Archiv der Kategorie: Haftrecht

U-Haft I: Sechs-Monats-Haftprüfung, oder: Der Begriff „derselben Tat“

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Dann schiebe ich nach dem U-Haft-Tag gestern heute gleich noch mal „Haftentscheidungen“ nach.

Ich beginne in dem Zusammenhang mit dem BGH, Beschl. v. 02.06.2021 – AK 33/21, der im Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 ergangen ist. Es geht in der Entscheidung noch einmal um den Begriff „derselben Tat“ und damit um die Voraussetzungen einer mehr als sechs Monate dauernden U-Haft.

Der BGH hat in seiner Entscheidung das Vorliegen „derselben Tat“ verneint und daher eine Haftprüfung nach §§ 121,1 22 StPO nicht durchgeführt:

„Eine Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO ist derzeit entgegen der Auffassung der Beschuldigten nicht veranlasst. Zwar befindet sie sich mittlerweile seit mehr als sechs Monaten in Untersuchungshaft. Im Hinblick auf die weiteren Vorwürfe im Haftbefehl vom 21. April 2021 ist jedoch eine neue Sechsmonatsfrist im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO in Gang gesetzt worden, deren Lauf am 18. Februar 2021 begonnen hat und deren Ablauf somit noch nicht bevorsteht.

Gemäß § 121 Abs. 1 StPO darf der Vollzug der Untersuchungshaft „wegen derselben Tat“ vor dem Erlass eines Urteils nur unter besonderen Voraussetzungen länger als sechs Monate aufrechterhalten werden. Der Begriff derselben Tat nach § 121 StPO ist mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm, die das Beschleunigungsgebot in Haftsachen durchsetzen soll, weit auszulegen. Nach der Rechtsprechung des Senats (Beschlüsse vom 6. April 2017 – AK 14/17, juris Rn. 6; vom 7. September 2017 – AK 42/17, NStZ-RR 2018, 10, 11; vom 16. Januar 2018 – AK 78/17, juris Rn. 11; vom 3. Februar 2021 – AK 50/20, juris Rn. 5; s. auch KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl., § 121 Rn. 10 mwN) erfasst er alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, zu dem sie – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt geworden sind und in einen bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind. Somit löst es keine neue Haftprüfungsfrist gemäß § 121 Abs. 1 StPO aus, wenn vor Ablauf der Frist ein neuer Haftbefehl erlassen wird, der lediglich auf Tatvorwürfe gestützt bzw. durch sie erweitert wird, die schon bei Erlass des ersten Haftbefehls – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt waren. Tragen dagegen die erst im Laufe der Ermittlungen bekannt gewordenen Tatvorwürfe für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls und ergeht deswegen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt. Für den Fristbeginn ist dann der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem sich der Verdacht hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe zu einem dringenden verdichtet hat, der neue bzw. erweiterte Haftbefehl mithin hätte erlassen werden können, nicht hingegen, wann die Staatsanwaltschaft ihn erwirkt hat. Dabei ist regelmäßig der Haftbefehl spätestens an dem auf die Beweisgewinnung folgenden Tag der veränderten Sachlage anzupassen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 – AK 14/17, juris Rn. 8; vom 25. Juli 2019 – AK 34/19, NStZ 2019, 626 Rn. 8; vom 3. Februar 2021 – AK 50/20, juris Rn. 5).

Danach hat der Haftbefehl vom 21. April 2021 eine neue Sechsmonatsfrist eröffnet, deren Lauf an dem Tag begonnen hat, an welchem ein erweiterter Haftbefehl hätte erlassen werden können. Dieser hat neue selbständige Taten zum Gegenstand, die noch nicht Gegenstand des vorangegangenen Haftbefehls waren (unten 1.), erst im Laufe der nachfolgenden Ermittlungen bekannt geworden sind (unten 2.) und für sich genommen den Haftbefehlserlass rechtfertigen (unten 3.); zu einem dringenden Tatverdacht haben sich diese Vorwürfe erst am 18. Februar 2021 verdichtet (unten 4.).“

Wegen der Einzelheiten dann bitte selbst im Volltext weiterlesen.

U-Haft II: Durchsuchung des Verteidigers in der JVA, oder: Auch Umkrempeln der Hosentaschen geht nicht

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Die zweite Entscheidung kommt dann vom LG Dortmund. Thematik im LG Dortmund, Beschl. v. 29.04.2021 – 33 Kls 4/21: Durchsuchung des Verteidigers vor dem Besuch des inhaftierten Mandanten. Dem Verteidiger sollte Zutritt zur Justizvollzugsanstalt Hagen zum Zwecke des Besuchs seines Mandanten nur gestattet werden unter der Voraussetzung, dass er die Hosentaschen von innen nach außen krempelt und die Jacken (Winterjacken und Anzugsjackett) ablegt und während des Besuchs in ein Schließfach einschließt. Dagegen hat sich der Verteidiger mit Erfolg gewehrt:

„2. Die Anordnung, der Justizvollzugsanstalt Hagen, nach der dem Antragsteller der Zutritt zur Justizvollzugsanstalt Hagen zum Zwecke des Besuchs seines Mandanten (Untersuchungsgefangener) verweigert worden ist, respektive nur gestattet worden ist unter der Voraussetzung, dass er die Hosentaschen von innen nach außen krempelt und die Jacken (Winterjacken und Anzugsjackett) ablegt und während des Besuchs in ein Schließfach einschließt, ausgesprochen durch den JVHS Pp., rechtswidrig.

Durchsuchungen des Verteidigers sind grundsätzlich unzulässig, weil sie den freien Verkehr mit dem Mandanten einschränken und den Angeklagten möglicherweise in seiner Verteidigung beeinträchtigen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 148, Rn. 12).

Dennoch ist die Durchsuchung nach Waffen und anderen gefährlichen Gegenständen auch bei einem Rechtsanwalt unter Berücksichtigung des ungehinderten Verkehrs mit dem Verteidiger aus Sicherheitsgründen zulässig.

Auch nach § 22 Satz 1 UVollzG NRW i.V.m. § 26 Abs. 1 Satz 2 StVollzG kann der Zutritt — auch von Rechtsanwälten — von ihrer Durchsuchung abhängig gemacht werden, wenn dies aus Gründen der Sicherheit der Anstalt erforderlich ist. Sofern von dem Ermessen, das die Norm vorsieht, Gebrauch gemacht werden soll, sind die Gründe dem zu Durchsuchenden darzulegen.

Ein Sicherheitsbedürfnis wurde jedoch nicht vorgetragen, als der Besuch des Antragstellers davon abhängig gemacht wurde, dass dieser seine Hosentaschen von innen nach außen krempeln sollte. Aus dem Schriftsatz des Antragstellers vom 05.03.2021 und auch aus der Stellungnahme des Leiters der JVA vom 25.03.2021 sowie aus der Stellungnahme zur Dienstaufsichtsbeschwerde des JVHS Pp. vom 08.03.2021 geht nicht hervor, dass die Durchsuchung aufgrund eines erkennbaren Verdachts durchgeführt werden sollte. Insoweit wird auch nicht behauptet, dass der Bedienstete der Justizvollzugsanstalt Hagen dem Antragsteller Gründe, die eine Durchsuchung rechtfertigen würden, zum Zeitpunkt des Zutritts dargelegt hat.

Vielmehr wird von der Justizvollzugsanstalt Hagen vorgetragen, dass die Maßnahme „die Hosentaschen von innen nach außen zu krempeln“ unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten das mildeste Mittel darstelle. Dem kann nicht beigepflichtet werden, da das Durchschreiten des Metalldetektorrahmens oder das Absonden mit einem Metalldetektor demgegenüber die milderen Mittel gewesen wären, dies insbesondere auch unter den derzeit bestehenden besonderen Umständen der Covid-19 Pandemie. Warum diese Maßnahme in dem vorliegenden Fall nicht in Betracht gezogen wurden, bleibt offen.

Auch die allgemeine Hausverfügung der Justizvollzugsanstalt Hagen rechtfertigt eine Durchsuchung in dem hiesigen Einzelfall nicht.

Dem vorangestellt ist bereits rechtlich umstritten, ob eine pauschale Durchsuchungsanordnung, normiert in einer Hausordnung, eine wirksame Berechtigung darstellt, alle Besucher (also auch Rechtsanwälte und Notare) anlasslos zu durchsuchen. Vielmehr dürfte diesbezüglich die Darlegung eines allgemeinen Sicherheitsbedürfnisses erforderlich sein.

Nach der Hausverfügung der Justizvollzugsanstalt Hagen ist eine anlasslose Durchsuchung aller Besucher jedoch auch nicht geregelt. Vielmehr sind alle Besucher der Anstalt, auch Rechtsanwälte und Notare, durch den Metalldetektorrahmen zu schicken und ggfls. körperlich zu durchsuchen, insbesondere dann, wenn sich beim Absonden ein Verdachtsmoment ergibt.

Somit liegt die Berechtigung einer Durchsuchung gegebenenfalls dann vor, wenn sich ein Verdachtsmoment ergibt. Ein solcher ist jedoch nicht vorgetragen (s.o.).“

Ob in der Aufforderung, den Wintermantel und das Anzugjackett auszuziehen und in einem Schließfach einzuschließen eine unzulässige Entkleidung im Sinne des StVollzG NRW vorlag, kann dahinstehen. Denn diese Aufforderung war ebenfalls rechtswidrig und auch nicht von der allgemeinen Hausordnung gedeckt. Für die Aufforderung, das Anzugsjacketts insbesondere zu einer kalten Jahreszeit auszuziehen und sodann in das Schließfach einzuschließen, sodass der Antragsteller lediglich mit einem T-Shirt bekleidet zu seinem Mandanten hätte gehen müssen, gab es keinerlei Berechtigung. Auch insoweit hätte die Möglichkeit bestanden, den Antragsteller — bekleidet mit dem Anzugsjackett — durch den Metalldetektorrahmen gehen zu lassen.

Verdachtsmomente, die eine Durchsuchung gerechtfertigt hätten, sind diesbezüglich nicht vorgetragen.

Der Antragsteller war somit bereits nicht verpflichtet sein Jackett auszuziehen/durchsuchen zu lassen, sodass auch kein Anlass bestand, nachzufragen, ob er das Jackett nach erfolgter Durchsuchung zurückbekommen könne.

Die Kammer verkennt nicht, dass die vorliegende Situation sicherlich nicht alltäglich in dieser Form in der Justizvollzugsanstalt Hagen vorkommt. Vielmehr dürfte es — wie dem Gericht bekannt ist — bei Rechtsanwälten der Fall sein, dass diese den Metalldetektorrahmen durchschreiten, nachdem sie ihre persönlichen Sachen in den Spint gelegt haben und es damit sein Bewenden hat. Da insbesondere der Gesprächsverlauf zwischen den Beteiligten streitig ist, ist nicht auszuschließen, dass sich die Situation aufgrund der geführten Gespräche zugespitzt hat. Dennoch wurde durch die Anordnung der freie Verkehr des Antragstellers mit seinem Mandanten beeinträchtigt, ohne dass dafür sicherheitsrelevante Aspekte dargelegt wurden.“

U-Haft I: Keine Einkaufsmöglichkeiten in der JVA?, oder: Gleiches Recht für alle

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Heute ist Montag, aber es gibt keine Corona-Entscheidungen, ist doch auch schön, oder? Dafür habe ich zwei Entscheidungen zum U-Haft-Vollzug, beide Entscheidungen im Verfahren nach § 119a StPO ergangen.

Zunächst stelle ich den LG Kiel, Beschl. v. 07.06.2021 – 5 KLs 593 Js 63612/19 – vor. Gegenstand der Entscheidung: (Unzulässige) Beschränkung des Einkaufs des Beschuldigten in der JVA. Die Strafkammer hat die Weigerung der JVA, den Beschuldigten am Einkauf teilnehmen zu lassen (nachträglich) als rechtswidrig angesehen:

„Der Angeklagte hat aufgrund der Regelung in § 18 Abs. 2 Satz 1 Untersuchungshaftvollzugsgesetz SH, wonach Untersuchungsgefangene aus einem von der Anstalt vermittelten Angebot einkaufen können, einen Anspruch auf Teilnahme an dem hierfür eingerichteten Regeleinkauf der Justizvollzugsanstalt (vgl. Graf/Schatz in BeckOK, Strafvollzugsrecht Hamburg, § 25, Rn. 3). Diese rechtliche Bewertung gilt auch für die vergleichbare Regelung in Schleswig-Holstein. Der Angeklagte, gegen den die Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Neumünster vollzogen wird, befand sich aufgrund der auf den 17.5.2021 und den 19.5.2021 anberaumten Termine vom 11.5.2021 bis zum 20.5.2021 in der JVA Kiel. An dem in der Justizvollzugsanstalt Neumünster am Dienstag den 11.5.2021 durchgeführten Einkauf konnte er infolge der Verlegung nicht mehr teilnehmen. Die nächste Einkaufsmöglichkeit bestand für ihn nach der Rückverlegung in der JVA Neumünster am 25.5.2021.

Das Recht auf Einkauf stellt eine wichtige und für den Untersuchungsgefangenen häufig die einzige Möglichkeit der individuellen Lebensgestaltung dar. In welcher Weise die Anstalt ihre Verpflichtung erfüllt, für entsprechende Einkaufsmöglichkeiten zu sorgen, steht in ihrem Ermessen, das jedoch die besondere Stellung des Untersuchungsgefangenen berücksichtigen muss (Graf in BeckOK, Strafvollzugsrecht Schleswig-Holstein, §18, Rn. 4).

Entsprechend der bisherigen Praxis können Untersuchungsgefangene einmal wöchentlich ein-kaufen.

Durch diese allgemeine Praxis besteht eine Bindung der Ermessensausübung dahin, dass die. Untersuchungsgefangenen gleich zu behandeln sind und jedem von ihnen einmal wöchentlich ein Einkauf zu ermöglichen ist, sofern nicht Gründe entgegenstehen, die eine abweichende Be-handlung rechtfertigen. Dies ist hier nicht der Fall. Allein der Umstand, dass die Anstalt die Bezahlung des Einkaufs in der Weise geregelt hat, dass diese von einem bei der JVA Neumünster ein-gerichteten Konto erfolgt, rechtfertigt nicht, dem Angeklagten bei einem eine Woche überschreitenden Aufenthalt in einer anderen Justizvollzugsanstalt die Teilnahme an dem Regeleinkauf in dieser Anstalt, in die er aus nicht in seiner Person liegenden Gründen verlegt worden ist, zu versagen. Es ist nicht ersichtlich, warum es nicht mit vertretbarem Aufwand möglich sein soll, die Bezahlung des Einkaufs in derartig gelagerten Fällen bei ausreichend vorhandenen Eigenmitteln zu organisieren. Die Gestaltung der administrativen Abläufe hat sich grundsätzlich an den Ansprüchen der Gefangenen zu orientieren und kann nicht zu einem vermeidbaren Verlust des Anspruchs führen.

Im vorliegenden Fall vermag auch nicht eingewendet zu werden, dass der Angeklagte sich für den Aufenthalt in der JVA Kiel entsprechend hätte bevorraten müssen. Dies würde der Zielsetzung des Einkaufs als Möglichkeit individueller Lebensgestaltung während des Vollzuges der Untersuchungshaft entgegenstehen. Auch neu aufgetretene Bedarfe im Rahmen des angebotenen Sortiments müssen gedeckt werden können.

Soweit der Angeklagte durch seinen Verteidiger über die Beanstandung der Weigerung, ihn am Einkauf teilnehmen zu lassen, hinaus gerügt hat, die JVA Kiel habe sich geweigert, dem Ange-klagten Tabakerzeugnisse käuflich zu erwerben, ist dies nicht rechtswidrig,‘ denn er hat keinen Anspruch darauf, durch die Justizvollzugsanstalt mit Tabakerzeugnisse versorgt zu werden. Sie muss ihm lediglich die Gelegenheit geben, diese im Rahmen des Einkaufs selbst zu erwerben.“

Pflichti II: Auslieferungshaft im Ausland, oder: Dann ist im Inland ein Pflichtverteidiger zu bestellen

entnommen openclipart.org

Das zweite Posting befasst sich dann noch einmal mit einer Entscheidung vom LG Nürnberg-Fürth. Im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 04.05.2021 – 12 Qs 20/21 –, hat das LG die Frage entschieden, ob die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO auch dann vorliegen, wenn gegen den Beschuldigten Auslieferungshaft in anderer Sache im Ausland zum Zwecke der Überstellung ins Inland vollzogen wird. Das LG hat das bejaht:

„2. Dem Angeklagten war Rechtsanwalt D. als Pflichtverteidiger beizuordnen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorliegt.

a) Nach der genannten Vorschrift ist ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben, wenn sich der Angeklagte auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet. Der Begriff der „Anstaltsunterbringung“ ist weit auszulegen und umfasst neben der Straf- und Untersuchungshaft auch die Auslieferungshaft (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 140 Rn. 16).

aa) Unerheblich ist, ob die Pflichtverteidigerbestellung für die Sache, in der die Freiheitsentziehung vollzogen wird, oder für ein anderes Strafverfahren erfolgen soll. Denn die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten sind durch die vollzogene Freiheitsentziehung in beiden Fällen gleichermaßen eingeschränkt (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 1999 – 1 Ws 411/99, juris Rn. 11; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 5 Qs 53/12, juris Rn. 3).

Soweit aufgrund systematischer Erwägungen zu früherer Rechtslage im Hinblick auf das Verhältnis von § 140 Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO a.F. vertreten wurde, § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO a.F. erfasse nicht den Fall einer in anderer Sache vollzogenen Freiheitsentziehung (dazu etwa LG Dresden, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 14 Qs 16/18; LG Osnabrück, Beschluss vom 6. Juni 2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16), je in juris), ist diese Auffassung durch die Änderung des § 140 StPO aufgrund des Gesetzes zur Regelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. 2019 Teil I, 2128) überholt.

bb) Nichts anderes gilt, wenn sich der Angeklagte im Ausland in Haft befindet (OLG Koblenz, Beschluss vom 30. Mai 1984 – 1 Ws 411/84, NStZ 1984, 522; SSW/Beulke, StPO, 4. Aufl., § 140 Rn. 25; vgl. auch den 21. Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016, ABl. L 297/1 vom 4. November 2016 für den Fall eines EuHB). So liegen die Dinge hier: Der Angeklagte befindet sich zur Überzeugung der Kammer derzeit in serbischer Auslieferungshaft. Das ergibt sich aus der Mitteilung des Bayerischen LKA vom 12. Februar 2021, wonach der Angeklagte aufgrund der internationalen Fahndung in Serbien festgenommen worden sei und einer dies bestätigenden weitergeleiteten Mail von Interpol Belgrad. Zwar verfügte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth am 29. April 2021 auf Nachfrage der Kammer über keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass sich der Angeklagte in Serbien (weiterhin) in Auslieferungshaft befindet; das Auslieferungsersuchen an die serbischen Behörden sei gestellt worden. Diese tatsächliche Unsicherheit steht nach Auffassung der Kammer einer Pflichtverteidigerbeiordnung aber nicht entgegen, weil es jedenfalls keine Erkenntnisse gibt, die der gesicherten Festnahme des Angeklagten am 12. Februar 2021 widersprechen oder eine Beendigung der Auslieferungshaft belegen.

Eine Bewertung dahin, auf eine im Ausland vollzogene Freiheitsentziehung käme es nicht an, wäre mit dem Gesetzeswortlaut des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO nicht zu vereinbaren. Diese Vorschrift enthält keine räumliche Einschränkung im Hinblick auf den Ort der Anstaltsunterbringung. Auch nach Art. 4 Abs. 4 Buchstabe b der zitierten Richtlinie (EU) 2016/1919, deren Umsetzung § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F. dient (BT-Drs. 19/13829, 34), ist es für die Gewährung von Prozesskostenhilfe in jedem Fall ausreichend, dass sich der Angeklagte in Haft befindet, ohne dass diese Voraussetzung nach Ort oder Anlass des Vollzugs der Freiheitsentziehung näher eingegrenzt würde (vgl. auch BT-Drs. 19/13829, 37).

b) Da § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO dem Gericht kein Ermessen einräumt, war beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen die Beiordnung des Pflichtverteidigers anzuordnen.

Der Beiordnung steht nicht entgegen, dass Rechtsanwalt D. vom Beschwerdeführer bereits als Wahlverteidiger mandatiert worden ist. Der Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers enthält nämlich die implizite Erklärung, die Wahlverteidigung werde mit der Beiordnung enden (OLG München, Beschluss vom 6. März 1992 – 1 Ws 161/92, wistra 1992, 237; KG, Beschluss vom 19. September 2011 – (2) 1 Ss 361/11 (53/11), juris Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 40).

Der beantragten Beiordnung steht ebenso wenig entgegen, dass der Beschwerdeführer keinen ortsansässigen Rechtsanwalt beigeordnet sehen will. Denn das ist nach allgemeiner Ansicht kein wichtiger Grund im Sinne des § 142 Abs. 5 Satz 3 StPO, der einer Bestellung entgegenstünde (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 51 f. m.w.N.).“

Haft III: Zulässige Dauer der Organisationshaft, oder: Bloßes Warten auf einen Therapieplatz reicht nicht

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Und als dritte Entscheidung dann ein Beschluss aus dem Bereich der sog. Organisationshaft, und zwar der LG Mannheim, Beschl. v. 01.02.2021 – R 19 StVK 13/21 – mit folgendem Sachverhalt:

Am 5.10.2020 verurteilte das LG wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu vier Jahren Freiheitsstrafe. Zudem ordnete es die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. Das Urteil ist seit dem 13.10.2020 rechtskräftig.

Bereits am 07.10.2020 hatte die Vollstreckungsabteilung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht erbeten, die Rechtskraft des Urteils umgehend mitzuteilen. Eine entsprechende Mitteilung machte das LG dann am 15. und erneut am 20.10.2020. Am 21.10.2020 richtete die Staatsanwaltschaft eine Anfrage an die Koordinierungsstelle für Aufnahmen in eine Entziehungsanstalt in Baden-Württemberg, wann aufgenommen werden könne. Am gleichen Tag ließ die Staatsanwaltschaft über die Justizvollzugsanstalt bei pp. anfragen, ob er auch mit einer Unterbringung in einem anderen Bundesland einverstanden sei. Dieser ließ unter dem 23.10.2020 mitteilen, dass er auch mit einer Unterbringung in Schleswig-Holstein einverstanden sei.

Am 06. und am 16.11.2020 erinnerte die Staatsanwaltschaft beim Zentrum für Psychiatrie Calw an ihr Aufnahmeersuchen. Mit Schreiben vom 17.11.2020, bei der Staatsanwaltschaft eingegangen am 19.112020, erhielt die Staatsanwaltschaft die Information des ZfP Calw, dass      dort am 05.05.2021 aufgenommen werden könne. Gleiches teilte die Koordinierungsstelle mit Schreiben vom 23.11.2020 mit. Weiter bat sie die Staatsanwaltschaft um Mitteilung, falls gegen die Organisationshaft Rechtsmittel eingelegt werde und die Besorgnis bestehe, der Unterzubringende könnte auf freien Fuß kommen. In diesem Fall wolle man „nochmals prüfen [..,], ob die aktuelle Belegungssituation in einem der ZfP eine vorgezogene Aufnahmemöglichkeit zulässt.“ Schließlich wies die Koordinierungsstelle darauf hin, das „ab Frühjahr 2021 UI im ZfP Weinsberg 30 weitere Therapieplätze zur Verfügung stehen‘ werden. Man gehe daher davon aus, „dass sich der Aufnahmetermin deutlich nach vorne verschieben kann.“

Am 24.11.2020 richtete die Staatsanwaltschaft Mannheim eine (in der Vollstreckungsakte nicht dokumentierte) Anfrage an das Sozialministerium. Daran anschließend bat das Justizministerium das Sozialministeriums mit E-Mail vom 25.11.2020 „um zeitnahe Mitteilung eines akzeptablen Aufnahmetermins, um eine Freilassung wegen unverhältnismäßig langer Organisationshaft zu vermeiden.“ Noch am 25.112020 teilte das Sozialministerium mit, dass der schleswig-holsteinische Maßregelvollzug derzeit keine Patienten aus anderen Bundesländern aufnehme, der Verlegungswunsch aber vermerkt worden sei.

Mit Schreiben vom 12.01.2021 beantragte dann die Verteidigerin, pp. aus der Organisationshaft zu entlassen, hilfsweise gerichtliche Entscheidung darüber. Mit Verfügung vom 14,1.2021 hat die Staatsanwaltschaft die Entlassung abgelehnt und die Sache der Strafvollstreckungskammer zur Entscheidung vorgelegt.

Das LG hat den Verurteilten entlassen. Es meint (zusammengefasst):

Welche Dauer der sog. Organisationshaft vertretbar ist, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen, wobei die konkreten Bemühungen der Vollstreckungsbehörde um einen Platz im Maßregelvollzug zu berücksichtigen sind. Die Organisationshaft ist nicht zu rechtfertigen, wenn die Vollstreckungsbehörde die Umsetzung. des Urteils nach Rechtskraft nicht unverzüglich und beschleunigt einleitet. Sie ist auch nicht zu rechtfertigen, wenn die Umsetzung allein an fehlenden Ressourcen im Maßregelvollzug scheitert. Bloßes Warten auf einen mittel- oder langfristig freiwerdenden Therapieplatz kann die Organisationshaft nicht begründen.