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Rechtsabbiegen des Lang-Lkw mit Linksschwenk, oder: Man muss sich einweisen lassen

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Stuttgart, Urt. v. 11.04.2024 – 2 U 176/22 – hat das OLG zur Haftungsverteilung bei eienm Abbiegeunfall Stellung genommen.

Geklagt wird von einem Kaskoversicherer, der im Regress Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend macht. Dem liegt etwas Folgendes Verkehrsgeschehen zugrunde: Am Unfalltag stand der Beklagte Ziff. 1 mit dem bei der Beklagten Ziff. 2 versicherten Fahrzeug auf der zweispurigen Abbiegespur von der K.-Straße auf die R-Straße in S. und wartete an der Ampel auf Grünlicht. Bei dem Fahrzeug handelt es sich um einen Lang-Lkw, ein Gespann von etwas mehr als 25 m. Das Fahrzeug nahm teilweise auch die linke Spur in Anspruch, wobei zwischen den Parteien der genaue Standort streitig ist. Der bei der Klägerin versicherte und vom Zeugen M. gelenkte Mercedes GLE 350 stand links von dem Beklagtenfahrzeug, wobei auch hier der genaue Standort einschließlich des Abstands zum Beklagtenfahrzeug zwischen den Parteien streitig ist.

Nachdem der Beklagte Ziff. 1 mit dem Lang-Lkw angefahren war, kam es zur Kollision zwischen der linken vorderen Ecke des Anhängers und der rechten hinteren Seite des bei der Klägerin versicherten Fahrzeugs.

Der Reparaturaufwand am Pkw beträgt 12.171,40 EUR netto, die Wertminderung 1.848,74 EUR. Die Klägerin hat den Schaden ihres Versicherungsnehmers reguliert. Im Regress hat die Beklagte Ziff. 2 an die Klägerin ein Drittel der Reparaturkosten (4.057,13 EUR) erstattet.

Mit der Klage verfolgt die Klägerin weitergehende Erstattungsansprüche. Das LG hat der teilweise stattgegeben. Dabei legte das LG einen Haftungsanteil der Beklagten von 1/3 zu Grunde.  Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche noch in Höhe von 75 % des Nettoschadens weiter. Die Berufung hatte Erfolg.

Das OLG geht von einem nach § 18 Abs. 1 StVG haftungsbegründenden/vermuteten Verschulden des Beklagten Ziff. 1 als Fahrer des Lang-LKW aus. Das ergebe sich aus einem Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO. Zwischen den Parteien sei auch nicht streitig, dass weder höhere Gewalt (§ 7 Abs. 2 StVG, § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG) noch eine Unabwendbarkeit des Unfalls (§ 17 Abs. 3 StVG, § 18 Abs. 3 StVG) vorliegt.

Zur Haftungsabwägung führt das OLG dann aus:

„Nicht gefolgt werden kann allerdings der Wertung des Landgerichts, wonach die Klägerin lediglich 1/3 des Schadens ersetzt verlangen kann. Vielmehr ist ihr Schaden antragsgemäß mit einem Anteil von 3/4 zu ersetzen.

Bei der gemäß § 17 Absatz 3 StVG (i.V.m. § 18 Absatz 3 StVG) durchzuführenden Abwägung kommt es entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat (BGH, Urteil vom 20. Januar 1998 – VI ZR 59/97, juris Rn. 8). Einzustellen ist auch die Betriebsgefahr (BGH, Urteil vom 07. März 2017 – VI ZR 125/16, juris Rn. 16). Die Betriebsgefahr kann durch besondere Umstände erhöht sein, namentlich durch eine fehlerhafte oder verkehrswidrige Fahrweise (BGH, Urteil vom 27. Juni 2000 – VI ZR 126/99, juris Rn. 23). Einzubeziehen sind jedoch nur diejenigen unstreitigen oder erwiesenen Faktoren, die eingetreten sind, zur Entstehung des Schadens beigetragen haben und einem der Beteiligten zuzurechnen sind (BGH, Urteil vom 21. November 2006 – VI ZR 115/05, juris Rn. 15).

1. Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist die Betriebsgefahr des vom Beklagten Ziff. 1 gelenkten Fahrzeugs äußerst hoch anzusetzen. Es handelt sich um ein sehr langes Gespann von über 25 Metern, dessen Fahrverhalten beim Rechtsabbiegen vom Beklagten Ziff. 1 in der konkreten Verkehrssituation nicht sicher beherrschbar war. Wegen der Länge seines Fahrzeugs war der Fahrer gezwungen, die linke Abbiegespur teilweise mitzubenutzen, um den Abbiegevorgang fahrtechnisch absolvieren zu können. Schon dieser Umstand erhöht die Betriebsgefahr immens. Dies gilt insbesondere, wenn die Nutzung der fremden Fahrbahn in der vom Beklagten Ziff. 1 angestellten Erwägung geschieht, den Verkehrsfluss gezielt zu stören, um den Abbiegevorgang überhaupt erst oder mit erhöhtem Komfort durchführen zu können. Dieses Fahrverhalten hat ganz erheblich zum Verkehrsunfall beigetragen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass anhand der Angaben des Sachverständigen nicht sicher beurteilt werden kann – was der Vortrag des Beklagten Ziff. 1 allerdings nahelegt –, ob der Beklagte Ziff. 1 zugleich gegen das Gebot, möglichst weit rechts zu fahren (§ 2 Absatz 2 StVO, § 9 Absatz 1 Satz 2 StVO), verstoßen hat.

Weiter ist die Betriebsgefahr des Lang-Lkws dadurch erhöht, dass der Anhänger beim Rechtsabbiegen an seiner vorderen linken Ecke nach links ausschwenkt und der Fahrer aus seiner Position nicht beobachten kann, ob hierdurch der nachfolgende Verkehr gefährdet wird. Dies steht aufgrund der Fahrversuche des Sachverständigen R. mit einem typgleichen Lang-LKW fest. Der Sachverständige hat festgestellt, dass der Fahrer keine Möglichkeit mehr hat, den Verkehrsraum links neben dem Auflieger zu beobachten, sobald sich das Zugfahrzeug nach Beginn des Abbiegevorgangs nach rechts wegbewegt hat. Weiter hat der Sachverständige bei den Fahrversuchen beobachtet, dass sich die linken Ecken des Zugfahrzeugs auf der gleichen Fahrlinie bewegen, sich dann aber während der Kurvenfahrt die linke vordere Ecke des Aufliegers nach links bewegt, also aus der Fahrlinie des Zugfahrzeuges ausschert, und zwar etwa einen Meter über einen im Fahrversuch an der Fahrlinie positionierten Gegenstand hinaus. Aus diesen Feststellungen des Sachverständigen folgt, dass das Beklagtenfahrzeug beim Abbiegevorgang die fremde Spur benutzt hat, ohne dass der Fahrer die Möglichkeit hatte, den gefährdeten Verkehrsraum zu beobachten. Der Fahrer muss jedoch Sichteinschränkungen berücksichtigen (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 19. März 1996 – 10 U 167/95, juris Rn. 5 zum toten Winkel). All dies begründet eine sehr hohe Betriebsgefahr, die sich in dem Verkehrsunfall auch realisiert hat.

Diese Betriebsgefahr hat sich noch dadurch erhöht, dass – wie der Beklagte Ziff. 1 in seiner erstinstanzlichen Anhörung angegeben hat – regelmäßig Fahrzeuge versuchen, sich an dem Lang-Lkw „vorbeizudrücken“. Deshalb versucht der Beklagte, mit dem Motorwagen die linke und mit dem Anhänger die rechte Spur zu blockieren, damit sich niemand an ihm vorbeidrücken könne. Nach den Ausführungen des Sachverständigen konnten die beiden Fahrspuren wegen ihrer Gesamtbreite jedoch nicht so blockiert werden, dass ein Vorbeifahren anderer Fahrzeuge zu verhindern war.

Der Beklagte Ziff. 1 musste deshalb schon aufgrund der Fahrbahnbreite und seiner vorangegangenen Erfahrungen an der Unfallörtlichkeit damit rechnen, dass sich ein Fahrzeug an ihm „vorbeidrücken“ würde, konnte aber während des Abbiegevorgangs wegen der beschränkten Sichtverhältnisse nicht erkennen, ob durch den nach links weiter in die fremde Fahrbahn ausscherenden Anhänger nachfolgender Verkehr gefährdet wird. Somit war die Verkehrssituation für ihn nicht beherrschbar. Er muss vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr achten. Eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs muss ausgeschlossen sein (§ 9 Absatz 1 Satz 4 StVO). Dies gilt auch für den rechtsabbiegenden Verkehr und erfordert bei einem ausschwenkenden Fahrzeug ein äußerst sorgfältiges Verhalten, notfalls die Einweisung durch eine weitere Person (vgl. König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 9 StVO Rn. 25).

Diese Straßenverkehrsregeln konnte der Beklagte Ziff. 1 aufgrund der Beschaffenheit seines Gespanns in der konkreten Verkehrssituation nicht einhalten, weil das Ausschwenken des Anhängers zu einer Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs führte und die eingeschränkten Sichtverhältnisse eine Beobachtung des gefährdeten Verkehrsraums auch nicht ermöglichten. Obwohl der Beklagte Ziff. 1 mit „vorbeidrückenden“ Autos rechnen musste und damit auch gerechnet hat, ist er ohne ausreichende Sicht gefahren. In einer solchen Situation hätte er sich von jemand anderem einweisen lassen müssen, um den Unfall zu vermeiden. In diesem Verstoß gegen § 9 Absatz 1 Satz 4 StVO liegt ein bei der Abwägung zu berücksichtigendes Verschulden des Beklagten Ziff. 1.

2. Demgegenüber hat das Landgericht die an den Fahrer des klägerischen Fahrzeugs gestellten Pflichten deutlich überspannt. Einem Kraftfahrer kann nicht dasjenige als Wissen unterstellt werden, was ein gerichtlicher Sachverständiger erst durch Fahrversuche herausfindet, dass nämlich die linke vordere Ecke eines Anhängers um einen Meter nach links ausschwenkt, wenn es sich um das Gespann eines Lang-Lkws handelt. Auch war das Blockieren beider Fahrspuren durch den Beklagten Ziff. 1 in keiner Weise geeignet, den nachfolgenden Verkehr vor solchen Gefahren zu warnen. Die Klägerin weist zu Recht darauf hin, dass andere Verkehrsteilnehmer dies auch dahingehend deuten können, dass der Lkw den Platz benötigt, um ausreichend Platz für das Abbiegen nach rechts zu bekommen.

Als relevante Abwägungskriterien verbleiben zum Nachteil der Klägerin mithin die allgemeine Betriebsgefahr eines Pkw sowie der von der Klägerin eingeräumte Verstoß gegen die allgemeinen Sorgfaltspflichten (§ 1 Absatz 2 StVO), weil der Fahrer trotz erkennbar enger Verhältnisse sich an dem Beklagtenfahrzeug „vorbeigedrückt“ hat.

3. Unter Abwägung der Verursachungsbeiträge hat die Klägerin nicht mehr als den von ihr eingeräumten Anteil von einem Viertel zu tragen. Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann bei weitem nicht die Rede davon sein, der Fahrer des Klägerfahrzeugs habe den Unfall allein verursacht. Vielmehr war die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs in der konkreten Verkehrssituation extrem hoch und hat sich in dem Unfallgeschehen auch realisiert.“

Explosion beim Reinigen eines Kraftstofftanks, oder: Verletzung der Verkehrssicherungspflicht?

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Und heute dann (verkehrs)zivilrechtliche Entscheidungen, seit längerem mal wieder.

Ich starte in die Berichterstattung mit dem OLG Celle, Urt. v. 07.02.2024 – 14 U 113/23. Das OLG nimmt Stellung zur Verkehrssicherungspflicht als vertragliche Nebenpflicht im Werkvertrag bei Reinigung eines Kraftstofftanks.

Folgender Sachverhalt: Gestritten wird um Schadensersatzansprüche aufgrund einer Explosion der kleinen privaten Tankstelle auf dem Grundstück der Klägerin. Die Klägerin betreibt ein mittelständisches Tischlereiunternehmen, welches über mehrere Firmenfahrzeuge verfügt. Um diese besser bewirtschaften zu können, beabsichtigte die Klägerin, eine auf ihrem Firmengelände befindliche kleine private Tankstelle vom Eigentümer, Herrn H., zu pachten und eigenständig zu betreiben. Allerdings war diese seit Jahren bereits nicht mehr in Betrieb, als sich die Klägerin entschloss, die Tankstelle zu pachten. Mit Mietvertrag vom 30. Juni 2016 mietete sie die auf ihrem Firmengelände befindliche Tankstelle zum eigenständigen Betrieb sowie eine Lagerhalle zu einer monatlichen Miete von 300 € zzgl. 19 % MwSt. Die Klägerin beauftragte die Beklagte mit E-Mail mit der fachgerechten Reinigung der zwei Tankstellentanks aus Kunststoff mit je 2x 2.000 l Fassungsvermögen. Zur Ausführung der Tankreinigung beauftragte die Beklagte wiederum die Firma des Streithelfers, den Pe. D. Tankschutzbetrieb. Die Mitarbeiter des Streithelfers führten am 11. September 2018 die Reinigungsarbeiten auf dem Grundstück der Klägerin aus, nachdem sie die Stromzufuhr der Pumpe der Tanks von der Klägerin unterbrechen ließen. Es kam zu einer Explosion eines Tanks der Tankstelle – wobei die Ursache, Zeitpunkt und das Ausmaß der Explosion zwischen den Parteien streitig ist. Personen wurden nicht verletzt. Die Klägerin zahlt an den Eigentümer die vereinbarte Miete weiter.

Im Streit ist vornehmlich Ursache und Zeitpunkt der Explosion und die Frage, ob sich die Beklagte schuldhaftes Handeln ihrer Mitarbeiter zurechnen lassen muss. Das LG hat die Klage abgewiesen, die Berufung hatte beim OLG teilweise Erfolg.

Das OLG hat seine Entscheidung umfangreich begründet. Ich stelle hier daher nur die Leitsätze vor und verweise im Übrigen auf den verlinkten Volltext:

1. Bei einem Vertrag über die Reinigung eines Kraftstofftanks besteht eine Schutzpflicht des reinigenden Fachunternehmens, die Rechtsgüter des Auftraggebers vor Beschädigungen beim Reinigungsvorgang zu bewahren. Es handelt sich dabei um einen Unterfall einer Verkehrssicherungspflicht als vertraglicher Nebenpflicht.

2. Der Auftragnehmer genügt grundsätzlich seiner Verkehrssicherungspflicht, wenn die von ihm übernommenen Arbeiten den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechen.

3a) Die Beweislast für die objektive Pflichtverletzung, für den eingetretenen Schaden und für den Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden trägt zwar im Grundsatz der Gläubiger. Etwas Anderes kann allerdings dann gelten, wenn als Schadensursache nur solche aus dem Obhuts- und Gefahrenbereich des Schuldners in Betracht kommen. Steht demnach fest, dass als Schadensursache nur eine solche aus dem Obhuts- und Gefahrenbereich des Schuldners in Betracht kommt, muss dieser sich nicht nur hinsichtlich der subjektiven Seite, sondern auch hinsichtlich der objektiven Pflichtwidrigkeit entlasten.

3b) Diese Beweislastverteilung gilt auch bei einer Schadensersatzhaftung, wenn die genaue Ursache nicht aufgeklärt werden kann.

4a) Die Technischen Regeln für Betriebssicherheit (TRBS 1112 Teil 1) zu Explosionsgefährdungen bei und durch Instandhaltungsarbeiten (Beurteilung und Schutzmaßnahmen) können zur Beurteilung der Sicherheit der durchgeführten Arbeiten herangezogen werden.

4b) Die technischen Regelungen zum Betriebsschutz geben im Anwendungsbereich als Zusammenfassung die für den Umgang mit Explosionsgefahren geltenden anerkannten Regeln der Technik und den Stand der geforderten Schutz- und Gefahrenbeurteilungsmaßnahmen wieder und sind somit zur Bestimmung des nach der Verkehrsauffassung zur Sicherheit Gebotenen geeignet.

Maßgebliche HV-Dauer für den Längenzuschlag, oder: Abzug von Pausen bzw. spätere Fortsetzung der HV

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Und im zweiten Posting dann etwas zum Längenzuschlag bei der Terminsgebühr für den Pflichtverteidiger. Das ist mal wieder eine dieser Entscheidungen, die man im Grunde nicht braucht oder die völlig unnötig ist bzw. die überhaupt nicht erforderlich gewesen wäre, wenn der Vertreter der Staatskasse sich mit der richtigen Entscheidung der Rechtspflegerin zufrieden gegeben hätte. Aber (natürlich) nicht. Das kann doch nicht sein.

Folgender Sachverhalt: Beim OLG Jena ist ein Staatsschutzverfahren anhängig. In dem beantragt der Pflichtverteidiger die Festsetzung eines Kostenvorschusses gemäß § 47 RVG, und zwar mit Längenzuschlag nach Nr. 4122 VV RVG. Der wird von der Rechtspflegerin festgesetzt. Die Staatskasse legt Erinnerung ein.

Die Rechtspflegerin hilft im OLG Jena, Beschl. v. 12.04.2024 – 3 St 2 BJs 4/21 – nicht ab und legt dem Senat vor. Begründung:

„Gemäß Nr. 4122 VV RVG entsteht eine zusätzliche Gebühr in Höhe von 233,00 EUR, wenn der Rechtsanwalt an mehr als 5 bis 8 Stunden Hauptverhandlung teilnimmt.

Ausweislich der Vorbemerkung 4.1 Abs. 3 VV RVG sind Wartezeiten und Unterbrechungen an einem Hauptverhandlungstag als Teilnahme zu berücksichtigen, es sei denn der Rechtsanwalt hat diese zu vertreten oder die Unterbrechung dauerte mindestens eine Stunde an und wurde unter Angabe einer konkreten Dauer oder eines Zeitpunkts der Fortsetzung angeordnet.

Ausweislich des Protokolls über den Hauptverhandlungstermin am 22.01.2024 wurde die Verhandlung um 12.35 für eine Mittagspause unterbrochen, wobei die Verhandlung auf Anordnung des Vorsitzenden um 13.30 Uhr fortgesetzt werden sollte.

Tatsächlich wurde die Verhandlung erst 13.35 Uhr fortgesetzt.

Mithin beläuft sich die angeordnete Unterbrechung auf 55 Minuten.

Die tatsächliche Unterbrechung beläuft sich auf 60 Minuten.

Voraussetzung für den Abzug der Unterbrechung sind gemäß Vorb. 4.1. Abs. 3 S. 2, dass diese mindestens eine Stunde andauerte und vorn Vorsitzenden unter Angabe eines konkreten Zeit-punkts der Fortsetzung angeordnet wurde.

Wird dann die Hauptverhandlung aus von dem Rechtsanwalt nicht zu vertretenden Gründen erst nach dem genannten Zeitraum fortgesetzt, ist nur der vom Vorsitzenden angeordnete Zeitraum zu berücksichtigen, nicht die Dauer der tatsächlichen Unterbrechung (vgl. LG Mannheim, Beschluss vorn 11. Mai 2022 — 4 KLs 300 Js 40140/20),

Der angeordnete Zeitraum beläuft sich, wie oben ausgeführt, auf 55 Minuten.

Unterbrechungen von bis zu einer Stunde werden grundsätzlich immer als Teilnahme berücksichtigt (vgl. Gerold/Schmidt, RVG-Kommentar, 26. Auflage 2023, Rn. 23).

Es sei denn der Rechtsanwalt hat diese zu vertreten, wobei dies der Fall wäre, wenn die Unter-brechung auf Wunsch des Rechtsanwalts angeordnet wurde, etwa weil dieser einen anderen Termin wahrnehmen muss (vgl. Gerold/Schmidt, RVG-Kommentar, 26. Auflage 2023, Rn. 25). Ausweislich des Protokolls des Hauptverhandlungstermins wurde die Verhandlung für eine Mittagspause unterbrochen, vor diesem Hintergrund ist daher ein Vertretenmüssen nicht erkennbar.

Die zu berücksichtigende Dauer des Termins setzt sich wie folgt zusammen:

Die Hauptverhandlung wurde um 10.05 Uhr eröffnet, wobei der Beginn zuvor auf 10.00 Uhr bestimmt war. Die 5 Minuten Wartezeit sind bei der Berechnung der Verhandlungsdauer mit zu berücksichtigen.

Ausweislich des Protokolls wurde die Verhandlung um 15.55 Uhr geschlossen.

Da die Mittagspause als Unterbrechung nicht in Abzug zu bringen ist, beläuft sich die gesamte zu berücksichtigende Verhandlungszeit auf 5.55 Stunden.

Der Rechtsanwalt hat somit an mehr als 5 bis 8 Stunden Hauptverhandlung teilgenommen, der Längenzuschlag gemäß Nr. 4122 VV RVG in Höhe von 233,00 EUR ist entstanden.

Aus oben genannten Gründen wird der Erinnerung nicht abgeholfen.

Das Rechtsmittel wird dem zuständigen Richter zur Entscheidung vorgelegt.“

Der zuständige (Einzel)Richter beim OLG hat dann nicht lange gebraucht und hat schon mit dem OLG Jena, Beschl. v. 18.04.2024 – 3 St 2 BJs 4/21 – entschieden, und zwar kurz und zackig:

„Die Erinnerung gegen den Vergütungsfestsetzungsbeschluss vom 23.02.2024, über die gem. §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 8 S. 1 RVG der Einzelrichter zu entscheiden hat, führt nicht zu dessen Abänderung.

Die Kostenfestsetzung ist nicht zu beanstanden. Zur Begründung nimmt der Senat auf die ausführliche wie zutreffende Begründung im Nichtabhilfebeschluss der zuständigen Rechtspflegerin Vom 12.04.2024 Bezug, die er sich zu Eigen macht.“

Wie gesagt kurz und zackig. Und das mit Recht. Was soll man dazu auch anderes schreiben?

Der Vertreter der Staatskasse hatte übrigens wie folgt gerechnet:

Vorliegend dauerte die Hauptverhandlung am 22.01.2024 von 10.05 Uhr bis 15.55 Uhr.
Der Beginn der Verhandlung wurde zuvor für 10.00 Uhr bestimmt, sodass die Zeit bis zum tatsächlichen Terminsbeginn (5 Minuten) als Wartezeit bei der Berechnung der Terminsdauer mit zu berücksichtigen ist.
Um 12.35 Uhr wurde die Verhandlung sodann unterbrochen und die Fortsetzung für 13.30 Uhr angeordnet,
Tatsächlich wurde die Verhandlung jedoch erst 13.35 Uhr fortgesetzt.
Es kann daher festgestellt werden, dass die Pause eine Stunde andauerte und der Zeitpunkt der Fortsetzung der Verhandlung vor Beginn der Pause angeordnet wurde. Insoweit sind die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorb. 4.1 Abs. 3 S. 2 Alt. 2 W RVG nach meinem Dafürhalten erfüllt, sodass die benannte Unterbrechung bei der Berechnung der Verhandlungsdauer nicht zu berücksichtigen ist.
Da die Pause jedoch nur bis 13.30 Uhr angeordnet wurde, dürften lediglich 55 Minuten In Abzug zu bringen sein.
Die berücksichtigungsfähige Dauer des Hauptverhandlungstermins vom 22.01.2024 berechnet sich mithin wie folgt:
10.00 Uhr bis 12.35 Uhr = 2 Stunden und 35 Minuten
13.30 Uhr bis 15.55 Uhr = 2 Stunden und 25 Minuten“

Was davon zu halten ist, sagt das OLG. Wäre m.E. nicht nötig gewesen. Aber es hat auch etwas Gutes: Jetzt gibt es wenigstens auch einen OLG-Beschluss zu der Frage. 🙂

StPO III: Führungsaufsicht: Ausschreibung zur Beobachtung, oder: Voraussetzungen

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Und dann noch der OLG Saarbrücken, Beschl. v. 12.04.2024 – 1 Ws 42/24 – zur Zulässigkeit der Ausschreibung eines Veruretilten zur Beobachtung im Rahmen der Führungsaufsicht. Dazu reichen hier die Leitsätze, nämlich:

    1. Gegen die Anordnung des Leiters der Führungsaufsichtsstelle, den Verurteilten nach § 463a Abs. 2 StPO zur Beobachtung anlässlich von polizeilichen Kontrollen auszuschreiben, ist ein Antrag auf gerichtliche Bestätigung statthaft.
    2. Über den Antrag hat das für die Durchführung der Führungsaufsicht verantwortliche Gericht zu entscheiden.
    3. Eine Ausschreibung zur Beobachtung anlässlich von polizeilichen Kontrollen nach § 463a StPO ist nur zulässig, wenn sie geeignet und erforderlich ist, um gefährliche Entwicklungen des Verurteilten rechtzeitig zu erkennen und die Einhaltung der Weisungen des Führungsaufsichtsbeschlusses zu überwachen.
    4. Eine Ausschreibung zur Beobachtung anlässlich von polizeilichen Kontrollen nach § 463a Abs. 2 StPO erlaubt keine Beobachtung, Registrierung oder Meldung von Kontakt- oder Begleitpersonen.

StPO II: Überwachung von Besuchen/Schriftverkehr, oder: Verdunkelungsgefahr?

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Die zweite Entscheidung kommt mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 26.03.2024 – 1 Ws 26/24 – aus Baden Württemberg. Das OLG hat Stellung genommen zu Beschränkungen während der Untersuchungshaft, nämlich Überwachung des Schriftverkehrs und von Besuchen nach Verurteilung:

„Der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer, der nach § 126 Abs. 2 S. 2 und 3 StPO während des Revisionsverfahrens für Entscheidungen über Maßnahmen nach § 119 StPO zuständig bleibt (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 126 Rn. 11, 12), hat die Aufhebung der Haftbeschränkungen zu Recht abgelehnt. Diese sind weiterhin erforderlich und verhältnismäßig.

1. Beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO sind zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht, die nicht anders abgewehrt werden kann (BVerfG, NStZ-RR 2015, 79; OLG Stuttgart, BeckRS 2022, 2423). Für diese Beurteilung sind nicht nur Haftgründe zu berücksichtigen, auf die der Haftbefehl gestützt ist. Herangezogen werden können auch in den Haftbefehl nicht aufgenommene Haftgründe (OLG Stuttgart aaO). Insbesondere sind Beschränkungsanordnungen zur Vermeidung der Verdunkelungsgefahr zulässig, auch wenn der Haftbefehl nur den Haftgrund der Fluchtgefahr enthält (KG, StV 2010, 370; OLG Celle, NStZ-RR 2010, 159; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 119 Rn. 5).

Da bei der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb nur unvermeidlichen Einschränkungen seiner Grundrechte unterworfen werden darf, genügt die bloße, rein theoretische Möglichkeit, dass er seine Freiheiten missbrauchen könnte, nicht. Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Prüfung, ob konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der in § 119 Abs. 1 StPO bezeichneten öffentlichen Interessen bestehen (BVerfG aaO; KG, NStZ-RR 2014, 377 und BeckRS 2022, 38740 jew. mwN).

Solche Anhaltspunkte erfordern aber weder schon begangene Vertuschungs- oder Verdunkelungshandlungen (OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2024, 2765; 2023, 34377; BeckOK-StPO/Krauß, Stand: 1.1.2024, § 119 Rn. 12) noch Hinweise auf konkrete Vorhaben des Gefangenen (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 119 Rn. 10). Vielmehr können zur Beurteilung der einem Haftzweck zuwiderlaufenden Gefahr etwa das Vortat-, Tat- und Nachtatverhalten, sonstige Umstände der Tatbegehung, die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten und die Art der ihm zur Last gelegten Tat(en) herangezogen werden (Löwe-Rosenberg/Gärtner, StPO, 27. Aufl., § 119 Rn. 21, 22). Ebenso darf auf allgemeine kriminalistische Erfahrungen abgestellt werden. So ist etwa anerkannt, dass Absprachen unter Tatbeteiligten jedenfalls dann naheliegen, wenn diese nicht geständig sind. Umso mehr gilt dies, wenn Berührungspunkte zu Angehörigen und Freunden bestehen, sodass nicht nur ein gesteigertes Vertrauensverhältnis besteht, sondern diese sich zudem regelmäßig dem Angeklagten besonders emotional verpflichtet fühlen (OLG Frankfurt a.M., BeckRS 2023, 34377).

a) Danach besteht Verdunkelungsgefahr im Sinne des § 119 Abs. 1 S. 1 StPO in Fällen schwererer Kriminalität schon dann, wenn kein Geständnis vorliegt und ein Näheverhältnis entweder zwischen einem Untersuchungsgefangenen und einem bzw. weiteren Tatbeteiligten oder zwischen dem Untersuchungsgefangenen und einer oder mehreren Beweispersonen besteht, etwa weil Familienangehörige, Verwandte, Freunde oder Bekannte in die Tat involviert sind und/oder ihnen innerhalb der Beweisführung eine zentrale oder jedenfalls nicht unbedeutende Rolle zukommen kann. Dies gilt nicht nur bei terroristischen Straftaten, Bandendelikten, Clan-Kriminalität und Formen der organisierten Kriminalität, sondern allgemein für gewichtige Vorwürfe, namentlich von Verbrechenstatbeständen.

In diesen Fallgruppen liegt bei fehlendem Geständnis und einem Näheverhältnis im oben dargelegten Sinne nach allgemeiner Erfahrung die Gefahr einer die Wahrheitsermittlung erschwerenden Beeinflussung auf der Hand, die Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO ohne Weiteres rechtfertigt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um ein Näheverhältnis unter Tatbeteiligten oder zu im Hauptverfahren zu vernehmenden Zeugen, deren Aussagen nach den Ermittlungsergebnissen eine nicht nur unwesentliche Bedeutung zukommt, handelt. Denn in Fällen schwererer Kriminalität besteht eine Gefahr der Erschwerung oder gar Vereitelung der Wahrheitsfindung nicht nur bei unkontrolliertem Informationsaustausch zwischen nicht geständigen Tatbeteiligten untereinander, sondern ebenso, wenn der Untersuchungsgefangene unüberwacht mit Dritten oder über Dritte kommunizieren könnte. Die Praxis zeigt, dass Untersuchungsgefangene immer wieder versuchen, ihnen nahestehende Zeugen – auch unter Einsatz von Drohungen – dahin zu beeinflussen, sich allein im Interesse des Inhaftierten auf die Rechte aus §§ 52, 55 StPO zu berufen, von diesen Rechten in einer bestimmten Weise Gebrauch zu machen oder sich bei Dritten für ein bestimmtes Aussageverhalten einzusetzen.

b) Auch der Zweck der Untersuchungshaft und der sie flankierenden Anordnungen gebietet, die Verdunkelungsgefahr im Sinne des § 119 Abs. 1 S. 1 StPO weit auszulegen und der Vorschrift einen breiten Anwendungsbereich zu verschaffen, zumal der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 119 StPO keine inhaltliche Einschränkung der Überwachungsmöglichkeiten beabsichtigte (vgl. KK-StPO/Gericke aaO § 119 Rn. 23). Neben der Gewährleistung der Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und der Sicherung der Anwesenheit des Angeklagten im Strafverfahren zielen die Haftanordnung und die Beschränkungen darauf ab, eine – im Falle unkontrollierten Informationsaustauschs mit nahestehenden Dritten naheliegende – Störung der Tatsachenermittlungen durch Beweiserschwerung oder -vereitelung zu verhindern (vgl. KG NStZ-RR 2014, 377; MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl., § 119 Rn. 8, 10).Die Möglichkeit, Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO zu treffen, die die Einflussnahme auf mögliche Zeugen verhindern sollen, ist zudem vor dem Hintergrund der Regelung des § 243 Abs. 2 S. 1 StPO zu sehen, die ebenfalls die Unbefangenheit der Zeugen bewahren und schützen will, die unbeeinflusst bzw. ohne Kenntnis der Einlassung des Angeklagten und der Bekundungen anderer Beweispersonen aussagen sollen (KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 243 Rn. 14). Das Gebot bestmöglicher Aufklärung (vgl. MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 243 Rn. 19) ist nur gewahrt, wenn mit der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO und des § 243 Abs. 2 S. 1 StPO dafür Sorge getragen wird, dass Beeinflussungen der Beweispersonen nicht erst im Zuge der Hauptverhandlung, sondern schon während der Untersuchungshaft ausgeschlossen werden. All dies spricht ferner dafür, die Anforderungen an die Begründung für angeordnete Beschränkungsmaßnahmen nicht zu überspannen.c) An alldem vermag ein bereits ergangenes nicht rechtskräftiges Urteil nichts zu ändern. Beruht das angefochtene Urteil nicht auf einem Geständnis, sodass im Falle einer Urteilsaufhebung erneut die verfügbaren Beweismittel herangezogen werden müssen, um die notwendigen Feststellungen treffen zu können, besteht bei unkontrolliertem Informationsaustausch die Verdunkelungsgefahr regelmäßig fort, sodass Beschränkungsanordnungen unverändert erforderlich sind. Denn dass ein nicht geständiger Angeklagter aufgrund von Beweismitteln verurteilt wurde, spricht nicht gegen, sondern gerade für das Vorliegen einer Verdunkelungsgefahr (OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2023, 34377).

Anders verhält es sich nur dann, wenn der Sachverhalt in vollem Umfang und durch gesicherte Beweise in einer Weise aufgeklärt ist, dass der Angeklagte die Wahrheitsermittlung nicht mehr erfolgreich wird behindern können (KG, BeckRS 2022, 38740). So besteht etwa dann, wenn ein Angeklagter in der letzten Tatsacheninstanz den gesamten Tatvorwurf einschließlich des Vor- und Nachtatgeschehens, der Tathintergründe und aller relevanten Begleitumstände umfassend eingeräumt hat, keine begründete Gefahr mehr, dass anlässlich nicht überwachter Kontakte Verdunkelungshandlungen abgesprochen werden mit der Folge, dass angeordnete Beschränkungen nur noch daran zu messen sind, ob sie zur Abwehr einer Fluchtgefahr erforderlich sind (OLG Stuttgart aaO).

Die Erwägung, eine Verdunkelungsgefahr könnte nach einem ergangenen Urteil schon deshalb entfallen, weil Inhalte bisheriger Zeugenaussagen durch Bekundungen der am Verfahren beteiligten Richter und Staatsanwälte eingeführt werden können (offengelassen von KG, BeckRS 2022, 38740), überzeugt nicht und ließe den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr leerlaufen. Verfahrensbeteiligte vorangegangener Instanzen bieten als Zeugen vom Hörensagen schon keinen vollwertigen Ersatz für die Vernehmung unmittelbarer Zeugen. Die Möglichkeit, Aussagen mittelbarer Zeugen, denen häufig nur minderer Beweiswert zukommt, ersatzweise einzuführen, beseitigt für sich genommen die – vom Gefangenen ausgehende – Verdunkelungsgefahr nicht. Überdies müssten mit der Prüfung des § 119 Abs. 1 StPO befasste Strafkammervorsitzende bzw. Beschwerdegerichte entweder die Erfolgsaussichten des Rechtsmittelangriffs gegen das ergangene Urteil prognostizieren oder – den Erfolg des Rechtsmittels unterstellt – den Beweisaufnahmeverlauf einer erneuten Hauptverhandlung antizipieren. Abgesehen davon, dass dies kaum praktikabel und mit dem im Instanzenzug vorgesehenen Zuständigkeitsgefüge schwerlich vereinbar erscheint, ist zu bedenken, dass in größeren Fällen die schriftlichen Urteilsgründe als Prüfungsgrundlage nicht sofort, sondern oft erst nach Monaten vorliegen werden.

d) Der Senat hat bei alledem weder die gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung außer Acht gelassen noch verkannt, dass bis zur Rechtskraft des Urteils für Untersuchungsgefangene die Unschuldsvermutung gilt und die Beschränkungen deren Grundrechte tangieren. Allerdings ist zu beachten, dass der Sicherstellung der Aburteilung von Straftätern als Teil des Rechtsstaatsprinzips ebenfalls Verfassungsrang zukommt (vgl. nur BVerfG NJW 2013, 1058, 1060; KK-StPO/Fischer, 9. Aufl., Einl. Rn. 88) und Beschränkungen in Form von Überwachungen der Außenkontakte nur einen vergleichsweise geringfügigen Eingriff darstellen, da Kontakt und Kommunikation des Untersuchungsgefangenen gerade nicht unterbunden werden.

2. Ausgehend von diesen Maßstäben liegen hier ausreichende Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr vor, die die angeordneten Beschränkungen rechtfertigen. Gegen die nicht geständige Angeklagte wurde wegen eines Kapitalverbrechens eine langjährige Freiheitsstrafe verhängt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Gefahr des unkontrollierten Informationsaustausches mit nahestehenden, als Zeugen in Betracht kommenden Personen besteht unverändert fort. Der Verdunkelungsgefahr kann nicht anderweitig begegnet werden. Die angeordneten Beschränkungen sind im Hinblick auf die betroffenen Interessen und Rechtsgüter weiterhin erforderlich und angesichts des Tatvorwurfs aus dem Bereich der Schwerkriminalität und der Gefahren für die Wahrheitsfindung verhältnismäßig. Darauf, dass bereits konkrete Vertuschungs- bzw. Verdunkelungshandlungen festgestellt wurden – die Angeklagte tauschte sich vor ihrer Inhaftierung mit Dritten über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage betreffende Umstände aus – kommt es demgegenüber nicht mehr an.“

Na ja, kann man m.e. auch anders sehen-