm beabsichtigt, hielt der Geschädigte Me. inne und griff nicht in das Geschehen ein, nachdem er Pfefferspray in sein Auge bekommen hatte. Sodann drehte der Angeklagte den durch den Einsatz des Pfeffersprays eingeschüchterten Geschädigten K. am Boden zur Seite, sodass sein Begleiter die Geldbörse aus der Gesäßtasche greifen und an sich nehmen konnte. Anschließend entfernten sich der Angeklagte und seine Begleiter vom Tatort.

II.

1. Die Verurteilung des Angeklagten hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil sie einer tragfähigen Beweiswürdigung entbehrt.

a) Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten darauf gestützt, dass der Zeuge Kr.   den ihm unbekannten Angeklagten im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage bei der Polizei zu 100% und abermals in der Hauptverhandlung sicher wiedererkannte.

b) Diese Ausführungen genügen nicht den besonderen Darlegungsanforderungen in Fällen, in denen – wie vorliegend – der Tatnachweis auf einem Wiedererkennen des Angeklagten durch einen Tatzeugen beruht. Danach ist das Tatgericht aus sachlich-rechtlichen Gründen regelmäßig verpflichtet, die Angaben des Zeugen zur Täterbeschreibung zumindest in gedrängter Form wiederzugeben und diese sodann zum Erscheinungsbild des Angeklagten in der Hauptverhandlung in Beziehung zu setzen. Zudem sind in den Urteilsgründen diejenigen Gesichtspunkte darzulegen, auf denen die Folgerung des Tatgerichts beruht, dass insoweit tatsächlich Übereinstimmung besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2023 – 6 StR 516/22 Rn. 5 mwN; Beschluss vom 17. Februar 2016 – 4 StR 412/15 Rn. 3 mwN). Darüber hinaus bedarf es einer Mitteilung der Umstände, die zur Identifizierung des Angeklagten durch den Zeugen geführt haben (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2023 aaO mwN). Bei einem wiederholten Wiedererkennen in einer Hauptverhandlung ist außerdem zu beachten, dass eine verstärkte Suggestibilität der Identifizierungssituation besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 22. November 2017 – 4 StR 468/17 Rn. 4; Beschluss vom 29. November 2016 – 2 StR 472/16 Rn. 5 mwN).

c) Daran gemessen ist die Beweiswürdigung lückenhaft. Den Urteilsgründen lässt sich schon nicht entnehmen, aufgrund welcher konkreten äußeren Merkmale der Zeuge den Angeklagten wiedererkannte. Ferner fehlt es an einer Darlegung der Gesichtspunkte, die für die Folgerung der Strafkammer maßgebend waren, es liege tatsächlich eine Übereinstimmung vor. Schließlich hat sie nicht erkennbar bedacht, dass dem – wiederholten – Wiedererkennen des Angeklagten in der Hauptverhandlung durch den Zeugen ein allenfalls geringer Beweiswert zukam.“

Die Woche beginnt und endet mit ANOM-Chat, oder: Wunder 2.0 – OLG München verneint Verwertbarkeit

Bild von Couleur auf Pixabay

Und dann eine „Sondermeldung“ am Gebührenfreitag, die nichts mit Gebühren zu tun hat. Ich meine aber, dass ich die Entscheidung schnell einstellen und dazu hier berichten soll.

Es handelt sich um den OLG München, Beschl. v. 19.10.2023 – 1 Ws 525/23. Ich stelle ihn – außer der Reihe – ein, weil er auch die ANOM-Problematik zum Gegenstand habe, über die ich ja schon am Montag mit dem LG Memmingen, Urt. v. 21.08.2023 – 1 Kls 401 Js 10121/22 – berichtet habe (vgl. hier BtM II: Verwertbarkeit des ANOM-Chatverkehrs, oder: LG Memmingen nimmt Beweisverwertungsverbot an).

. Die Woche beginnt und endet also mit ANOM.

Und was viel wichtiger ist: Beide Entscheidungen lehnen die Verwertung der durch die Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ erlangten Erkennntisse mangels Überprüfbarkeit, was zu einem Beweisverwertungsverbot führt, ab. dabei geht es im OLG München-Beschluss auch um ein beim LG Memmingen anhängiges Verfahren, es handelt sich aber nicht um das Verfahren, in dem das Urteil v. 21.08.2023 ergangen ist. Das OLG nimmt aber auf den Beschluss des LG Memmingen Bezug und tritt ihm in der Argumentation bei. Ich beschränke mich daher – auch wegen des Umfangs des Beschlusses – hier auf (meinen) Leitsatz, der (ebenfalls) lautet:

„Die Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ sind mangels Überprüfbarkeit, was zu einem Beweisverwertungsverbot führt, nicht verwertbar.“

Hinweisen will ich hier aber auf die Ausführungen des OLG zu EncroChat-Rechtsprechung des BGH:

„Der BGH verneint dabei die Anwendbarkeit des § 100e Abs. 6 Nr. 1 auf den Fallkomplex EncroChat mit der Begründung, die Maßnahmen der französischen Strafverfolgungs-behörden seien gerade keine Maßnahmen nach den §§ 100b, 100c gewesen, was § 100e Abs. 6 Nr. 1 voraussetze. Aufgrund der Besonderheiten des Rechtshilferechts und des europäischen Rechtsrahmens seien die Maßstäbe für die Verwertbarkeit von durch ausländische Ermittlungseingriffe erlangte Beweismittel nicht vollständig identisch mit denjenigen, welche für inländische Ermittlungsmaßnahmen gelten. Allerdings könne zur Gewährleistung des notwendigen Grundrechtsschutzes auf die in den strafprozessualen Verwendungsbeschränkungen „verkörperten Wertungen“ – hier also § 100e Abs. 6 Nr. 1 – zurückgegriffen werden, um eine mangelnde Überprüfung der Eingriffsschwellen des französischen Strafverfahrensrechts auszugleichen. Die Voraussetzungen der in § 100e Abs. 6 Nr. 1 verkörperten Wertungen lägen indes vor, weil für die Bejahung des notwendigen Tatverdachts im Verwertungszeitpunkt auch auf die EncroChat-Daten selbst zurückgegriffen werden dürfe.

Weder bedürfe es allerdings einer über § 261 StPO hinausgehenden Rechtsgrundlage für die Umwidmung der Daten aus den französischen Strafverfahren zur Verwendung in deutschen Strafverfahren noch müsse es im deutschen Strafverfahrensrecht eine vergleichbare Ermittlungsmaßnahme geben. Diese Auffassung verkennt, dass sowohl nach deutschem Verfassungsrecht als auch nach europäischem Datenschutzrecht (Art. 4 Abs. 2 und Art. 8 RL 2016/680/EU) jede Verarbeitung personenbezogener Daten einer gesetzlichen, normenklaren und spezifischen Rechtsgrundlage bedarf – hierzu zählt insbesondere auch die zweckumwidmende Verwendung von Daten in strafprozessualen Ermittlungsverfahren. § 261 StPO stellt dabei nur eine Rechtsgrundlage für die Beweisverwertung durch die Tatgerichte, nicht aber eine Rechtsgrundlage für die Verwendung der Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren dar.

Der strafprozessuale Begriff der Verwendung umfasst dabei jede Nutzung der Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren, wie die Analyse, Auswertung, Speicherung, Übermittlung und das Ziehen von Schlüssen aus den Daten zur Gewinnung eines Tatverdachts für weitere Ermittlungsmaßnahmen oder die Anklageerhebung. Auf die §§ 161, 163 kann angesichts der massiven Grundrechtseingriffe durch die heimliche Infiltration von über 30 000 Mobilfunkgeräten offensichtlich auch nicht zurückgegriffen werden, da diese auf geringfügige Grundrechtseingriffe beschränkt sind.

Verneint der BGH nun die Anwendbarkeit von § 100e Abs. 6 Nr. 1 (und damit wohl auch die von § 479 Abs. 2 S. 1 für die „laufenden“ Telekommunikationsdaten), fehlt es an einer notwendigen Rechtsgrundlage für die Verwendung der EncroChat-Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren. Der BGH hätte sich somit auf Grundlage seiner Ablehnung der Anwendbarkeit von § 100e Abs. 6 Nr. 1 mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob aus der rechtsgrundlosen Verwendung der Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren (entspricht der Beweiserhebung) ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot folgt.

Es geht bei der Prüfung der Eingriffsschwere im Rahmen der Beweisverwertung nämlich nicht um eine Überprüfung ausländischer Ermittlungsmaßnahmen an ausländischem Recht, sondern um die Anwendung des § 261 StPO als innerstaatliches Recht auf die Beweisverwertung im deutschen Urteil und damit um einen innerstaatlichen Sachverhalt. Der begehrte zweckumwidmende Transfer der Daten vom französischen in das deutsche Strafverfahren richtet sich im deutschen Recht nach §§ 100e Abs. 6 Nr. 1 (für auf den infiltrierten Geräten gespeicherte Daten jenseits der Grenze des § 100a Abs. 1 S. 3 StPO) und 479 Abs. 2 S. 1 StPO (für die „laufenden“ Telekommunikationsdaten). Dieser Weg würde somit ebenfalls zur Anwendbarkeit von § 100e Abs. 6 Nr. 1 und § 479 Abs. 2 S. 1 führen. Diese Prüfung hätte – wie oben ausgeführt ergeben, dass die Verwendung der Daten nicht zulässig gewesen wäre.

Die vorgenannten Zweifel an der – vom BGH jedoch bejahten – Verwertbarkeit der EncroChats haben im gegenständlichen Strafverfahren betreffend den Nachweis von Tathandlungen nur durch die ANOM-Chats umso stärkeres Gewicht, als hier bereits ausführliche Aufklärungsarbeit im Strafverfahren durch das Landgericht geleistet wurde, ohne dass ein Drittland benannt oder bekannt wurde und es auch in Zukunft offenbar nicht benannt werden wird. Auch das Vorbringen, es habe im Drittland Gerichtsentscheidungen gegeben, steht ohne Nachweis im Raum, auch dies hat die Hauptverhandlung vor dem Landgericht bereits ergeben. Im gegenständlichen Strafverfahren erscheint daher die Verwertbarkeit der ANOM-Chats mindestens zweifelhaft, weswegen die ANOM-Chats im derzeitigen Aktenstand keinen dringenden Tatverdacht begründen. Hierbei war folgendes zu bedenken:

Die ANOM-App diente dem FBI zur Abhörung vermeintlich abhörsicherer Handykommunikation. Diese App schuf das FBI selbst und vertrieb sie über ein Scheinunternehmen für verschlüsselte Telefone. Einmal installiert konnte auf dem Handy nur noch über ANOM kommuniziert werden. Alle außerhalb der USA versandten Nachrichten waren mittels eines Masterkeys des FBI zu entschlüsseln (OLG Frankfurt NJW 2022, 710), sie wurden automatisch gespiegelt und an einen zentralen Server weitergeleitet. Der Server durfte nicht auf US-amerikanischem Boden stehen und das FBI durfte mit dieser Methode keine US-Bürger abhören. Ein erster Server wurde deswegen in Australien gehostet, dessen Gerichte untersagten jedoch die Datenweitergabe an die USA und weitere Staaten.

Deswegen suchte das FBI nach einem neuen Drittstaat und fand ihn in der EU (BT-Drs. 20/1249, S. 6). Dort hat die Bundesregierung die Frage 10 (Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, auf welche Weise sich das FBI für die „Operation Trojan Shield“ Zugang zu den Daten des Kryptodienstes „ANOM“ verschaffte?) geantwortet: Nach hier vorliegendem Informationsstand erhielt das Federal Bureau of Investigation (FBI) die Daten per Rechtshilfe von einem nicht bekannten Mitgliedstaat in der Europäischen Union, da die Daten zunächst an einen dort befindlichen Server ausgeleitet worden waren. Auf die weitere Frage (a. Wurden nach Kenntnis der Bundesregierung die Daten von dem Kryptodienst direkt auf Server unter Kontrolle des FBI ausgeleitet oder auf Server in einem Drittstaat?) antwortete die Bundesregierung: Nach hier vorliegendem Informationsstand wurden die Daten zunächst an einen Server in einem nicht bekannten Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgeleitet und erst von dort auf Grundlage eines Rechtshilfeersuchens an einen Server des FBI in den Vereinigten Staaten von Amerika weitergeleitet. Auf die weitere Frage (b. Ist dem BKA dieser Drittstaat bekannt, und falls nein, aus welchem Grund bleibt dieser ge-heim?) antwortete die Bundesregierung: Der Drittstaat ist dem Bundeskriminalamt ebenso wenig bekannt wie der Grund für dessen Geheimhaltung durch das FBI. Auf die weitere Frage (c. Erhielten deutsche Behörden bzw. erhielt Europol die Daten aus dem Kryptodienst „ANOM“ aus diesem Drittstaat oder vom FBI selbst?) antwortete die Bundesregierung: Das FBI stellte die Daten dem Bundeskriminalamt und Europol zur Verfügung. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die vorgenannte Bundestagsdrucksache Bezug genommen.

Der Drittstaat ist somit weder der Bundesregierung noch auch dem Bundeskriminalamt bekannt. Angeblich sollen die Gerichte dieses Drittstaats Beschlüsse erlassen haben, die eine Auswertung und Weitergabe dieser Daten an das FBI gestatteten. Auch dies kann nicht überprüft werden.

Die bekannt gewordenen gerichtlichen Entscheidungen zu ANOM-Chats gehen offensichtlich da-von aus, dass der Verteidigung keine weiteren Erkenntnisse außerhalb der Akten zur Verfügung gestellt werden müssten (vgl. „Strafverfolgung in Deutschland aufgrund US-amerikanischer Daten“ von Staatsanwalt Simon Pschorr und Prof. Dr. Liane Wörner, StV 2023, 274 ff., 279 ff.).

Durch die Trennung von beweiserhebendem und beweisverwertendem Staat werden bei der Verwertung von ANOM-Chats die Verteidigungsrechte von Angeklagten erheblich beschränkt; es werden aber auch die Aufklärungsmöglichkeiten des befassten Strafgerichts erheblich eingeschränkt, ohne dass bei Beginn der Abhörmaßnahmen ein individualisierter Tatverdacht gegen die betroffenen Personen überhaupt vorlag. Im Gegenteil, die ANOM-App wurde vom FBI unbeschränkt verbreitet und die Abhörung unbeschränkt vorgenommen, ob die Nutzer zuvor hinreichend verdächtig waren oder nicht. Aus diesem Grund bestehen erhebliche Zweifel daran, ob für die Datenerhebungen nach US-amerikanischem Recht oder nach deutschem Recht eine Ermächtigungsgrundlage besteht. Gleiches gilt für die Weitergabe von Daten an die ermittelnden Behörden.

Der BGH hat über die Verwertbarkeit von ANOM-Chats bislang nicht entschieden.

Die EncroChats, die vom BGH für verwertbar gehalten wurden, sind jedoch mit den Problemstellungen bei den ANOM-Chats nur schwerlich vergleichbar. Denn bei ANOM ist weder das vom FBI (nach Australien) als neues Drittland gewonnene Drittland bekannt, noch die von diesem unbekannten Drittland erlassenen gerichtlichen Beschlüsse….“

Man wird sehen, was daraus wird. Jedenfalls haben wir in dieser Woche zwei bayerische Wunder 🙂 .