Archiv der Kategorie: Strafvollzug

Vollzug III: Nichtraucherschutz im (U-Haft)Vollzug, oder: Fürsorgepflicht der JVA

Bild von Kevin Phillips auf Pixabay

Und die dritte Entscheidung betrifft dann den U-Haft-Vollzug, und zwar dort die Frage nach dem Nichtraucherschutz.

Der Beschwerdeführer befand sich vom 22.09.2022 bis 14.03.2023 in Untersuchungshaft in der JVA X und wandte sich mehrfach mit Anträgen, die die Durchsetzung des Rauchverbots in der JVA zum Inhalt hatten, an diese. Mit Schreiben vom 28.12.2022 stellte er einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und beantragte u.a. die Umsetzung des Nichtraucherschutzgesetzes durch die JVA X, Feststellung der Rechtswidrigkeit und Ortsbegehung sowie Sicherstellung der Videoaufnahmen durch das Gericht. Er fügte dem Antrag eine Skizze bei, die die räumlichen Verhältnisse der Abteilung D, in welcher er zum Antragszeitpunkt eine Zelle hatte, zeigt. Hierzu gab er an, seine Mitgefangenen würden im Gang zwischen den Zellen auf einer Tischtennisplatte sitzen und Zigaretten/Tabak konsumieren. Die Abteilung sei zeitweise komplett mit grauem Rauch durchzogen und „versinke in Zigaretten-/Tabakgestank“. Wenn er seine Zelle zum Duschen oder Aufschluss verlasse, sei er dem Rauch auf der Abteilung vollkommen ausgesetzt. Wenn seine Zelle geschlossen sei, ziehe der Zigaretten- bzw. Tabakrauch durch den unteren Schlitz der Zellentür in seine Zelle, da die rauchenden Gefangenen weiterhin Aufschluss hätten und rauchen würden.

Am 14.03.2023 wurde der Beschwerdeführer in die JVA Z verlegt.

Die JVA X nahm zum Antrag des Beschwerdeführers dahin Stellung, dass der Schutz von Nichtrauchern beachtet werde. Das AG hat denn den Antrag abgelehnt. Die Beschwerde hatte mit dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 07.06.2023 – 12 Qs 40/23 – Erfolg:

„1. Im Rahmen der Zulässigkeit ist das Rechtsschutzinteresse trotz Erledigung der behaupteten Beeinträchtigung durch Verlegung des Beschwerdeführers gegeben. Bei einer Verletzung des Nichtraucherschutzes, der – wie vorliegend durch den Beschwerdeführer beschrieben – zu einer länger andauernden Beeinträchtigung geführt haben soll, liegt ein schwerwiegender Grundrechtseingriff vor. Dieser gebietet es, eine gerichtliche Klärung herbeizuführen, auch wenn die Beeinträchtigung tatsächlich nicht mehr fortbesteht. Nur so kann verhindert werden, dass Rechte und insbesondere Grundrechte in bestimmten Fallgestaltungen in rechtsstaatlich unerträglicher Weise systematisch ungeschützt bleiben (BayObLG, Beschluss vom 17.11.2020 – 204 StObWs 277/20, juris Rn. 20 m.w.N.).

2. Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die JVA X hat ihre Fürsorgepflicht verletzt, indem sie nicht durch geeignete Maßnahmen verhindert hat, dass der Beschwerdeführer in seiner Zelle einer erheblichen Rauchbelästigung ausgesetzt war.

a) Nach Art. 58 Abs. 3 BayStVollzG, der für die Untersuchungshaft entsprechend gilt (Bratke/Krä in BeckOK Strafvollzug Bayern, 18. Ed. 1.4.2023, BayUVollzG Art. 25 Rn. 6), ist der Schutz der Nichtraucher, soweit es bauliche und organisatorische Maßnahmen ermöglichen, zu gewährleisten. Gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Art. 2 Nr. 1 lit. b des Bayerischen Gesetzes zum Schutz der Gesundheit (GSG) ist das Rauchen in Innenräumen der Gebäude der Behörden des Freistaats Bayern verboten. Nach Art. 5 Nr. 1, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GSG kann die Anstaltsleitung das Rauchen in Einzel-, Gemeinschaftshafträumen und anderen Gemeinschaftsräumen gestatten (Arloth in BeckOK Strafvollzug Bayern, 18. Ed., Art. 58 BayStVollzG Rn. 11). Dies gilt jedoch nicht, wenn aus baulichen oder sonstigen Gründen eine räumliche Trennung von Rauchern und Nichtrauchern in Aufenthaltsräumen im Bereich eines Anstaltsbetriebes nicht möglich ist (vgl. BayObLG, Beschluss vom 17.11.2020 – 204 StObWs 277/20, juris Rn. 25 f. m.w.N.).

b) Der Beschwerdeführer hat die von ihm gerügte Verletzung des Nichtraucherschutzes hinreichend konkret vorgetragen. Danach kam es laufend zu einer Rauchbelästigung, da die Mitgefangenen, deren Zellen über einen längeren Zeitraum aufgeschlossen waren, fortwährend rauchten und der Rauch durch den Schlitz an seiner Zellentür in seine Zelle gelangte bzw. auf dem Gemeinschaftsflur präsent war, wenn der Beschwerdeführer seine Zelle verließ. Da es sich dem Vortrag des Beschwerdeführers nach um eine ständige Belästigung handelte, kann im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes nicht verlangt werden, dass er – entsprechend einem Lärmprotokoll – einzelne Vorkommnisse genau dokumentiert.

Die JVA X ist dem Vortrag des Beschwerdeführers insoweit entgegengetreten, als sie in ihrer Stellungnahme vom 29.03.2023 ausführte, auf den Gemeinschaftsflächen bestünde Rauchverbot und etwaige Verstöße würden – soweit sie bekannt seien – disziplinarisch geahndet. Die Kammer hat hierzu ergänzend einen Dienstleiter der JVA X befragt. Dieser gab an, der Beschwerdeführer habe sich auf einer kleinen Abteilung befunden, in welcher Mitgefangene untergebracht gewesen seien, die arbeiten durften. Diese Mitgefangenen hätten sich tagsüber frei bewegen dürfen, was zur Folge gehabt habe, dass ihre Zellentüren häufig geöffnet wurden bzw. offenstanden. Da es den Gefangenen erlaubt sei, in ihrer eigenen Zelle zu rauchen, dringe dieser Rauch durch die offenen Türen auf den Gemeinschaftsflur und könne auch durch die Türschlitze in die Zellen der weiteren Gefangenen gelangen. Dies macht den Vortrag des Beschwerdeführers, wonach Rauch in seine Zelle dringe und auf dem Gemeinschaftsflur vorhanden sei, plausibel. Die Kammer geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer – unabhängig von der Frage, ob Mitgefangene tatsächlich nicht nur in ihren Zellen, sondern auch auf dem Flur geraucht haben – jedenfalls für einen erheblichen Zeitraum dem Rauch, der von den Zellen der Mitgefangenen durch geöffnete Türen austrat und durch den Schlitz der Zellentür in die Zelle des Beschwerdeführers eintrat, ausgesetzt war.

c) Der Schutz vor Passivrauchen war jedenfalls in der Zelle des Beschwerdeführers, in der er sich nicht nur kurzfristig aufhielt, zu gewährleisten. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass sich der Beschwerdeführer aufgrund seiner Inhaftierung einer Beeinträchtigung seiner Gesundheit nicht in gleicher Weise entziehen kann, wie eine Person, die sich auf freiem Fuß befindet und ohne Weiteres den Ort wechseln kann, um einer Raucheinwirkung zu entgehen. Angesichts der nicht auszuschließenden gesundheitsgefährdenden Wirkungen des Passivrauchens greift die gemeinschaftliche Unterbringung eines Rauchers und eines Nichtrauchers – jedenfalls wenn der Betroffene ihr nicht zustimmt – in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ein. Der nichtrauchende Gefangene hat Anspruch auf Schutz vor Gefährdung und erheblicher Belästigung durch das Rauchen von Mitgefangenen und Aufsichtspersonal (BayObLG, Beschluss vom 17.11.2020 – 204 StObWs 277/20, juris Rn. 25 f. m.w.N.).

Auf welche Weise die JVA den Nichtraucherschutz umsetzen hätte müssen, hat die Kammer nicht zu entscheiden. Die JVA hat jedenfalls im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens mit geeigneten Maßnahmen dafür zu sorgen, dass dort einsitzende Nichtraucher auf ihrer Zelle keiner Beeinträchtigung durch Zigarettenrauch ausgesetzt sind. Die Kammer verkennt nicht, dass die effektive Umsetzung des Nichtraucherschutzes angesichts der Vielzahl an Rauchern in der JVA nicht einfach ist. Im Falle der Unterbringung eines Nichtrauchers in einer Abteilung, in der sich Gefangene mehr oder weniger frei bewegen können und es somit zu offenstehenden oder häufig geöffneten Türen kommt, muss die JVA jedenfalls mit zusätzlichen Maßnahmen sicherstellen, dass kein Zigarettenrauch in die Zelle von nichtrauchenden Mitgefangenen eindringt.“

Vollzug II: Anspruch auf Eigengeldauszahlung, oder: Wenn das gesamte Vermögen bar verwahrt wird

entnommen openclipart.org

Die zweite Entscheidung, der BayObLG, Beschl. v. 03.01.2023 – 203 StObWs 412/22 – gehört für mich in die Rubrik: Was es nicht alles gibt. Denn der Beschluss hat einen etwas ungewöhnlichen Sachverhalt, und zwarI.

„Der im April 2021 verstorbene, von den drei Antragstellerinnen beerbte Erblasser war in den Jahren 2013 und 2019 bis 2020 mehrmals kurzzeitig in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bamberg inhaftiert. Beim Zugang am 4. März 2013 zahlte der Erblasser, der nach dem Vortrag der Antragstellerinnen über kein Konto verfügte und sein gesamtes Vermögen in bar verwahrte, nach der von den Antragstellerinnen nicht in Frage gestellten Darstellung des Antragsgegners bei der JVA Bamberg einen Betrag von 10.465,75 Euro in bar ein; das Guthaben wurde einen Tag später auf dem Gefangenengeldkonto gutgeschrieben. Nach seiner Entlassung verweigerte er es, den Empfang des verbleibenden Betrages von 8.557,25 Euro zu quittieren, woraufhin ihm der Geldbetrag nicht ausgehändigt wurde (Anlage B 4). Einer anschließenden schriftlichen Aufforderung, ein Konto zu benennen oder das Geld abzuholen, kam er nicht nach (Anlage B 5). Anlässlich des Zugangs am 1. August 2013 zum Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe zahlte er bei der JVA Bamberg auf das Gefangenengeldkonto einen Bargeldbetrag in Höhe von 125.105,13 Euro ein, der am Folgetag als Guthaben des Strafgefangenen gebucht wurde. Nach seiner Entlassung am 7. August 2013 nahm der Gefangene das verbleibende Geld in Höhe von 121.781,63 Euro nicht an sich, woraufhin ein Mitarbeiter der JVA unterschriftlich auf einem Ausdruck mit der Bezeichnung „Kontenabschluss“ vermerkte: „Geld wurde von Herrn A… nicht mitgenommen. Geld wieder auf Konto gutgeschrieben“ (Anlage B 8). Am 28. Oktober 2013 löste die JVA ohne weitere Kontaktaufnahme mit dem Erblasser das interne Gefangenenkonto auf und zahlte das Eigengeld des Erblassers in Höhe von 130.338.88 Euro bei der Landesjustizkasse Bamberg zur Verwahrung ein (Anlagen B 7, B 9). Anlässlich eines Zugangs am 13. Mai 2019 zahlte der Erblasser bei der JVA Bamberg einen Betrag von 22,70 Euro ein, nach der Unterbrechung der Vollstreckung wurde das Guthaben am 4. November 2019 ebenfalls bei der Landesjustizkasse gebucht. Das bei einer weiteren Inhaftierung im Jahr 2019 einbezahlte Gefangenengeld wurde dem Erblasser bei seiner Entlassung am 10. Januar 2020 in bar ausgehändigt, bei seiner letzten Inhaftierung im Jahr 2020 zahlte er kein Bargeld ein.

Nach dem Tod ihres Vaters baten die drei mit Erbschein ausgewiesenen Miterbinnen in einem an die JVA Bamberg gerichteten Schreiben vom 15. Juni 2021 um Prüfung, ob noch Forderungen gegen den Freistaat bestünden. Daraufhin teilte die JVA Bamberg den drei Miterbinnen mit Schreiben vom 7. September 2021 mit, dass aus den Inhaftierungen des Erblassers im Jahre 2013 resultierend aus Bargeldeinzahlungen auf das Gefangenengeldkonto ursprünglich ein Betrag von 130.338,88 Euro offen gewesen, der Rückforderungsanspruch jedoch mittlerweile verjährt wäre; aus der Inhaftierung im Jahr 2019 bestünde noch ein Rückzahlungsanspruch in Höhe von 22,70 Euro. Die drei Miterbinnen traten dem entgegen und verlangten unter Vollmachtsanzeige mit anwaltlichem Schreiben vom 7. Oktober 2021 von der JVA nähere Auskünfte zu den Einzahlungen, den Verfügungen und dem Verbleib des Geldes sowie Einsicht in den Vollzugsplan. Mit Schreiben vom 25. Oktober 2021 erteilte die JVA weitere Auskünfte zu den Vollzugszeiten, den Einzahlungen, den Buchungsvorgängen und den jeweiligen Guthaben des Erblassers und wiederholte ihre Rechtsansicht, dass bezüglich eines Betrages von 130.338,88 Euro zum Ende des Jahres 2016 Verjährung eingetreten sei. Daraufhin widersprach der anwaltliche Vertreter der Antragstellerinnen unter Bezugnahme auf das Schreiben der JVA vom 25. Oktober 2021 mit Schreiben vom 2. November 2021 den Ausführungen zur Verjährung und forderte von der JVA Bamberg die Auszahlung des „Restbetrags“ unter Fristsetzung bis zum 15. November 2021. Nachdem die JVA auf die Zahlungsaufforderung nicht reagierte, reichten die Miterbinnen mit anwaltlichem Schriftsatz am 21. Dezember 2021 Klage auf Zahlung von 130.338,88 Euro nebst Zahlung vorgerichtlicher Anwaltskosten zum Landgericht Bamberg ein.

Das Landgericht Bamberg – 4. Zivilkammer – hat sich mit Beschluss vom 11. Mai 2022 für funktionell unzuständig erklärt und den Rechtsstreit auf Antrag der Kläger an die Strafvollstreckungskammer abgegeben. Die Strafvollstreckungskammer hat mit Beschluss vom 12. August 2022 „den Antrag“ auf gerichtliche Entscheidung vom 21. Dezember 2021 wegen der Versäumung der Frist von § 112 StVollzG als unzulässig verworfen. Mit der Frage der Erstattung der außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten hat sich die Strafvollstreckungskammer nicht befasst.

Gegen diese Entscheidung wenden sich die Antragstellerinnen mit ihrer Rechtsbeschwerde und beantragen, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und den Antragsgegner zur Zahlung von 130.338,88 Euro zu verpflichten, hilfsweise die Sache an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen. Zur Begründung führen sie an, dass §§ 109, 112 StVollzG nicht anwendbar und der auf sie übergegangene Anspruch auf die Zahlung des Eigengelds nicht verjährt sei. Zu den ursprünglich in der Klageschrift geltend gemachten Rechtsanwaltskosten verhalten sie sich nicht ausdrücklich. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat beantragt, die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.“

Und: Die drei Damen hatten beim BayObLG Erfolg. Hier die Leitsätze zu der Entscheidung:

  1. Hat die Justizvollzugsanstalt auf eine Aufforderung des Berechtigten auf Auskunft über Eigengeld hin den Einwand der Verjährung erhoben, steht die Regelung von § 112 StVollzG einer gerichtlichen Geltendmachung des Zahlungsanspruchs nicht entgegen.
  2. Dem Strafgefangenen steht ab dem Zeitpunkt der Gutschrift von Eigengeld gegen das Land als Träger der Justizvollzugsanstalt ein schuldrechtsähnlicher Anspruch auf Auszahlung seines Eigengeldguthabens nach § 700 Abs. 1 Satz 2, § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB analog zu.
  3. Der Lauf der Fristen nach Art. 71 BayAGBGB und §§ 195, 199 BGB wird weder mit der Einzahlung noch mit der Entlassung aus der Haft, sondern gemäß § 695 S. 2 BGB analog mit einem Zahlungsverlangen des Berechtigten ausgelöst.

Wie gesagt: Was es nicht alles gibt. Und: Gut, dass wir darüber gesprochen haben.

Haft III: Zulässige Dauer der Organisationshaft, oder: Nicht in der Regel bis zu drei Monaten

sogsog.  Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und als letzte Entscheidung dann noch einmal etwa zur (zulässigen) Dauer der sog. Organisationshaft, und zwar den OLG München, Beschl. v. 15.03.2023 – 3 Ws 119/23.

Wegen des Verfahrensablaufs verweise ich auf den verlinkten Volltext. Das OLG hat die weitere Organisationshaft als unzulässig angesehen. Dazu der Leitsatz:

„Es gibt keinen Grundsatz, nachdem ein Vollzug von Organisationshaft bis zur Dauer von drei Monaten in der Regel rechtmäßig sei. Vielmehr ist der Vollzug von Organisationshaft nur dann rechtmäßig, wenn diese sich nicht vermeiden lässt, obwohl sich die Vollstreckungsbehörden, sobald ihnen bekannt wird, zu welchem Zeitpunkt ein Platz für den Vollzug einer Maßregel benötigt wird, unverzüglich im Rahmen des Möglichen darum bemühen, diesen Platz zu beschaffen.“

Rest dann bitte selbst lesen.

Haft II: Zulässige Dauer der sog. Organisationshaft, oder: Nach fünf Monaten ist es genug

© cunaplus – Fotolia.com

Die zweite Entscheidung, der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 02.02.2023 – 1 Ws 97/22 – äußert sich zur zulässigen Dauer der sog. Organisationshaft.

Mit Urteil vom 12.04.2021, rechtskräftig seit 20.04. 2021, wird gegen den Verurteilten im Rahmen einer Verurteilung wegen Verstoßes gegen das BtMG nach § 64 StGB die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Der zugleich bestimmte Vorwegvollzug der Strafe von 27 Monaten war durch Anrechnung der in einer einbezogener Sache erlittenen Untersuchungshaft sowie den anschließenden Vollzug von Strafhaft  erledigt. Der Verurteilte wurde indes erst am 24. Februar 2022 — also nach mehr als neunmonatiger Organisationshaft — aus der JVA Düsseldorf zum Vollzug der Maßregel in die LVR-Klinik Bedburg-Hau überführt.

Wegen der Einzelheiten des Verfahrensablaufs und des Hin und Her verweise ich auf den verlinkten Volltext. Der Verurteilte hat am 22.10.2021 seine Entlassung eantragt, hilfsweise die umgehende gerichtliche Entscheidung über seinen Antrag, die Organisationshaft für unzulässig zu erklären und ihn aus der Haft zu entlassen. Diesen Antrag hat die kleine Strafvollstreckungskammer des LG Düsseldorf mit Beschluss v. 09.11.2021 zurückgewiesen. Dagegen hat der Verurteilte am 20.11.2021 eingelegt, die zunächst nicht zu den Akten gelangt und bis zu einer Sachstandsanfrage seines Verteidigers am 18.02.2022 — offenbar versehentlich — unbearbeitet geblieben ist. Mit Schriftsatz vom 02.03.2022 hat der Verteidiger mitgeteilt, dass er nach am 24.02.2022 erfolgter Verlegung des Verurteilten in den Maßregelvollzug die sofortige Beschwerde mit dem Begehren aufrecht erhalte, die Grundrechtswidrigkeit der Organisationshaft festzustellen.

Dem Antrag ist das OLG nachgekommen:

„Zwar ist die zunächst nach § 462 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und — mangels förmlicher Zustellung – auch fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde durch die Verlegung des Untergebrachten in den Maßregelvollzug prozessual überholt und damit erledigt. Der Untergebrachte hat sein Rechtsmittel jedoch in zulässiger Weise in einen Feststellungsantrag umgestellt. Es besteht ein schutzwürdiges Interesse des Beschwerde-führers an der nachträglichen Feststellung, ob die gegen ihn vollzogene Organisations-haft (grund)rechtswidrig war (vgl. BVerfG NJW 2006, 427).

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O.) darf auf der Grundlage der Maßregelanordnung für eine Übergangszeit, deren Dauer sich nach den Umständen des Einzelfalls richtet, „Organisationshaft“ vollzogen werden. Verfassungs-rechtlich geboten ist es allerdings, dass die Vollstreckungsbehörde unverzüglich und mit größtmöglicher Beschleunigung darauf hinwirkt, dass der Verurteilte in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Rechtskraft des Urteils und der Erledigung eines etwaigen Vorwegvollzuges in eine Entziehungsanstalt — gegebenenfalls auch in einem anderen Bundesland — überführt wird. Steht ein solcher Platz nicht zur Verfügung, muss der Verurteilte freigelassen werden (BVerfG, a.a.O. m.w.N.; vgl. auch OLG Hamm, Beschlüsse vom 25. November 2003 — 4 Ws 537/03, 4 Ws 569/03 und vom 7. Mai 2019 —111-1 Ws 209/19 m.w.N.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 20. September 2020 — 1 Ws 357/20 m.w.N. <jeweils juris>).

2. Gernessen an diesen Grundsätzen waren die Voraussetzungen für eine Vollstreckung der Organisationshaft seit dem 7. Oktober 2021 nicht mehr gegeben.

Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hatte sich zunächst sehr zeitnah bereits zehn Tage nach Eintritt der Urteilsrechtskraft mit der Bitte um Amtshilfe an die Staatsanwaltschaft Düsseldorf gewandt, die ihrerseits unverzüglich den LVR als örtlich zuständige Maßregelvollzugsbehörde um Zuweisung eines Behandlungsplatzes für den Verurteilten ersucht und in der Folgezeit immer wieder mit Nachdruck auf die Dringlichkeit der Aufnahme hingewiesen hat. Auch wenn nicht sofort ein konkreter Aufnahmetermin benannt werden konnte und zudem bekannt war, dass die Organisation wegen der angespannten Belegungssituation geraume Zeit in Anspruch nehmen werde, durfte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth zunächst auf das Freiwerden eines Therapieplatzes im zuständigen Bezirk warten, zumal der LVR immerhin ein „zeitnahes Bemühen“ in Aussicht gestellt hatte. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Verurteilte keinen Anspruch darauf, exakt mit Rechtskraft des zu vollstreckenden Urteils — oder wie hier mit dem Ende des Vorwegvollzuges — in eine Vollzugseinrichtung überführt zu werden, weil nicht für jeden im Vorfeld nicht vorhersehbaren Einzelfall ein freier Platz vorgehalten werden muss (BVerfG a.a.O.). Der Verurteilte hat vielmehr — jedenfalls bei unverzüglicher Anmeldung des Bedarfs durch die Vollstreckungsbehörde — eine gewisse Wartezeit hinzunehmen, deren zulässige Höchstdauer sich nach den Umständen des Einzelfalles bestimmt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. März 2021 —111-2 Ws 37/21; OLG Hamm a.a.O; OLG Frankfurt, Beschluss vom 14. April 2022 — 7 Ws 51/22 <jeweils juris>). Insoweit war hier mit Blick auf die aus der Corona-Pandemie resultierenden Unwägbarkeiten und Einschränkungen bei der Planung stationärer Klinikaufenthalte einerseits sowie mit Rücksicht auf das aus der Schwere der Anlasstaten und der suchtbedingten Unzuverlässigkeit des Verurteilten folgende besondere Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit andererseits ein großzügigerer Maßstab anzulegen. Vor diesem Hintergrund begegnet es noch keinen durchgreifenden Bedenken, dass die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth nicht sogleich parallele Bemühungen um eine Unterbringung des Verurteilten in Bayern entfaltet hat. Nachdem die Staatsanwaltschaft Düsseldorf mit Telefax vom 3. August 2021 definitiv mitgeteilt hatte, dass bis zum Ablauf des 12. August 2021 — also innerhalb einer dort offenbar als zeitliche Obergrenze betrachteten Frist von drei Monaten — ein Unterbringungsplatz im zuständigen Bereich des LVR nicht zugesichert werden könne, hat die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth mit Verfügung vom 9. September 2021 eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, um mit Nachdruck auf eine zeitnahe Platzbeschaffung in Bayern hinzuwirken. Den mit der Klärung diesbezüglicher Erfolgsaussichten verbundenen Zeitaufwand hatte der Verurteilte mit Rücksicht auf die Gesamtumstände noch hinzunehmen, womit er sich im Übrigen unter Rücknahme seines Entlassungsgesuchs vom 30. August 2021 auch ausdrücklich einverstanden erklärt hatte.

Ausweislich der nachfolgend zwischen den beteiligten Staatsanwaltschaften gewechselten Schreiben stand dann jedoch am 7. Oktober 2021 fest, dass auch die weiteren Bemühungen fruchtlos verlaufen waren und dem Verurteilten weder in Nordrhein-Westfalen noch in Bayern ein Therapieplatz zur Verfügung gestellt oder auch nur die realistische Erwartung einer baldigen Aufnahme eröffnet werden konnte. Nachdem es der Staatsanwaltschaft nunmehr über einen Zeitraum von knapp fünf Monaten nicht gelungen war, den Verurteilten in den Maßregelvollzug zu überführen und überdies nach wie vor nicht einmal ein konkreter. Aufnahmetermin in Aussicht stand, war ein weiteres Zuwarten auf einen freien Platz auch unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit ab diesem Zeitpunkt nicht mehr vertretbar. Allein die fehlenden Aufnahmekapazitäten der Entziehungsanstalten vermochten einen weiteren Vollzug der Organisationshaft nicht zu rechtfertigen. Denn einem eindeutigen Gesetzesbefehl darf die Gefolgschaft nicht deshalb versagt werden, weil die Exekutive nicht die zu seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereit hält (vgl. BVerfG a.a.0; BGHSt 28, 327; OLG Frankfurt a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.).“

BVerfG I: Mehrfache Drogenscreenings im Strafvollzug, oder: (keine) Urinabgaben uter Aufsicht?

Bild von Ewa Urban auf Pixabay

Zum Wochenauftakt stelle ich heute zwei Entscheidungen des BVerfG vor.

Zunächst verweise ich auf den BVerfG, Beschl. v. 22.07.2022 – 2 BvR 1630/21 – zur (Un)Zulässigkeit von beaufsichtigten Drogenscreenings mittels Urinkontrollen in Justizvollzugsanstalt.

Aus der PM des BVerfG ergibt sich folgender Sachverhalt:

„Der Beschwerdeführer verbüßte eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt. Um Suchtmittelmissbrauch zu unterbinden, wurden von der Abteilungsleitung regelmäßig allgemeine Drogenscreenings mittels Urinkontrollen angeordnet und durch gleichgeschlechtliche Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdiensts durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, wie die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, erfolgten die Urinabgaben unter Aufsicht. Auch beim Beschwerdeführer wurden in der Zeit vom 24. November bis zum 28. Dezember 2020 vier beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt, bei denen der anwesende Justizvollzugsbedienstete während der Abgabe der Urinprobe jeweils einen freien Blick auf das entkleidete Genital des Beschwerdeführers hatte.

Anfang Januar 2021 beantragte der Beschwerdeführer eine gerichtliche Entscheidung. Er begehrte, dass zukünftig Feststellungen zum Suchtmittelkonsum durch eine Blutentnahme aus der Fingerbeere erfolgen sollten. Zudem beantragte er die Feststellung, dass die durchgeführten Urinabgaben unter Sichtkontrolle rechtswidrig gewesen seien. Die vier Urinproben innerhalb von gut vier Wochen hätten sein Schamgefühl erheblich verletzt und massiv in seine Intimsphäre eingegriffen…..“

Die Rechtsmittel hatten keinen Erfolg, die Verfassungsbeschwerde hatte dann aber Erfolg. Wegen der recht umfangreichen Begründung des BVerfG verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Hier nur der/(mein) Leitsatz:

Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl eines Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat deshalb Anspruch auf besondere Rücksichtnahme.