Archiv der Kategorie: Strafrecht

Haft III: Überlanger Vollzug von Organisationshaft, oder: Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit

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Und als dritte Entscheidung dann noch der OLG Bremen, Beschl. v. 07.09.2023 – 1 Ws 89/23 – zur Abwägung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit mit dem Freiheitsrechten und Interessen des Verurteilten bei überlanger Organisationshaft.

Dazu hat das OLG Bremen, Beschl. v. 07.09.2023 – 1 Ws 89/23 – in einem umfangreich begründeten Beschluss Stellung genommen, von dem ich hier nur die Leitsätze einstelle, und zwar:

  1. Der überlange Vollzug von Organisationshaft zur Vorbereitung des Vollzugs einer angeordneten Maßregel begründet eine Verletzung des Freiheitsgrundrechts des Verurteilten.

  2. Ob eine festgestellte Rechtsverletzung durch einen überlangen Vollzug von Organisationshaft zu einer Entlassung aus der Haft zu führen hat, ist anhand einer Abwägung zu beurteilen, für die es maßgeblich ankommt einerseits auf die Gefährlichkeit des Verurteilten und die dadurch tangierten Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit sowie andererseits auf Ausmaß und Intensität der Rechtsgutsverletzung durch die verzögerte Sachbehandlung und überlange Dauer der Organisationshaft.

  3. Die zuständige Strafvollstreckungsbehörde hat grundsätzlich bereits ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft der Verurteilung Bemühungen um die Aufnahme des Verurteilten aus der Organisationshaft in den Maßregelvollzug einzuleiten und es ist nicht das Vorliegen der Akten oder der schriftlichen Urteilsgründe abzuwarten.

  4. Die Regelung des § 121 StPO hat keine auch nur indizielle Bedeutung für die Frage, ob als Ergebnis dieser Abwägungsentscheidung jedenfalls nach einem sechsmonatigen Vollzug von Organisationshaft eine Entlassung aus der Haft zu erfolgen hat.

Haft I: Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: Exhibitionistische Handlungen vor Kindern

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Heute dann Haftentscheidungen.

Ich starte mit dem OLG Bamberg, Beschl. v. 18.04.2023 – 1 Ws 209/23, der leider erst jetzt übersandt worden ist. In der Entscheidung nimmt das OLG zu den Voraussetzungen für den Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach Vornahme exhibitionistischer Handlungen vor Kindern Stellung. Dazu gibt es bereits OLG-Rechtsprechung, das OLG Bamberg sieht es ein wenig anders als die bisher vorliegenden Entscheidungen:

„2. Bei dem Beschuldigten besteht auch nach Auffassung des Senats der Haftgrund der Wiederholungsgefahr i.S.v. § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO.

a) Nach § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO besteht dieser Haftgrund, wenn neben dem dringenden Tatverdacht einer der in § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO genannten Katalogtaten bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, dass ein Beschuldigter vor rechtskräftiger Aburteilung weitere Straftaten der in § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO bezeichneten Art begehen oder solche Straftaten fortsetzen werde und die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich ist. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 StPO im Sinne einer hohen Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens, welche kein Mittel der Verfahrenssicherung, sondern eine vorbeugende Maßnahme präventiv-polizeilicher Natur zum Schutz der Rechtsgemeinschaft vor weiteren erheblichen Straftaten des Beschuldigten darstellt, ist mit dem Grundgesetz vereinbar (BVerfGE 19, 342; 35, 185). Aus verfassungsrechtlichen Gründen sind aber an die Wiederholungsgefahr strenge Anforderungen zu stellen. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Vorstrafen des Beschuldigten, die Abstände zwischen den Straftaten, die äußeren Umstände, in denen er sich bei Begehung der Taten befunden hat, seine Persönlichkeitsstruktur und sein soziales Umfeld (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 65. Aufl. § 112a Rn.13 f. m.w.N.). Die insoweit festzustellenden bestimmten Tatsachen müssen eine so starke innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Taten erkennen lassen, dass die Besorgnis begründet ist, er werde weitere gleichartige Taten wie die Anlasstaten vor seiner Verurteilung wegen der Anlasstaten begehen (KK-StPO/Graf112a Rn. 19).

b) Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Zur Begründung nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Gründe des Haftbefehls des Amtsgerichts vom 26.01.2023, dessen Nichtabhilfeentscheidung mit Beschluss vom 23.02.2023 sowie die Gründe der angefochtenen Entscheidung des Landgerichts vom 08.03.2023 und dessen Nichtabhilfeentscheidung vom 28.03.2023 und schließlich auch auf die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg in ihrer Zuschrift vom 03.04.2023. Die Ausführungen der Verteidigung in den Schriftsätzen vom 16.02.2023, 28.02.2023, 16.03.2023 und 11.04.2023 rechtfertigen auch nach Ansicht des Senats keine andere Entscheidung.

Zu Recht haben die Vorinstanzen auf die Vorahndungen des Beschuldigten wegen einer exhibitionistischen Tat am 27.03.2022 und wegen einer exhibitionistischen Tat am 24.04.2022 sowie auf eine weitere exhibitionistische Tat am 10.11.2022 in der […] Therme in S abgestellt. Zur Überzeugung des Senats ist der Beschuldigte aufgrund der polizeilichen Ermittlungen dringend verdächtig, am 10.11.2022 in der […] Therme, nachdem er Blickkontakt mit einer Besucherin aufgenommen hatte, in einer Entfernung ca. 2 m gezielt an seinem entblößten Glied manipuliert zu haben.

Dagegen kann den weiteren im Aktenvermerk des KHK vom 18.01.2023 geschilderten Tatvorwürfen vom 13.10.2022 und 07.11.2022 – jedenfalls derzeit – keine indizielle Bedeutung beigemessen werden, weil die knappen Tatschilderungen keinen Rückschluss auf das Vorhandensein eines dringenden Tatverdachts und damit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Wiederholung der Anlasstaten erlauben.

Bei den Taten vom 27.03.2022, 24.04.2022 und 10.11.2022 handelt es sich zwar jeweils um exhibitionistische Handlungen i.S.v. § 183 StGB und damit nicht um Katalogtaten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, so dass aus ihnen allein nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf die erforderliche starke Neigung gezogen werden können. Sie erlauben aber Rückschlüsse auf die Entwicklung des Beschuldigten im Jahr 2022, die in dem dringenden Tatverdacht der Anlasstaten gemäß § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB am 21.12.2022 gipfelten. Aus dieser Entwicklung und den Anlasstaten vom 21.12.2022, Katalogtaten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, ergibt sich jedoch zur Überzeugung des Senats die Gefahr, dass der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Taten gegenüber Kindern nach § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB begehen wird. Denn bereits die erstmalige bzw. sogar einmalige Begehung einer Sexualtat und insbesondere einer Katalogtat deutet bei einem erwachsenen Täter auf einen Persönlichkeitsdefekt hin, der künftige Verfehlungen ähnlicher Art befürchten lässt (KK-StPO/Graf a.a.O. Rn. 7; MüKoStPO/Böhm 2. Aufl. 2023 § 112a Rn. 48).

Dabei ist sich der Senat bewusst, dass dieser Schluss nicht zwingend ist und die Wiederholungsgefahr durch die einmalige Verwirklichung einer Katalogtat nicht immer automatisch indiziert wird, sondern durch hinzutreten weiterer Umstände relativiert sein kann (vgl. z.B. OLG Koblenz BeckRS 2014, 11571; OLG Jena BeckRS 2015, 113; BeckOK-StPO/Krauß [46. Ed., Stand: 01.01.2023] § 112a Rn. 13 m.w.N.). Solche Umstände sind hier nicht ersichtlich. Im Gegenteil deutet die Entwicklung des Beschuldigten im Bereich der Sexualdelikte gerade darauf hin, dass beim ihm ein entsprechender Persönlichkeitsdefekt vorliegt. Zwar ist dem Beschuldigten angesichts der bestehenden Ungenauigkeiten hinsichtlich der Tatörtlichkeit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit nachzuweisen, dass er sich bewusst in unmittelbarer Nähe der Schule aufgestellt hat, um die Begegnung mit den Kindern sicherzustellen. Zutreffend hat das Landgericht allerdings darauf hingewiesen, dass die Anlasstaten sich nicht lediglich als zufälliges Ereignis darstellten, zumal der Beschuldigte nach dem Erkennen der Kinder bewusst die Autotür geöffnet und an seinem entblößten Glied manipuliert hat. Selbst wenn das Zusammentreffen mit den Kindern zufallsbedingt erfolgt sein sollte, hat der Beschuldigte gerade durch die Anlasstaten gezeigt, dass sich seine innere Neigung jedenfalls nunmehr auch auf Kinder bezieht. Hinzu kommt, dass auch der Gesetzgeber bei Einführung der Verschärfungen im Sexualstrafrecht davon ausgegangen ist, dass bereits die erstmalige Verwirklichung dieser Delikte aufgrund der damit zum Ausdruck kommenden Persönlichkeitsdisposition der Täter geeignet ist, die hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Wiederholung und Fortsetzung zu bedingen (MüKoStPO/Böhm a.a.O. § 112a Rn. 52d).

Nach alledem drohen von Seiten des Beschuldigten nach Auffassung des Senats jedenfalls weitere Straftaten nach § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB und damit gleichartige Taten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO.

c) Diese drohenden Straftaten sind auch erheblich i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO. Zutreffend ist, dass bei Sexualstraftaten der Begriff der erheblichen Straftat und damit der erforderliche Schweregrad über die für den Begriff der sexuellen Handlungen nach § 184h Nr. 2 StGB vorausgesetzte Erheblichkeit hinausgeht. Nach allgemeinen Grundsätzen liegt eine Straftat von erheblicher Bedeutung vor, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, sind daher nicht mehr ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen (MüKoStPO/Böhma.O. § 112a Rn. 52a; KK-StPO/Graf a.a.O. § 112a Rn. 18). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Aufgrund der Neufassung des § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB sind die dort geschilderten Handlungen mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren strafbewehrt und damit im Gegensatz zu der früheren Regelung in § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB (a.F.) mit einer Strafdrohung von drei Monaten bis zu fünf Jahren nunmehr ohne weiteres als erhebliche Straftaten anzusehen, ohne dass es einer weiteren Begründung bedarf. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage bedarf es einer näheren Begründung nunmehr dann, wenn das Merkmal der Erheblichkeit ausnahmsweise entfällt (MüKoStPO/Böhm a.a.O. § 112a Rn. 52e und 52f).

d) Vor diesem Hintergrund geht der Hinweis der Verteidigung auf die Entscheidung des OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 21.01.2020 – 2 Ws 1/20 = BeckRS 2020, 1561) fehl. Die Entscheidung des OLG Karlsruhe und vergleichbare Entscheidungen weiterer Gerichte (vgl. z.B. OLG Bremen, Beschl. v. 11.5.2020 – 1 Ws 44/20 = BeckRS 2020, 12058; BGH, Urt. v. 10.01.2019 – 1 StR 463/18 = BeckRS 2019, 2164), die zu der Erkenntnis gelangten, dass exhibitionistische Handlungen vor Kindern nicht stets als erhebliche Straftaten anzusehen seien, ergingen zu § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB (a.F.) und waren ersichtlich dadurch geprägt, dass diese Straftaten aufgrund der geringeren Strafdrohung nicht ohne nähere Begründung als Straftaten der mittleren Kriminalität angesehen werden konnten. Soweit das OLG Karlsruhe (a.a.O.) und ihm folgend das OLG Bremen auf die vorgenannte Entscheidung des BGH (a.a.O.) Bezug nehmen, vermag der Hinweis auch deshalb nicht zu überzeugen, weil es bei der Entscheidung des BGH nicht um die Beurteilung der Wiederholungsgefahr i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO ging, sondern um eine Unterbringung nach § 63 StGB und die Frage, ob vom Täter erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Auch wenn dort regelmäßig Taten gefordert werden, die mindestens in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinragen, müssen angesichts des äußerst belastenden Charakters der Maßregel nach § 63 StGB Taten drohen, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben (Fischera.O. § 63 Rn. 26, 27). Eine solche Situation ist aber bei der Beurteilung der Frage der Erheblichkeit nach § 112a StPO nicht gegeben. Insbesondere ist bei der Prüfung des § 112a Satz 1 Nr. 1 StPO weder bei der Prüfung der Anlasstaten noch bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr gerade nicht erforderlich, dass eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat vorliegt bzw. droht.

Auch der Hinweis auf § 183 Abs. 3 und Abs. 4 Nr. 2 StGB führt jedenfalls derzeit nicht weiter. Zwar ermöglicht diese Vorschrift eine Strafaussetzung zur Bewährung auch bei einer ungünstigen Prognose und damit bei Wiederholungsgefahr. Voraussetzung dafür ist aber, dass nach einer Heilbehandlung (ggf. auch erst nach längerer Zeit) ein Behandlungserfolg erwartet werden kann. Diese Beurteilung kann regelmäßig erst im Rahmen der Hauptverhandlung nach Durchführung der Beweisaufnahme unter Beteiligung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 2 StPO erfolgen. Der geltend gemachte Wertungswiderspruch käme allenfalls in Betracht, wenn die Voraussetzungen einer Bewährungsaussetzung bereits jetzt vorliegen würden. Dies ist allerdings nicht der Fall.

e) Mit zutreffenden Erwägungen, denen sich der Senat anschließt, ist das Landgericht auch zu dem Ergebnis gelangt, dass vorliegend das Merkmal der Erheblichkeit nicht ausnahmsweise entfällt. Weder ist von einer besonders geringen Intensität künftiger Übergriffe auszugehen noch sind sonstige besondere Umstände ersichtlich. Das Verhalten des Beschuldigten geht auch nach Auffassung des Senats deutlich über das bloße kurze Herzeigen des entblößten Gliedes mit baldigem Entfernen des Täters hinaus. Auch ist das Verhalten nicht mit einem schlichten Onanieren bzw. der Vornahme von Manipulationen am entblößten Glied in Kenntnis des Umstandes, dass dies von einem Kind wahrgenommen wird, vergleichbar. Im Gegenteil, der Beschuldigte hat hier bewusst gewartet, bis die geschädigten Kinder in die Nähe seines Autos gekommen waren und hat diese dann durch das bewusste kurzfristige Öffnen der Fahrertür, in die für sie äußerst unangenehme Situation gebracht. Zu Recht haben sowohl das Amtsgericht als auch die Beschwerdekammer aus der Entwicklung der Sexualstraftaten, wegen denen der Beschuldigte bereits verurteilt wurde, und wegen des gezielten Vorgehens bei den Anlasstaten vom 21.12.2022 den Schluss gezogen, dass der Beschuldigte in Zukunft noch aktiver und mit ähnlichem Ansinnen (Frage nach Oralverkehr bzw. einem „Fick“) auf Kinder zugeht.

Unabhängig davon, dass im Fall des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO im Gegensatz zu den Fällen des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO eine konkrete Straferwartung keine Rolle spielt, ergeben sich weder hinsichtlich der Anlasstaten noch hinsichtlich der drohenden Taten Anhaltspunkte, dass das Verhalten eher im untersten Bereich des Strafrahmens anzusiedeln ist.“

Sorry für die Länge, aber die Bayern schreiben nun mal (immer) so viel. 🙂

Corona II: „Sie hätten Hitler…. auch großgemacht“, oder: Strafbare Beleidigung?

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Die zweite Entscheidung kommt auch vom BayObLG. In ihr nimmt das BayObLG noch einmal zum Erfordernis einer Abwägung bei der Prüfung einer Meinungsäußerung unter dem Gesichtspunkt der Beleidigung Stellung.

AG und LG haben die Angeklagte wegen Beleidigung verurteilt. Die hatte sich in einer Email  an den Geschädigten wie folgt geäußert:

„Eine bodenlose Unverschämtheit was sie da vom Stapel lassen! Ich bin überzeugt sie hätten Hitler damals auch großgemacht! Ich hoffe Ihre Praxis geht pleite! Was sie da betreiben ist höchst asozial und gefährlich für eine demokratische Gesellschaft! Dass sie sich nicht schämen! Pfui Deiwel“.

Dieser Email der Angeklagten vorausgegangen war ein Bericht über den Geschädigten in der Zeitung „Bild am Sonntag“ vom 01.08.2021 voraus, in dem dieser mitteilte, dass er als praktischer Arzt keine Impfverweigerer mehr behandele. Wer sich nicht (gegen Corona) impfen lassen wolle und seine Praxis betrete, gefährde sein Personal und seine Patienten. Weiter wird er dort wie folgt zitiert: „Die Impfung ist eine Bürgerpflicht. (…) Verweigerer sind unsolidarisch und feige. Sie schädigen andere gesundheitlich und wirtschaftlich.“

AG und LG haben die Angeklagte wegen Beleidigung (§ 185 StGB) verurteilt und das Vorliegen der Voraussetzungen des § 193 stGB verneint. Die dagegen eingelegte Revision hatte mit der Sachrüge mit dem BayObLG, Beschl. v. 15.05.2023 – 207 StRR 128/23 – Erfolg:

„1. In Fällen ehrenrühriger Werturteile wie vorliegend wird § 193 StGB letztlich von dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG konsumiert, an diesem ist die Meinungsäußerung im Ergebnis zu messen (vgl. Hilgendorf in. Leipziger Kommentar zum StGB (LK-StGB), 13. Aufl., § 193 Rdn. 4). Allerdings gewährleistet Art. 5 Abs. 2 GG auch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung nur in den Schranken der allgemeinen Gesetze, zu denen auch die Strafgesetze gehören. Die Strafvorschrift des § 185 StGB muss somit im Licht der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden, sog. „Wechselwirkung“ (vgl. LK-StGB-Hilgendorf aaO § 193 Rdn. 4f. m. w. N.; BayObLG, Beschlüsse vom 19.07.1994, 2St RR 89/94, zitiert nach juris). Nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz ist eine umfassende und einzelfallbezogene Güter- und Pflichtenabwägung vorzunehmen (LK-StGB-Hilgendorf aaO § 193 Rdn. 6; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 193 Rdn. 9, je m. w. N.). Diese Abwägung ist eine reine Rechtsfrage, so dass sie bei ausreichender Tatsachengrundlage auch vom Revisionsgericht vorzunehmen ist (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2014, 1 Ss 599/13, zitiert nach juris, Rdn. 21; OLG Celle, Urteil vom 27.03.2015, 31 Ss 9/15, zitiert nach juris, Rdn. 35; OLG München, Beschluss vom 31.05.2017, 5 OLG 13 Ss 81/17, zitiert nach juris, Rdn. 11).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Grundrechtlich geschützt sind damit insbesondere Werturteile, also Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind. Dies gilt ungeachtet des womöglich ehrschmälernden Gehalts einer Äußerung. Die strafrechtliche Sanktionierung knüpft an diese dementsprechend in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallenden und als Werturteil zu qualifizierende Äußerungen an und greift damit in die Meinungsfreiheit des Äußernden ein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020, 1 BvR 2397/19, NJW 2020, 2622ff., Rdn. 12 m. w. N.). Im Normalfall erfordert das Grundrecht der Meinungsfreiheit als Voraussetzung für eine strafrechtliche Sanktionierung einer Aussage nach der Ermittlung des Sinns dieser Aussage eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, welche der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen (BVerfG aaO Rdn. 15 m. w. N.). Es bedarf einer umfassenden Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung erfolgte (BVerfG, Beschluss vom 19.05. 2020, 1 BvR 2459/19, NJW 2020, 2629ff. Rdn. 18). Eine Abwägung ist nur in den Fällen der Schmähkritik, der Formalbeleidigung und dann entbehrlich, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde darstellt (BVerfG aaO Rdn. 17 m. w. N.). Von einem die Abwägung entbehrlich machenden Ausnahmetatbestand (Schmähkritik, Formalbeleidigung, Angriff auf die Menschenwürde) kann nur ausgegangen werden, wenn eine in den Urteilsgründen darzulegende Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles ergibt, dass ein mit der inkriminierten Äußerung verfolgtes sachliches Anliegen entweder nicht existiert oder so vollständig in den Hintergrund tritt, dass sich die Äußerung in einer persönlichen Kränkung erschöpft, bzw. die verwendete Beschimpfung das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts verlässt und unabhängig von den Umständen grundsätzlich nicht mit der Meinungsfreiheit legitimierbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020, 1 BvR 2397/19 aaO Rdn. 23). Auch insoweit gilt daher, dass sich die Strafbarkeit einer Äußerung nicht allein aus deren Wortlaut erschließt, sondern die Feststellung deren Anlasses und der näheren Umstände erfordert.

3. Da der Schutzumfang des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG von der näheren Qualifizierung des Sinngehalts einer Aussage (s. bereits oben) abhängt, muss sich für das Revisionsgericht aus den Feststellungen des Tatrichters auch dieser ergeben. Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG Vorgaben abgeleitet, die schon im erforderlichen Ermittlungsvorgang gelten und damit rechtliche Maßstäbe für die tatrichterliche Sachverhaltsfeststellung enthalten. Ihre Einhaltung zu überprüfen ist Teil der revisionsgerichtlichen Kontrolle. So verstößt eine strafgerichtliche Verurteilung wegen einer Äußerung schon dann gegen Art. 5 Abs. 1 GG, wenn diese den Sinn, den das Gericht ihr entnommen und der Verurteilung zugrunde gelegt hat, nicht besitzt oder wenn bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind (vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 26.06.1990, 1 BvR 1165/89, zitiert nach juris). Dabei haben die Gerichte insbesondere ausgehend vom Wortlaut auch den Kontext und die sonstigen Begleitumstände der Äußerung zu beachten (siehe z.B. BVerfG, NJW-RR 2017, 1001, Rdn. 17). Maßstab der Sinnermittlung ist der Horizont eines verständigen Dritten (vgl. z. B. BayObLG, NJW 2005, 1291, Rdn. 21, m. w. N. zur Rechtsprechung des BVerfG; Fischer aaO § 185 StGB Rdn. 8 m. w. N.).

4. Auf dieser Grundlage hat das Landgericht die erforderliche Abwägung rechtsfehlerhaft vorgenommen und die Reichweite des Art. 5 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verkannt.

Die inkriminierte Äußerung der Angeklagten ist – anders als das Landgericht meint – keineswegs zwingend als Schmähkritik auszulegen, bei der die Diffamierung des Geschädigten, die ihn in „eine Reihe mit Massenmördern, Rassisten und Antisemiten“ stellen würde, im Vordergrund steht. Vielmehr ist die vom Landgericht ohne Begründung als „fernliegend“ bezeichnete Auslegung der Äußerung, wonach sich diese auf Personen bezieht, die in den Jahren vor 1933 „Hitler groß gemacht“ haben, ohne selbst Nationalsozialisten zu sein, schon deshalb mindestens nicht auszuschließen, weil die Angeklagte im übernächsten Satz derselben Nachricht an den Geschädigten schrieb, was der Zeuge da betreibe, sei „höchst gefährlich für eine demokratische Gesellschaft“. Es gibt eine Vielzahl von Ursachen, die Hitler und die NSDAP in den Jahren vor der „Machtergreifung“ „groß gemacht“ haben, ohne dass den seinerzeitigen politischen Akteuren damit durchgehend unterstellt werden kann, sie hätten willentlich die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten befördert. In dieser letztgenannten Deutung wäre die Äußerung der Angeklagten offensichtlich vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt, weil sie sich unmittelbar auf die (von der Angeklagten als ungerechtfertigt und gesellschaftsspaltend empfundenen) Aussagen des Geschädigten beziehen, Impfverweigerer seien „unsolidarisch und feige“ und würden andere gesundheitlich und wirtschaftlich schädigen (vgl. auch LK-StGB-Hilgendorf aaO § 193 Rdn. 7 „reaktive Verknüpfung“).“

Bewährung III: Ablehnung des Widerrufsantrags, oder: Einfache oder sofortige Beschwerde der StA?

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Und als letzte Entscheidung dann noch der schon etwas ältere OLG Bamberg, Beschl. v. 12.04.2023 – 1 Ws 149/23 – zum Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft bei Ablehnung des Widerrufsantrags.

Dazu hier nur die Leitsätze, und zwar:

  1. Die Entscheidung über einen Widerruf oder Maßnahmen nach § 56f Abs. 2 StGB ist zu treffen, sobald Widerrufsgründe feststehen. In einem solchen Fall ist weder ein entscheidungsloses Abwarten noch eine Zurückstellung der Entscheidung zulässig.

  2. Ergibt sich aus der Begründung des Beschlusses, nach dessen Beschlussformel die Entscheidung über einen von der Staatsanwaltschaft beantragten Widerruf zurückgestellt wird, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf derzeit nicht vorliegen, liegt keine bloße Verfahrensentscheidung vor. Vielmehr enthält der Beschluss die Entscheidung in der Sache selbst im Sinne einer Ablehnung des Widerrufsantrags.

  3. Gegen die Ablehnung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ist nur die sofortige Beschwerde statthaft.

  4. Zwischen der Entscheidung über den Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung und der Entscheidung über die in derselben Sache erfolgte Maßregelaussetzung besteht kein zwingender Entscheidungsverbund

Bewährung II: Nachträgliche Erfüllung der Auflage, oder: Absehen vom Widerruf der Strafaussetzung?

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Als zweite Entscheidung dann etwas zum Widerruf der Bewährung, aber: Absehen vom Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, und zwar Absehen vom Widerruf nach nachträglicher Auflagenerfüllung.

Der Sachverhalt ergibt sich aus dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 20.09.2023 – 1 Ws 166/23 :

„…..Darüber hinaus ist sie teilweise begründet.

a) Die Voraussetzungen für einen Widerruf der mit Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 20. September 2021 gewährten Strafaussetzung zur Bewährung liegen nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB vor. Danach widerruft ein Gericht die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person wie hier gröblich oder beharrlich gegen eine Auflage verstößt.

Der Verurteilte hat in der Zeit nach dem 21. August 2022 bis Ende Juli 2023 keine Zahlungen auf die ihm mit Beschluss vom 20. September 2023 erteilte  zulässige Zahlungsauflage geleistet, obwohl er seitens des Landgerichts auf diese Auflage sowie ausgebliebene Zahlungen, insbesondere auch nach der Zahlung vom 21. August 2022, hingewiesen worden ist. Dadurch hat er gröblich und beharrlich gegen die erteilte Zahlungsauflage verstoßen.

Dieser Verstoß war auch schuldhaft, insbesondere war der Verurteilte zahlungsfähig. Er konnte bis August 2021 die Zahlungen leisten und sich Ende des Jahres 2022 eine mehrmonatige Reise in die Türkei leisten, ohne seine Wohnung in Deutschland aufgeben zu müssen. Einer Leistung der Zahlungen stand auch nicht der Aufenthalt des Verurteilten in der Türkei entgegen, zumal der Verurteilte bereits vorher mehrere Monate gegen die Auflage gröblich und beharrlich  verstoßen hatte. Denn er hätte die Zahlungen auch von der Türkei aus ausführen können oder für deren Ausführung von dort durch Dritte sorgen müssen. Für seine Zahlungsfähigkeit spricht auch, dass es dem Verurteilten nach seiner Rückkehr aus der Türkei möglich war, die Auflage durch Zahlung von zwei nicht unerheblichen Beträgen in Höhe von 350,- und 1.000,¬€ vollständig zu begleichen.

Die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung wäre deshalb grundsätzlich  wie zunächst zutreffend vom Landgericht Braunschweig beschlossen  zu widerrufen gewesen. Allein die nachträgliche und vollständige Erfüllung der Zahlungsauflage steht einem Widerruf  aufgrund des bereits eingetretenen Verstoßes gegen die Auflage nicht entgegen (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 30. August 2004  2 Ws 190/04 , Rn. 17, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 24. Oktober 1980 1 Ws 600/80 , juris).

b) Vorliegend genügt es aber, die Bewährungszeit als mildere Maßnahme um ein Jahr zu verlängern.

Nach § 56f Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB sieht ein Gericht von einem Widerruf ab, wenn es ausreicht, die Bewährungszeit zu verlängern.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu ausgeführt:

„Letztlich reicht jedoch die als gegenüber dem Widerruf mildere Maßnahme der Verlängerung der Bewährungszeit um ein Jahr vorliegend aus (§ 56 f Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB), ein Widerruf der Strafaussetzung dürfte sich demgegenüber nunmehr als unverhältnismäßig darstellen.

Eine Verlängerung der Bewährungszeit ist bei der vorliegenden Widerrufskonstellation auch dann zulässig, wenn sie weder zu spezialpräventiven Zwecken noch zu dem Zweck, die Ratenzahlung auf eine noch unerfüllte Auflage innerhalb der Bewährungszeit zu ermöglichen, erfolgt (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 30. August 2004 – 2 Ws 190/04 -, juris, Rn. 21f.). Die Bewährungszeit kann trotz der unterschiedlichen Zwecke von Auflagenerteilung und Bemessung der Bewährungszeit auch dann gemäß § 56 f Abs. 2 StGB verlängert werden, wenn Grund für den Widerruf der Strafaussetzung nach § 56 f Abs. 1 StGB der Verstoß gegen eine Auflage ist, die der Verurteilte nachträglich vollständig erfüllt hat (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, a.a.O., – Leitsatz ). Trotz des funktionalen Unterschiedes kann auf den Verstoß gegen eine inzwischen erledigte Auflage mit einer Verlängerung der Bewährungszeit reagiert werden (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, a.a.O.; im Erg. ebenso OLG Koblenz in NStZ 1981, 101 – Leitsatz ).

Eine spürbare Verlängerung der Bewährungszeit um ein Jahr reicht hier aus, erscheint aber angesichts der erheblichen Verzögerungen in der Auflagenerfüllung und dem Gewicht des entsprechenden Schuldvorwurfs auch geboten und deshalb im beantragten Umfang verhältnismäßig.“

Dem schließt sich der Senat an. Der Verurteilte hat nach Einreichung seines Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Einlegung der sofortigen Beschwerde die Zahlungsauflage noch innerhalb der mit Beschluss vom 20. September 2021 festgesetzten Bewährungszeit vollständig erfüllt und damit nachträglich die Genugtuung für das begangene Unrecht in dem vollen vom erkennenden Landgericht für erforderlich erachteten Umfang geleistet. Weitere Gesichtspunkte  die für einen Widerruf der Strafaussetzung sprechen könnten  sind nicht ersichtlich. Daher genügt es, die Bewährungszeit um ein Jahr zu verlängern.“