Archiv der Kategorie: Strafvollzug

Haft II: Zulässige Dauer der sog. Organisationshaft, oder: Nach fünf Monaten ist es genug

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Die zweite Entscheidung, der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 02.02.2023 – 1 Ws 97/22 – äußert sich zur zulässigen Dauer der sog. Organisationshaft.

Mit Urteil vom 12.04.2021, rechtskräftig seit 20.04. 2021, wird gegen den Verurteilten im Rahmen einer Verurteilung wegen Verstoßes gegen das BtMG nach § 64 StGB die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Der zugleich bestimmte Vorwegvollzug der Strafe von 27 Monaten war durch Anrechnung der in einer einbezogener Sache erlittenen Untersuchungshaft sowie den anschließenden Vollzug von Strafhaft  erledigt. Der Verurteilte wurde indes erst am 24. Februar 2022 — also nach mehr als neunmonatiger Organisationshaft — aus der JVA Düsseldorf zum Vollzug der Maßregel in die LVR-Klinik Bedburg-Hau überführt.

Wegen der Einzelheiten des Verfahrensablaufs und des Hin und Her verweise ich auf den verlinkten Volltext. Der Verurteilte hat am 22.10.2021 seine Entlassung eantragt, hilfsweise die umgehende gerichtliche Entscheidung über seinen Antrag, die Organisationshaft für unzulässig zu erklären und ihn aus der Haft zu entlassen. Diesen Antrag hat die kleine Strafvollstreckungskammer des LG Düsseldorf mit Beschluss v. 09.11.2021 zurückgewiesen. Dagegen hat der Verurteilte am 20.11.2021 eingelegt, die zunächst nicht zu den Akten gelangt und bis zu einer Sachstandsanfrage seines Verteidigers am 18.02.2022 — offenbar versehentlich — unbearbeitet geblieben ist. Mit Schriftsatz vom 02.03.2022 hat der Verteidiger mitgeteilt, dass er nach am 24.02.2022 erfolgter Verlegung des Verurteilten in den Maßregelvollzug die sofortige Beschwerde mit dem Begehren aufrecht erhalte, die Grundrechtswidrigkeit der Organisationshaft festzustellen.

Dem Antrag ist das OLG nachgekommen:

„Zwar ist die zunächst nach § 462 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und — mangels förmlicher Zustellung – auch fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde durch die Verlegung des Untergebrachten in den Maßregelvollzug prozessual überholt und damit erledigt. Der Untergebrachte hat sein Rechtsmittel jedoch in zulässiger Weise in einen Feststellungsantrag umgestellt. Es besteht ein schutzwürdiges Interesse des Beschwerde-führers an der nachträglichen Feststellung, ob die gegen ihn vollzogene Organisations-haft (grund)rechtswidrig war (vgl. BVerfG NJW 2006, 427).

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O.) darf auf der Grundlage der Maßregelanordnung für eine Übergangszeit, deren Dauer sich nach den Umständen des Einzelfalls richtet, „Organisationshaft“ vollzogen werden. Verfassungs-rechtlich geboten ist es allerdings, dass die Vollstreckungsbehörde unverzüglich und mit größtmöglicher Beschleunigung darauf hinwirkt, dass der Verurteilte in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Rechtskraft des Urteils und der Erledigung eines etwaigen Vorwegvollzuges in eine Entziehungsanstalt — gegebenenfalls auch in einem anderen Bundesland — überführt wird. Steht ein solcher Platz nicht zur Verfügung, muss der Verurteilte freigelassen werden (BVerfG, a.a.O. m.w.N.; vgl. auch OLG Hamm, Beschlüsse vom 25. November 2003 — 4 Ws 537/03, 4 Ws 569/03 und vom 7. Mai 2019 —111-1 Ws 209/19 m.w.N.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 20. September 2020 — 1 Ws 357/20 m.w.N. <jeweils juris>).

2. Gernessen an diesen Grundsätzen waren die Voraussetzungen für eine Vollstreckung der Organisationshaft seit dem 7. Oktober 2021 nicht mehr gegeben.

Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hatte sich zunächst sehr zeitnah bereits zehn Tage nach Eintritt der Urteilsrechtskraft mit der Bitte um Amtshilfe an die Staatsanwaltschaft Düsseldorf gewandt, die ihrerseits unverzüglich den LVR als örtlich zuständige Maßregelvollzugsbehörde um Zuweisung eines Behandlungsplatzes für den Verurteilten ersucht und in der Folgezeit immer wieder mit Nachdruck auf die Dringlichkeit der Aufnahme hingewiesen hat. Auch wenn nicht sofort ein konkreter Aufnahmetermin benannt werden konnte und zudem bekannt war, dass die Organisation wegen der angespannten Belegungssituation geraume Zeit in Anspruch nehmen werde, durfte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth zunächst auf das Freiwerden eines Therapieplatzes im zuständigen Bezirk warten, zumal der LVR immerhin ein „zeitnahes Bemühen“ in Aussicht gestellt hatte. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Verurteilte keinen Anspruch darauf, exakt mit Rechtskraft des zu vollstreckenden Urteils — oder wie hier mit dem Ende des Vorwegvollzuges — in eine Vollzugseinrichtung überführt zu werden, weil nicht für jeden im Vorfeld nicht vorhersehbaren Einzelfall ein freier Platz vorgehalten werden muss (BVerfG a.a.O.). Der Verurteilte hat vielmehr — jedenfalls bei unverzüglicher Anmeldung des Bedarfs durch die Vollstreckungsbehörde — eine gewisse Wartezeit hinzunehmen, deren zulässige Höchstdauer sich nach den Umständen des Einzelfalles bestimmt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. März 2021 —111-2 Ws 37/21; OLG Hamm a.a.O; OLG Frankfurt, Beschluss vom 14. April 2022 — 7 Ws 51/22 <jeweils juris>). Insoweit war hier mit Blick auf die aus der Corona-Pandemie resultierenden Unwägbarkeiten und Einschränkungen bei der Planung stationärer Klinikaufenthalte einerseits sowie mit Rücksicht auf das aus der Schwere der Anlasstaten und der suchtbedingten Unzuverlässigkeit des Verurteilten folgende besondere Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit andererseits ein großzügigerer Maßstab anzulegen. Vor diesem Hintergrund begegnet es noch keinen durchgreifenden Bedenken, dass die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth nicht sogleich parallele Bemühungen um eine Unterbringung des Verurteilten in Bayern entfaltet hat. Nachdem die Staatsanwaltschaft Düsseldorf mit Telefax vom 3. August 2021 definitiv mitgeteilt hatte, dass bis zum Ablauf des 12. August 2021 — also innerhalb einer dort offenbar als zeitliche Obergrenze betrachteten Frist von drei Monaten — ein Unterbringungsplatz im zuständigen Bereich des LVR nicht zugesichert werden könne, hat die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth mit Verfügung vom 9. September 2021 eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, um mit Nachdruck auf eine zeitnahe Platzbeschaffung in Bayern hinzuwirken. Den mit der Klärung diesbezüglicher Erfolgsaussichten verbundenen Zeitaufwand hatte der Verurteilte mit Rücksicht auf die Gesamtumstände noch hinzunehmen, womit er sich im Übrigen unter Rücknahme seines Entlassungsgesuchs vom 30. August 2021 auch ausdrücklich einverstanden erklärt hatte.

Ausweislich der nachfolgend zwischen den beteiligten Staatsanwaltschaften gewechselten Schreiben stand dann jedoch am 7. Oktober 2021 fest, dass auch die weiteren Bemühungen fruchtlos verlaufen waren und dem Verurteilten weder in Nordrhein-Westfalen noch in Bayern ein Therapieplatz zur Verfügung gestellt oder auch nur die realistische Erwartung einer baldigen Aufnahme eröffnet werden konnte. Nachdem es der Staatsanwaltschaft nunmehr über einen Zeitraum von knapp fünf Monaten nicht gelungen war, den Verurteilten in den Maßregelvollzug zu überführen und überdies nach wie vor nicht einmal ein konkreter. Aufnahmetermin in Aussicht stand, war ein weiteres Zuwarten auf einen freien Platz auch unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit ab diesem Zeitpunkt nicht mehr vertretbar. Allein die fehlenden Aufnahmekapazitäten der Entziehungsanstalten vermochten einen weiteren Vollzug der Organisationshaft nicht zu rechtfertigen. Denn einem eindeutigen Gesetzesbefehl darf die Gefolgschaft nicht deshalb versagt werden, weil die Exekutive nicht die zu seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereit hält (vgl. BVerfG a.a.0; BGHSt 28, 327; OLG Frankfurt a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.).“

BVerfG I: Mehrfache Drogenscreenings im Strafvollzug, oder: (keine) Urinabgaben uter Aufsicht?

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Zum Wochenauftakt stelle ich heute zwei Entscheidungen des BVerfG vor.

Zunächst verweise ich auf den BVerfG, Beschl. v. 22.07.2022 – 2 BvR 1630/21 – zur (Un)Zulässigkeit von beaufsichtigten Drogenscreenings mittels Urinkontrollen in Justizvollzugsanstalt.

Aus der PM des BVerfG ergibt sich folgender Sachverhalt:

„Der Beschwerdeführer verbüßte eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt. Um Suchtmittelmissbrauch zu unterbinden, wurden von der Abteilungsleitung regelmäßig allgemeine Drogenscreenings mittels Urinkontrollen angeordnet und durch gleichgeschlechtliche Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdiensts durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, wie die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, erfolgten die Urinabgaben unter Aufsicht. Auch beim Beschwerdeführer wurden in der Zeit vom 24. November bis zum 28. Dezember 2020 vier beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt, bei denen der anwesende Justizvollzugsbedienstete während der Abgabe der Urinprobe jeweils einen freien Blick auf das entkleidete Genital des Beschwerdeführers hatte.

Anfang Januar 2021 beantragte der Beschwerdeführer eine gerichtliche Entscheidung. Er begehrte, dass zukünftig Feststellungen zum Suchtmittelkonsum durch eine Blutentnahme aus der Fingerbeere erfolgen sollten. Zudem beantragte er die Feststellung, dass die durchgeführten Urinabgaben unter Sichtkontrolle rechtswidrig gewesen seien. Die vier Urinproben innerhalb von gut vier Wochen hätten sein Schamgefühl erheblich verletzt und massiv in seine Intimsphäre eingegriffen…..“

Die Rechtsmittel hatten keinen Erfolg, die Verfassungsbeschwerde hatte dann aber Erfolg. Wegen der recht umfangreichen Begründung des BVerfG verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Hier nur der/(mein) Leitsatz:

Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl eines Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat deshalb Anspruch auf besondere Rücksichtnahme.

 

BVerfG II: (Mehrfache) Aussetzung der Vollstreckung, oder: Prüfung der Vollzugstauglichkeit vor Haftantritt

Und die zweite Entscheidung aus Karlsruhe hat dann auch mit Haft zu tun. Und: Ich hatte das Posting zu dem BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 – mit „Hat man nicht so häufig, oder doch? 🙂 “ abgeschlossen (vgl. BVerfG I: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Eilantrag gegen Haftbefehl hat Erfolg). Die Frage ist/war berechtigt, denn hier habe ich dann mit dem BVerfG, Beschl. v. 10.12.2019 – 2 BvR 2061/19 – gleich die nächste Entscheidung zur Haft, die in dieselbe geht.

Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde. Mit Schreiben vom 18.11.2019 wurde der Verurteilte  von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, der Ladung zum Strafantritt vom 17.05.2019 sofort Folge zu leisten. Um eine Verhaftung zu vermeiden, stellte der sich daraufhin nach seinem Vortrag am 21.11.2019 zum Strafantritt.

Das BVerfG hat die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des LG Essen nach Maßgabe des Beschlusses des BGH vom 20.06.2018 – 4 StR 561/17 – bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde mit BVerfG, Beschl. v. 10.12.2029 – – 2 BvR 2061/19 – in der Hauptsache ausgesetzt:

Vollstreckung III: Öffnen von Verteidigerpost erlaubt?, oder: Vorherige Absendernachfrage geht vor Öffnung

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Und dann zum Tagesschluss noch ein recht aktueller Beschluss aus der Strafvollstreckung, den mir der Kollege Fülscher aus Kiel vor einigen Tagen geschickt hat. Der Beschluss behandelt eine Problematik, die in der Praxis sicherlich nicht selten ist, nämlich die Öffnung von sog. Verteidigerpost durch die JVA.

Hier war in der JVA Oldenburg, wo der Mandant des Kollegen in Strafhaft einsitzt ein durch den Kollegen an diesen übersandter Verteidigerbrief eingegangen (üblicher Briefumschlag mit Sichtfeld). In dem Sichtfeld des Umschlages war, was unstreitig ist, der Hinweis „Verteidigerpost“ zu erkennen. Ob darüber hinaus die – über diesem Zusatz — auf dem Schriftsatz befindliche Anschrift des Verteidigers auch durch das Sichtfenster erkennbar war, ist streitig. Unstreitig ist demgegenüber weiter, dass irgendwelche Anzeichen dafür, dass es sich tatsächlich nicht um Verteidigerpost handelte, nicht bestanden. Auch behauptet die JVA keinerlei Anzeichen für unerlaubte Beigaben. Sie meint vielmehr, der Brief habe allein deshalb geöffnet werden dürfen, weil der Absender nicht durch das Sichtfenster hindurch erkennbar gewesen sei. Der Brief wurde durch einen Bediensteten der JVA — vor den Augen des Gefangenen — geöffnet, um zu überprüfen, ob es sich tatsächlich um Verteidigerpost handelt; irgendwelche Maßnahmen zur Absender-Ermittlung waren zuvor — ebenfalls unstreitig — nicht getroffen worden.

Gegen die Öffnung des Briefes hat der Verurteilte der Strafvollstreckungskammer gerichtliche Entscheidung beantragt und einen Unterlassungsantrag gestellt.

Und er hatte Erfolg. Das LG Oldenburg hat im LG Oldenburg, Beschl. v. 13.06.2022 – 50 StVK 51/22 -die Öffnung des Briefes als rechtswidirg angesehen:

„1. Die vorliegende Brieföffnung war rechtswidrig. Sie verstieß gegen § 29 Abs. 1 S. 1 StVoIIzG.

Dabei kann dahinstehen, ob die Anschrift durch das Sichtfenster hindurch zu sehen war. Selbst wenn diese nicht zu sehen gewesen wäre, hätte der Brief nämlich nicht geöffnet werden dürfen. Im Einzelnen:

§ 29 Abs. 1 S. 1 StVollzG verbietet jede Kontrolle des gedanklichen Inhalts der Sendung (vgl. zum Ganzen nur OLG Frankfurt, 13.05.2003 — 3 Ws 292/03 m. w. N.). Denn Sinn und Zweck des Überwachungsverbotes ist es, den unbefangenen Verkehr zwischen Gefangenen und seinem Verteidiger, d.h. ihren freien, vor jeder auch nur bloßen Möglichkeit einer Kenntnisnahme des Kommunikationsinhaltes durch Dritte geschützten Gedankenaustausch auf schriftlichem Wege zu gewährleisten (vgl. OLG Frankfurt, a. a. 0.). Verboten ist deshalb jedes, auch nur teilweises, Öffnen der Verteidigersendung, da nicht auszuschließen ist, dass der Kontrollierende hierdurch bewusst oder unbewusst Bruchstücke des Textes wahrnehmen kann vgl. OLG Koblenz, 30.01.1986 — 2 Vollz (Ws) 118/85); selbst die (teilweise) Öffnung der Verteidigerpost zur bloßen Feststellung der Absenderidentität oder die Kontrolle des Inhalts in Form einer groben Sichtung und eines Durchblätterns der Schriftunterlagen ist von dem Kontrollverbot umfasst.

Angesichts dieses strengen Maßstabes war dem Antragsgegner weiteres Recherchieren zuzumuten. Seiner Auffassung, dieses sei unzumutbar, vermag die Kammer nicht zu folgen. Im Einzelnen:

Der Antragsteller verfügte lediglich über zwei Verteidiger. Mit diesen hätte — wenn dies auch mit einigem Aufwand verbunden sein mag — Rücksprache gehalten werden können. Insbesondere lag es nahe, Rechtsanwalt pp. anzurufen, und insoweit Rücksprache zu halten, zumal der Antragsteller von diesem bereits 65 Schreiben erhalten hatte. Insbesondere der letztere Umstand hätte hier auch Anlass für Recherchen der Antragsgegnerseite sein müssen. Insbesondere drängte sich eine Recherche dahingehend auf, ob der Brief – seinem äußeren Erscheinungsbild nach – den zahlreichen bislang durch Rechtsanwalt pp. übersandten Briefen ähnelt. Die Legitimation des Verteidigers und deren Erfassung in der JVA dient nicht zuletzt gerade dazu, mit erträglichem Aufwand prüfen zu können, ob es sich bei eingehenden Postsendungen um Verteidigerpost handelt oder nicht; für den Antragsteller waren nur zwei Verteidiger legitimiert, so dass eine Kontaktaufnahme zweckmäßig gewesen wäre.

Selbst wenn eine solche Rücksprache und/ oder Recherche nicht möglich gewesen wäre (oder erfolglos geblieben wäre) und keinerlei Möglichkeit bestanden hätte, zu verifizieren, dass es sich um Verteidigerpost handelt, hätte aber eine Öffnung nicht erfolgen dürfen. Denn im Hinblick auf § 29 Abs. 1 S. 1 StVolIzG bestand das mildere Mittel darin, den Brief (ungeöffnet) zur Habe des Antragstellers zu nehmen, ihm diesen nicht auszuhändigen und ihn darauf hinzuweisen, dass der Ursprung der Postsendung nicht ermittelt werden konnte, so dass er nicht ausgehändigt werde. Der Antragsteller hätte dann zwar von dem Inhalt des Briefes nicht Kenntnis nehmen können. Der Inhalt der Kommunikation wäre dann aber wenigstens (auch) vor der Antragsgegnerseite verborgen geblieben. Der Antragsteller hätte dann seinen Verteidiger darauf hinweisen können, dass ihm (irgendein) Schreiben nicht ausgehändigt worden ist. Der Verteidiger wiederum hätte dann „nachfassen“, insbesondere mit der JVA Rücksprache halten können. Die Kammer übersieht nicht, dass all dies aufwändig ist. Der Aufwand muss angesichts des strengen Überwachungsverbotes jedoch betrieben werden.

2. Der Unterlassungsantrag ist begründet, da Wiederholungsgefahr besteht. Diese ergibt sich bereits daraus, dass die Antragsgegnerseite die hier streitgegenständliche Vorgehensweise als rechtmäßig wertet und meint, eine Absender-Recherche sei unzumutbar gewesen.“

Vollstreckung I: Sicherungsverwahrung 10 Jahre +? oder: Nicht ohne Sachverständigengutachten

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Heute stelle ich drei Entscheidungen aus dem Bereich Strafvollstreckung/Strafvollzu vor.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 11.05.2022 – 1 Ws 46/22 – zur Fortdauer von Sicherverwahrung. Der Verurteilte ist durch seit dem 12.02.2009 rechtskräftige Urteil wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Außerdem ist Sicherungsverwahrung angeordnet worden.

Nach vollständiger Vollstreckung der Freiheitsstrafe ordnete die Strafvollstreckungskammer des LG mit Beschluss vom 21.11.2011 die Vollziehung der Sicherungsverwahrung an. Diese sei durch eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) zu vollstrecken, weil hierdurch die Resozialisierung des Verurteilten besser gefördert werde als durch eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung.

Der Verurteilte befand sich vom 06.01.2012 bis zum 07.05.2014 im Krankenhaus des Maßregelvollzugs in Berlin und wurde dann in die Sicherungsverwahrung der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel überführt, weil sein ausgeprägtes Abwehrverhalten therapeutische Fortschritte verhindert hatte. Am 28. August 2019 wurde der Verurteilte in die Sicherungsverwahrung der JVA Brandenburg a. d. H. verlegt.

Die Strafvollstreckungskammer hat zuletzt mit Beschluss vom 21.10.2020 die Fortdauer der Sicherungsverwahrung angeordnet. Unter dem 07.09.2021 beschloss sie die Einholung eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens zu der Frage, ob die Gefahr besteht, dass der Verurteilte erhebliche Straftaten begehen werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Anfang November 2021 teilte der Sachverständige dem Vorsitzenden der Strafvollstreckungskammer telefonisch mit, den Gutachtenauftrag nicht auszuführen. Am 17.12.2021 hörte die Kammer den Verurteilten mündlich an. Mit Beschluss vom selben Tag beauftragte die Kammer einen anderen Sachverständigen mit der forensisch-psychiatrischen Begutachtung des Verurteilten und ordnete zugleich die Fortdauer der Unterbringung an.

Dagegen die sofortige Beschwerde des Verurteilten, die Erfolg hatte:

„1. Die angefochtene Entscheidung ist verfahrensfehlerhaft, sie unterliegt deshalb der Aufhebung.

Die Strafvollstreckungskammer musste sich von Amts wegen vor Ablauf des 05. Januar 2022 mit der Frage nach der Fortdauer der Sicherungsverwahrung befassen und war gehalten, hierzu gemäß § 67 Abs. 3 StGB ein forensisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen. Daran fehlt es, das Gutachten liegt bis heute nicht vor. Die Entscheidung der Kammer zur Fortdauer der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung entbehrt deshalb der erforderlichen Tatsachengrundlage.

Nach dem Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 67 d Abs. 3 S. 1 StGB ist die Maßregel der Sicherungsverwahrung nach zehnjährigem Vollzug zwingend für erledigt zu erklären, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Verurteilte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Die Gefahr muss positiv festgestellt sein (OLG Karlsruhe StV 2012, 228, 230). Hierzu bedarf es zwingend der Einholung eines (externen) Gutachtens (BVerfG NStZ-RR 2014, 222; StV 2009, 37).

Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG hat auch verfahrensrechtliche Bedeutung. Aus ihr ergeben sich Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung. Deshalb ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben (BVerfG NStZ-RR 2014, 222 m. w. N.). Dieses Erfordernis wird für den vorliegenden Fall prozessual vermittels § 463 Abs. 3 S. 4 StPO umgesetzt, der zur Vorbereitung der Entscheidung nach § 67 d Abs. 3 StGB zwingend die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage verlangt, ob von dem Verurteilten weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind.

Indem die Kammer ihre Entscheidung, die Fortdauer der Unterbringung anzuordnen, getroffen hat, ohne zuvor sachverständigen Rat einzuholen, hat sie die verfahrensrechtliche Bestimmung des § 463 Abs. 3 S. 4 StPO verletzt.

Der Verfahrensfehler zwingt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Weil in Ermangelung des Vorliegens eines aktuellen forensisch-psychiatrischen Gutachtens nach wie vor keine zureichende Tatsachengrundlage für eine Sachentscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung besteht, ist dem Senat eine eigene Entscheidung im Sinne des § 309 Abs. 2 StPO verwehrt.

Die Strafvollstreckungskammer wird ihre neuerliche Entscheidung unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Begutachtung zu treffen haben. Gemäß §§ 454 Abs. 1 S. 2 und 3, 463 Abs. 3 S. 1 StPO wird es erneuter Anhörung des Verurteilten, der Staatsanwaltschaft und der Vollzugsanstalt sowie gemäß §§ 463 Abs. 3 S. 3, 454 Abs. 2 S. 3 StPO der mündlichen Anhörung des Sachverständigen bedürfen, wobei dem Verurteilten, dessen Verteidiger und der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben ist.

2. Der Verurteilte ist durch die Fristüberschreitung bei der Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG verletzt.

Die Zehn-Jahres-Frist des § 67 d Abs. 3 S. 1 StGB dient der Wahrung des Übermaßverbotes bei der Beschränkung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG. Wegen des sich mit zunehmender Dauer der Unterbringung verschärfenden Grundrechtseingriffs sind Fortdauerentscheidungen mit zunehmender Verwahrungsdauer an eine steigende Wahrscheinlichkeit einer drohenden erheblichen Rechtsgutverletzung zu binden. An die Voraussetzungen einer über zehn Jahre hinaus dauernden Sicherungsverwahrung sind deshalb hohe Anforderungen zu stellen (BVerfG, Urteil vom 05. Februar 2004, 2 BvR 2029/01, Juris; OLG Hamm, Beschluss vom 28. März 2019, III-3 Ws 99/19, Rz. 22, Juris). In prozessualer Hinsicht führt dies zu einer Verpflichtung der Gerichte, vor – fristgemäßer – Entscheidung über die Fortdauer der langjährigen Unterbringung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens eine tragfähige tatsächliche Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Dieser Verpflichtung genügt die, wenn auch neuerliche, Beauftragung des Sachverständigen erst am 17. Dezember 2021 angesichts Fristablaufs am 05. Januar 2022 nicht. Vielmehr liegt hierin eine Grundrechtsverletzung begründet, die unverändert andauert, weil das Gutachten immer noch nicht vorliegt.

Zwar führt nicht jede Verzögerung des Geschäftsablaufs in Unterbringungssachen, die zu einer Überschreitung der Fristvorgaben führt, automatisch zu einer Grundrechtsverletzung, weil es zu solchen Verzögerungen auch bei sorgfältiger Führung des Verfahrens kommen kann. Es muss jedoch sichergestellt sein, dass der Geschäftsgang der Strafvollstreckungskammer in der Verantwortung des Vorsitzenden oder des Berichterstatters eine Fristenkontrolle vorsieht, welche die Vorbereitung einer rechtzeitigen Entscheidung vor Ablauf der Prüffrist sicherstellt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Untergebrachte in der Regel persönlich anzuhören ist und dass auch für eine sachverständige Begutachtung ausreichend Zeit verbleiben muss (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2016, 2 BvR 1103/16; OLG Hamm a. a. O.; Juris).

Diesen Vorgaben ist der Verfahrensgang vorliegend nicht gerecht geworden. Warum trotz telefonischer Information des vormaligen Sachverständigen Anfang November 2021 gegenüber dem Vorsitzenden, er werde den Gutachtenauftrag nicht erfüllen, erst am 17. Dezember 2021 ein anderer Sachverständiger mit der Begutachtung des Verurteilten beauftragt wurde, erschließt sich nicht und lässt eine unrichtige Anschauung der grundrechtssichernden Bedeutung der Zehn-Jahres-Frist des § 67 d Abs. 3 S. 1 StGB befürchten.“