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Sonntagswitz, am 2. Adventssonntag wieder zu Advent und Weihnachten

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Und dann am 2. Adventssonntag gibt es heute wieder Witze zu Advent und Weihnachten, und zwar:

Ein hart arbeitender Politiker, ein ehrlicher Jurist und der Weihnachtsmann
finden einen 50-Euro-Schein.

Wer nimmt ihn an sich?

Der Weihnachtsmann, die anderen beiden existieren nicht.


Drei Blondinen treffen sich nach Weihnachten.

„Mein Freund hat mir ein Buch geschenkt.“, sagt die eine. „Dabei kann ich doch gar nicht lesen!“

„Das ist doch gar nichts! Mein Freund hat mir einen Terminplaner gekauft, dabei kann ich gar nicht schreiben!“

„Bei mir ist es noch viel schlimmer! Mein Freund hat mir einen Deoroller gekauft, dabei habe ich doch gar keinen Führerschein!“


Kommt ein Taubstummer in eine Bank und legt einen Tannenzapfen und
ein Kondom auf den Schalter.

Der Bankangestellte guckt, aber kapiert nicht, was der Mann meint.

Er holt seinen Chef, der sofort sagt: „Er meint, dass er bis Weihnachten sein Konto überziehen möchte.“


Zwei alte Männer unter sich:

„Sex ist schöner als Weihnachten!“

„Ich bevorzuge Weihnachten!“.

„Warum?“

„Es ist öfter!“

Vergütung des Beistands in Abschiebehaftfällen, oder: Bezirksrevisor meint(e): „Es gibt nichts“

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Bisher lag keine Rechtsprechung dazu vor, wie die Tätigkeit des beigeordneten Rechtsanwalts in Abschiebehaftfällen honoriert wird. Jetzt hat sich als – soweit ersichtlich – erstes Gericht das AG Stuttgart im AG Stuttgart, Beschl. v. 10.07.2024 – 527 XIV 271/24 – dazu geäußert..

Das Regierungspräsidium Karlsruhe hatte als zuständige Ausländerbehörde mit Antrag vom 04.03.2024 die Anordnung von Sicherungshaft gem. §§ 62 Abs. 3, 106 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 417 FamFG gegen den Betroffenen zur Sicherung der beabsichtigten Abschiebung beantragt. Gemäß des mit Gesetz zur Verbesserung der Rückführung zum 27.02.2024 in Kraft getretenen § 62d AufenthG wurde dem Betroffenen mit Beschluss vom 04.03.2024 Rechtsanwalt S. als anwaltlicher Vertreter bestellt. Der Betroffene wurde am selben Tage in Anwesenheit des bevollmächtigten Rechtsanwalts persönlich angehört, ehe das AG mit Beschluss vom selben Tage antragsgemäß die Sicherungshaft gegen den Betroffenen anordnete. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Bevollmächtigten wurde durch das LG Stuttgart zurückgewiesen.

Mit Schreiben vom 05.03.2024 beantragte der Bevollmächtigte die Festsetzung einer Verfahrensgebühr nach Nr. 6300 VV RVG, einer Terminsgebühr nach Nr. 6301 VV RVG sowie der Post- und Telekommunikationspauschale nach Nr. 7002 VV RVG nebst Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG in Höhe von insgesamt 556,92 EUR.

Mit Beschluss vom 22.05.2024 setzte die Urkundsbeamtin die Vergütung antragsgemäß fest. Der Bezirksrevisor erhob hiergegen mit Schreiben vom selben Tag Erinnerung und führte zur Begründung aus, es bestünde mangels gesetzlicher Regelung kein Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse. Eine Beiordnung nach § 62d AufenthG führe nicht zwangsläufig zu einem Vergütungsanspruch. Die bestehende Regelungslücke sei auch nicht planwidrig, nachdem der Rechtsausschuss des Bundesrates in seiner Stellungnahme vom 02.02.2024 (BR-Drs. 21/1/24) auf diese hingewiesen habe. Die Urkundsbeamtin half der Erinnerung nicht ab und legte diese mit Verfügung vom 22.05.2024 dem Gericht zur Entscheidung vor. Dort hatte sie keinen Erfolg:

„Die Erinnerung ist jedoch unbegründet. Dem anwaltlichen Vertreter steht ein Vergütungsanspruch nach § 45 Abs. 3 S. 1 RVG zu. Demnach erhält ein sonst gerichtlich bestellter oder beigeordneter Rechtsanwalt Vergütung aus der Landeskasse, wenn ein Gericht des Landes den Rechtsanwalt bestellt oder beigeordnet hat. Dies ist vorliegend der Fall, da der bevollmächtigte Rechtsanwalt durch gerichtlichen Beschluss vom 04.03.2024 beigeordnet wurde.

Soweit der Erinnerungsführer auf die Stellungnahme des Rechtsausschusses des Bundesrates verweist, wonach es an einer gesetzlichen Vergütungsregelung fehle, ist dies im Ergebnis unzutreffend. Zwar fehlt es augenscheinlich an einer spezialgesetzlichen Regelung hinsichtlich der Vergütung von nach § 62d AufenthG bestellten Rechtsanwälten, jedoch bildet § 45 Abs. 3 RVG eine Auffangnorm bezüglich der Vergütung gerichtlich bestellter Rechtsanwälte. Demnach sowie auch im Hinblick auf die Vergütung der nach anderen Vorschriften gerichtlich bestellten Rechtsanwälte, die ebenfalls nach § 45 Abs. 3 RVG erfolgt (z.B. Beiordnungen nach § 78 FamFG, §§ 68b Abs. 2, 141, 364b Abs. 1, 397a, 408b StPO, §§ 40 Abs. 2, 53 Abs. 2 IRG), erscheint der deutschen Rechtsordnung eine gerichtliche Beiordnung eines Rechtsanwalts ohne entsprechenden Vergütungsanspruch grundsätzlich fremd.

Eine Beiordnung ohne Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse wird ausnahmsweise im Falle einer Beiordnung nach § 78b ZPO vertreten (vgl. Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, 26. Aufl. 2023, RVG § 45 Rn. 136; a.A.: HK-RVG/Erik Kießling, 8. Aufl. 2021, RVG § 45 Rn. 45, 46). Diesbezüglich ist jedoch zu sehen, dass der Notanwalt nach § 78b ZPO sein Tätigwerden von der Zahlung eines Vorschusses abhängig machen kann (§ 78c Abs. 2 ZPO) und insofern ausreichend abgesichert ist. An einer entsprechenden Sicherung fehlt es bei der vorliegenden Beiordnung nach § 62d AufenthG hingegen.

Sämtlichen genannten Beiordnungvorschriften, die in der Folge einen Vergütungsanspruch nach § 45 Abs. 3 RVG begründen, ist überdies der Sinn und Zweck gemein, dem Betroffenen eine angemessene Wahrnehmung seiner Rechte zu ermöglichen. Selbige Erwägung lag gleichfalls der Einführung des § 62d AufenthG zu Grunde (vgl. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Bundestages vom 17.01.2024, BT-Drs. 20/10090). Gründe, die dafür sprächen, die Vergütung eines nach § 62d AufenthG beigeordneten Rechtsanwalts anders handzuhaben, sind indes nicht ersichtlich.

Soweit der Rechtsausschuss des Bundesrates in der genannten Stellungnahme ausführt, weder in den §§ 39, 41 RVG noch in § 45 RVG werde ausdrücklich auf § 62d AufenthG Bezug genommen, verkennt er, dass § 45 Abs. 3 RVG in seiner Funktion als Auffangnorm gerade keine ausdrücklichen Verweise enthält. Ferner ist auch anderen gesetzlichen Regelungen zur verpflichtenden Bestellung von Bevollmächtigten regelmäßig keine spezielle Vergütungsregelung zu entnehmen (vgl. erneut § 78 FamFG, §§ 68b Abs. 2, 141, 364b Abs. 1, 397a, 408b StPO, §§ 40 Abs. 2, 53 Abs. 2 IRG), sodass aus deren Fehlen zu schließen wäre, es bestünde zwangsläufig kein Vergütungsanspruch.

Darüber hinaus erscheint dem Gericht die Annahme, ein gerichtlich verpflichtend beizuordnender Rechtsanwalt würde das Mandat ohne gesetzlichen Vergütungsanspruch gegenüber der Staatskasse übernehmen, lebensfremd. Ohne korrespondierenden Vergütungsanspruch dürfte es in der praktischen Umsetzung wohl kaum möglich sein, – insbesondere in der in Abschiebesachen aufgrund erfolgter Festnahme erforderlichen Kurzfristigkeit – übernahmebereite Rechtsanwälte ausfindig zu machen, um die persönliche Anhörung des Betroffenen durchführen zu können. Dies widerspräche letztlich auch der vom Gesetzgeber mit dem Rückführungsverbesserungsgesetz verfolgten Intention, Rückführungsmaßnahmen effektiver zu gestalten. Insoweit liegt die Vermutung nahe, dass dies auch dem Gesetzgeber bewusst gewesen sein muss und dieser vielmehr davon ausging, es bedürfe in Anbetracht der Anwendbarkeit der Auffangnorm des § 45 Abs. 3 RVG keiner spezialgesetzlichen Regelung. Hierfür spricht auch der Beschluss des Bundesrates vom 02.02.2024 (BR-Drs. 21/24). Obgleich der Bundesrat sich darin nicht mehr ausdrücklich mit der Frage der Vergütung eines nach § 62d AufenthG zu bestellenden Rechtsanwalts befasste, entschied er letztendlich, von der Anrufung eines Vermittlungsausschusses nach Art. 77 Abs. 2 GG abzusehen und schloss sich insoweit den Bedenken seines Rechtsausschusses offenbar nicht an.

Der Anspruch auf Erstattung der Auslagen folgt aus § 46 Abs. 1 RVG.

IV.

Die festgesetzte Vergütung ist auch der Höhe nach nicht zu beanstanden. Die Vergütung des Rechtsanwalts für die Tätigkeit im gerichtlichen Verfahren bei Freiheitsentziehungen richtet sich nach den in Teil 6 Abschnitt 3 des Vergütungsverzeichnisses der Anlage 1 zum RVG enthaltenen Sonderregelungen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.03.2023 – XIII ZB 76/20).

Bei der vorliegenden Anordnung von Sicherungshaft handelt es sich um eine aufgrund von Bundesrecht nach §§ 62 Abs. 3, 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG angeordnete Freiheitsentziehung im Sinne von § 415 FamFG. Insofern kann der beigeordnete Rechtsanwalt eine Verfahrensgebühr nach Nr. 6300 VV RVG verlangen. Die Teilnahme an der persönlichen Anhörung löst eine Terminsgebühr nach Nr. 6301 VV RVG aus. Im Übrigen sind Nrn. 7002 und 7008 VV RVG hinsichtlich Auslagen und Umsatzsteuer einschlägig.“

Die Entscheidung ist richtig. Ich verweise dazu auf meinen Beitrag Abrechnung der Beiordnung in sog. Abschiebehaftfällen aus AGS 2024, 389.

Durchsuchung I: Anfangsverdacht für Besitz von KiPo?, oder: Chat bei markt.de reicht nicht

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In die 32. KW starte ich heute mit zwei beschlüssen zur Anordnung der Durchsuchung, und zwar beide in sog. „Kipo-Verfahren.

Zunächst stelle ich den schon etwas älteren LG Bremen, Beschl. v. 13.01.2023 – 6 Qs 355/22. Es geht um die Annahme zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte, aus denen auf das Vorliegen einer Straftat gemäß § 184c Abs. 3 StGB geschlossen werden kann.

Ausgangspunkt ist die Sichtung eines Chatverlaufs durch die Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta auf der Onlineplattform „markt.de“, der mutmaßlich zwischen dem Beschuldigten und einem gesondert Verfolgten am 30.08.2021 stattgefunden haben soll. Der gesondert Verfolgte soll sich im Laufe des Chatverlaufs als 15-jähriger ausgegeben haben. Im Rahmen dieses Chatkontaktes tauschten sich die beiden über sexuelle Praktiken, Fantasien und körperliche Merkmale aus. Die Staatsanwaltschaft Bremen beantragte dann mit Verfügung vom 12.07.2022 den Erlass einer richterlichen Durchsuchungsanordnung für die Wohnung des Beschuldigten, welche am 15.07.2022 durch den Ermittlungsrichter des AG Bremen erlassen wurde. Die Durchsuchung der Wohnräume des Beschuldigten fand sodann am 15.08.2022 in der Zeit von 16:00 – 17:45 Uhr statt. Hierbei wurden diverse Medien- und Datenträger sichergestellt. Der Beschuldigte hat nach entsprechender Belehrung gegenüber den Polizeibeamten angegeben, sich an diesen konkreten Chatverlauf zu erinnern. Jedoch meine er, dass der Gesprächspartner angegeben habe, 16 Jahre alt zu sein.

Der Verteidiger des Beschuldigten hat der Sicherstellung der bei der Durchsuchung sichergestellten Gegenstände widersprochen und Beschwerde gegen die Durchsuchungsanordnung erhoben. Daraufhin hat das Amtsgericht einen Bestätigungsbeschluss erlassen und der Beschwerde gegen die Durchsuchung nicht abgeholfen. Das Rechtsmittel hatte beim LG Erfolg:

„Die Anordnung der Durchsuchung war rechtswidrig, denn die Voraussetzungen einer Anordnung nach §§ 102, 105 StPO lagen nicht vor. Zwar bedarf es zu ihrer Anordnung keines hinreichenden oder gar eines dringenden Tatverdachts, ein einfacher Anfangsverdacht einer Straftat reicht aus. Einen solchen vermag die Kammer jedoch dem Akteninhalt nicht zu entnehmen. Vom Vorliegen eines Anfangsverdachts ist auszugehen, wenn konkrete Tatsachen vorliegen, die dafürsprechen, dass gerade der zu untersuchende Lebenssachverhalt eine Straftat enthält (BGH NStZ 1994, 499). Bloße, nicht durch konkrete Umstände belegte Vermutungen oder reine denktheoretische Möglichkeiten reichen nicht aus, wobei den Ermittlungsbehörden bei der Beurteilung der Frage, ob zureichende Anhaltspunkte vorliegen ein gerichtlich überprüfbarer Be-urteilungsspielraum zusteht (vgl. BeckOK StPO/Beukelmann, 45. Ed. 1.10.2022, StPO § 152 Rn. 4 und 5 sowie KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, StPO § 152 Rn. 8).

Gemessen daran lag hier ein Anfangsverdacht nicht vor.

Die Anordnung der Durchsuchung erfolgte unter dem Verdacht des Besitzes jugendpornographischer Schriften. Dieser soll im Kern darauf beruhen, dass nach kriminalistischer Erfahrung zu erwarten sei, dass bei Menschen mit einem auf Jungen unter achtzehn Jahren gerichteten Sexualtrieb und ausgefallener Sexualpraktiken ein Hang zum Sammeln und Aufbewahren einmal erworbenen Materials vorliege, um das Material stets zur Verfügung zu haben. Als weiteren Anhaltspunkt zieht das Amtsgericht heran, dass in Anbetracht des dem Beschuldigten gegenüber mitgeteilten Alters von 15 Jahren und des sonstigen Gesprächsinhalts sich beim Beschuldigten hätten Zweifel hinsichtlich der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung seines Gesprächspartners aufdrängen müssen. Zusätzlich sei zu berücksichtigen gewesen, dass der Markt für die vom Beschuldigten präferierten Sexualpraktiken vergleichsweise gering sei, weshalb eine, wenn auch nicht sehr starke, Wahrscheinlichkeit dafür streite, dass der Beschuldigte versuche, diese sexuellen Vorlieben mit Bildern und Videos auszuleben.

Aus diesen und den weiteren im angefochtenen und im Beschluss vom 20.12.2022 festgehaltenen Erwägungen lässt sich kein Anfangsverdacht begründen. Es liegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte vor, aus denen auf das Vorliegen einer Straftat gemäß § 184c Abs. 3 StGB zu schließen wäre. Der Umstand, dass der Beschuldigte mit dem gesondert Verfolgten den aus der Beweismittelakte ersichtlichen Chat geführt hat, reicht hierfür nicht aus. Das Amtsgericht geht zunächst zutreffend davon aus, dass das Verhalten des Beschuldigten nicht strafbar ist. Die Einschätzung, es ergäben sich aus dem Chatverlauf Anhaltspunkte dafür, dass der gesondert Verfolgte noch nicht über die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung verfüge und somit Anhaltspunkte für ein potenziell strafwürdiges Verhalten bestünden, teilt die Kammer jedoch nicht. Sofern sich aus dem Chatverlauf über die sexuelle Selbstbestimmungsfähigkeit des gesondert Verfolgten überhaupt etwas ableiten ließe, dann nach Auffassung der Kammer allenfalls das Gegenteil, da aus den Nachrichten des gesondert Verfolgten hervorgeht, dass ein sexuelles Grundverständnis (Sexualpraktiken, körperliche Eigenschaften) besteht. Nach dem Chatverlauf, in dem die Initiative gleichmäßig verteilt zu sein scheint und nicht etwa ein Drängen des Beschuldigten zu erkennen ist, musste sich dem Beschuldigten jedenfalls die Annahme einer fehlenden Fähigkeit seines Chatpartners zur sexuellen Selbstbestimmung nicht aufdrängen. Bereits die Initiative des damals dreizehn Jahre alten gesondert Verfolgten, sich auf der Plattform anzumelden und gezielt vermeintlich pädophile Nutzer „in die Falle zu locken“ spricht zudem gegen die Annahme, der gesondert Verfolgte sei zur Selbstbestimmung nicht in der Lage gewesen.

Die Durchsuchungsanordnung stützt den Anfangsverdacht ferner auf die mutmaßliche auf den sexuellen Kontakt zu Jugendlichen gerichtete sexuelle Neigung des Beschuldigten. Hierbei handelt es sich jedoch um eine bloße Vermutung, da sie nach Aktenlage keine feststellbare Stütze findet.

Aus dem Chatverlauf und den sonstigen Akteninhalten ergibt sich nicht, dass der Beschuldigte zielgerichtet auf der Suche nach unter 18-jährigen Chat- bzw. Sexualpartnern war. Die genutzte Plattform ist zudem eine im Internet frei zugängliche. Der Beschuldigte hat gerade nicht im sogenannten Darknet mit einschlägigen Begriffen nach Kindern oder Jugendlichen gesucht oder eine erkennbar für Kinder und Jugendliche gedachte Seite aufgerufen, sondern sich auf einer Plattform angemeldet, die — soweit aus der Akte erkennbar — regelmäßig von erwachsenen Nutzern frequentiert wird. Der Beschuldigte hat ausweislich des Chatverlaufs nicht auch nach dem Alter des Gesprächspartners gefragt, vielmehr ist ihm diese Information gemeinsam mit Angaben zu körperlichen Eigenschaften durch den gesondert Verfolgten aus eigener Initiative mitgeteilt worden. Die Antwort des Beschuldigten lässt auch nicht erkennen, dass ihm das Alter des potenziellen Partners besonders wichtig war. Insoweit lässt sich auch kein auf kriminalistische Erfahrungswerte gestützter Rückschluss ziehen, da dieser an eine bloß vermutete Tatsache knüpft. In diesem Zusammenhang muss auch die Einlassung des Beschuldigten im Rahmen der Durchsuchung berücksichtigt werden, wonach er sich bislang nur mit über 18-jährigen Personen getroffen habe.

Weitere Anhaltspunkte, etwa strafrechtliche Voreintragungen des Beschuldigten im Zusammenhang mit Sexualdelikten, die diese Vermutung stützten würden, liegen nicht vor.

Nach alldem lag kein Anfangsverdacht wegen Besitzes jugendpornographischer Schriften gegen den Beschuldigten vor und die Anordnung der Durchsuchung seiner Wohnung sowie die Bestätigung der Sicherstellung erfolgten zu Unrecht.“

KCanG II: Strafe unter Berücksichtigung des KCanG, oder: Berücksichtigung von jetzt straflosen Taten

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Als zweite Entscheidung dann der BayObLG, Beschl. v. 27.06.2024 – 4 StRR 205/24 – zur Verwertbarkeit von im BZR eingetragenen Verurteilungen bei der Strafzumessung, die ab 01.04.2024 nach § 3 Abs. 1, § 34 Abs. 1 Nr. 1 und 12 KCanG straflose und auch nicht nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 KCanG bußgeldbewehrte Handlungen betreffen und die weder getilgt noch tilgungsfähig sind.

„2. Auch die vom Berufungsgericht vorgenommene Strafzumessung ist – wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat – frei von Rechtsfehlern.

Dies betrifft auch den Umstand, dass das Berufungsgericht seine Strafzumessung maßgeblich auf die beiden zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen gestützt hat, die den unerlaubten Besitz von Marihuana betreffen, und hinsichtlich der letzten dieser einschlägigen Verurteilungen die Rückfallgeschwindigkeit strafschärfend herausgestellt hat.

a) In beiden Fällen wurden lediglich solche Mengen von Marihuana besessen, die ab 1. April 2024 weder den Straftatbeständen des § 34 Abs. 1 Nr. 1 und 12 KCanG noch dem Bußgeldtatbestand des § 36 Abs. 1 Nr. 1 KCanG unterfallen. Dies führt zwar dazu, dass diese Strafen gemäß Art. 316p EGStGB i.V.m. Art. 313 Abs. 1 EGStGB mit Inkrafttreten des Konsumcannabisgesetzes am 1. April 2024 erlassen wurden, da gemäß § 3 Abs. 1 KCanG für Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, der Besitz von – wie hier – bis zu 25 Gramm Cannabis zum Eigenkonsum erlaubt ist, und die Strafen noch nicht vollstreckt waren. Die Verwertbarkeit der genannten Vorstrafen ist dadurch aber nicht entfallen, so dass sich aus § 354a StPO i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB kein Hindernis für die Berücksichtigung der genannten Vorahndungen ergibt.

aa) Allerdings handelt es sich bei der Frage der Verwertbarkeit von Vorstrafen um eine Frage des sachlichen Rechts, so dass § 2 Abs. 3 StGB gilt und bei einer Gesetzesänderung zwischen Tat und Verurteilung das mildeste Gesetz Vorrang hat. Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bayerischen Obersten Landesgerichts zu einer dem vorliegenden Verfahren vergleichbaren Fallkonstellation, als mit § 49 BZRG i.d.F. vom 18. März 1971 (BGBl. I, S. 243) am 1. Januar 1972 ein allgemeines Verwertungsverbot für im Strafregister eingetragene und inzwischen getilgte oder tilgungsreif gewordene Vorstrafen in Kraft getreten ist. Danach handelt es sich bei dieser nunmehr in § 51 Abs. 1 BZRG enthaltenen Regelung, soweit bei getilgter oder tilgungsreifer Verurteilung die Tat und die Verurteilung in einem neuen Strafverfahren nicht mehr strafschärfend verwertet werden dürfen, um eine solche des sachlichen Rechts, die als milderes Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 2 StGB a.F. (jetzt § 2 Abs. 3 StGB) auch im Revisionsverfahren zu berücksichtigen ist, § 354a StPO (so BGH, Urteil vom 19. Juli 1972 – 3 StR 66/72 –, BGHSt 24, 378, juris Rn. 9; BayObLG, Beschluss vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 -, BayObLGSt 3, 75, 77). Der Grundsatz, dass eine für den Angeklagten günstige Gesetzesänderung vom Revisionsgericht auch dann berücksichtigt werden muss, wenn sie erst nach Erlass des tatrichterlichen Urteils eingetreten ist (vgl. BGH, Urteile vom 27. Oktober 1964 – 1 StR 358/64 –, BGHSt 20, 77, juris Rn. 3; vom 19. Juli 1972 – 3 StR 66/72 -, BGHSt 24, 378, juris Rn. 9; BayObLG, Beschlüsse vom 20. Januar 1972 – RReg 2. St 171/71 –, BayObLGSt 1972, 3, 4; vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 -, BayObLGSt 3, 75, 77 f.; Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, § 2 Rn. 6 aE), muss seinem dem Grundgedanken des § 2 Abs. 3 StGB entsprechenden Sinn und Zweck, dem Angeklagten Milderungen des Gesetzes so weit wie möglich zukommen zu lassen, auch dann gelten, wenn es sich nicht um eine Änderung des Strafgesetzes im engeren Sinne handelt, sondern wenn die Änderung eines anderen Gesetzes ein Strafverfahren zugunsten des Angeklagten beeinflusst (so – jeweils zu § 2 Abs. 2 Satz 2 StGB a.F. – BayObLG, Beschlüsse vom 20. Januar 1972 – RReg 2. St 171/71 –, BayObLGSt 1972, 3, 4; vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 -, BayObLGSt 3, 75, 78). Dies wird für den Fall des Inkrafttretens des § 49 BZRG a.F. angenommen. Dieses Verwertungsverbot muss somit vom Revisionsgericht beachtet und auf solche Fälle angewendet werden, die beim Inkrafttreten des Gesetzes noch nicht rechtskräftig abgeschlossen waren (vgl. BayObLG, Beschluss vom 28. April 1972 – RReg 6 St 523/72 OWi –, BayObLGSt 1972, 112, juris Rn. 9), also das tatrichterliche Urteil vor dem Inkrafttreten des Bundeszentralregistergesetzes ergangen ist (BayObLG, Beschlüsse vom 20. Januar 1972 – RReg 2. St 171/71 –, BayObLGSt 1972, 3, 4; vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 -, BayObLGSt 3, 75, 77 f.). Ein solcher Fall lag auch der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 19. Juli 1972 – 3 StR 66/72 –, BGHSt 24, 378) zugrunde.

In Übereinstimmung hiermit geht auch das Oberlandesgericht München davon aus, dass es sich bei der Frage der Verwertbarkeit von Vorstrafen nicht um Verfahrensrecht, sondern um eine Regelung des materiellen Rechts handelt, so dass bei einer Gesetzesänderung zwischen Tat und Verurteilung das mildere Gesetz Vorrang hat (Beschluss vom 14. Dezember 2009 – 4St RR 183/09 –, NStZ-RR 2010, 105, juris Rn. 7; so auch BeckOK StGB/von Heintschel-Heinegg/Kudlich, 61. Ed. 1.5.2024, StGB § 2 Rn. 5).

bb) Ein solches auf die Sachrüge zu berücksichtigendes Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG (vgl. BGH, Beschluss vom 27. September 2022 – 2 StR 61/22 –, NStZ-RR 2023, 87, juris Rn. 5 m.w.N.; so bereits BayObLG, Beschluss vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 -, BayObLGSt 3, 75, 77) besteht aber gegenwärtig nicht. Denn die einschlägigen Vorahndungen sind noch nicht tilgungsfähig. Die entsprechenden Eintragungen im Bundeszentralregister werden erst nach den am 1. Januar 2025 in Kraft tretenden Vorschriften der §§ 40 bis 42 KCanG (vgl. Art. 15 Abs. 2 CanG) tilgungsfähig (§ 40 Abs. 1 KCanG) und dann nach Feststellung der Tilgungsfähigkeit durch die Staatsanwaltschaft auf Antrag des Angeklagten (§ 41 i.V.m. § 42 Abs. 1 KCanG) und Mitteilung an das Bundeszentralregister zu tilgen sein (§ 42 Abs. 2 KCanG i.V.m. § 48 Satz 3 BZRG), mit der Folge, dass erst ab diesem Zeitpunkt das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG eingreift.

cc) Offenbleiben kann damit, ob die in der Literatur vertretene Auffassung, dass eine nach dem tatrichterlichen Urteil eintretende Tilgungsreife für das Revisionsgericht ohne Bedeutung ist (vgl. Fischer, StGB, a.a.O., § 2 Rn. 6 unter Hinweis auf BGH mit unzutreffender Fundstelle), auf die vorliegende Fallgestaltung anwendbar ist. Dem liegt offenbar die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zugrunde, dass ein Verwertungsverbot dann besteht, wenn die Tilgungsfrist zwar zum Zeitpunkt der neuen Tat noch nicht verstrichen, aber vor Ende der Hauptverhandlung in der Tatsacheninstanz bereits abgelaufen ist (vgl. nur BGH, Beschluss vom 22. Dezember 2015 – 2 StR 207/15 –, NStZ-RR 2016, 120, juris Rn. 5 m.w.N.; noch offen gelassen vom BayObLG, Beschluss vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 -, BayObLGSt 3, 75, 78). Die Frage des durch Gesetzesänderung eintretenden, vom Revisionsgericht zu beachtenden Verwertungsverbots ist aber unabhängig vom zeitlichen Ablauf der Tilgungsfrist (in diesem Sinne auch BayObLG, Beschluss vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 -, BayObLGSt 3, 75, 78).

dd) Der strafschärfenden Berücksichtigung der beiden Vorverurteilungen steht auch sonst nichts entgegen.

Mit Ausnahme der Frage einer Tilgungsreife und der danach nicht mehr möglichen Verwertbarkeit von Vorstrafen ist der Umstand einer Vorverurteilung als solcher eine Strafzumessungserwägung, die § 2 Abs. 3 StGB auch dann nicht unterfällt, wenn diese Verurteilung auf einem Gesetz beruht, das mittlerweile abgemildert wurde oder nicht mehr gilt. Denn der nunmehr erkennende Richter wendet nicht dieses Gesetz an, sondern berücksichtigt nur den Umstand der Vorverurteilung als solchen.

Für die Frage nach dem mildesten Gesetz im Sinn von § 2 Abs. 3 StGB kommt es auf den gesamten Rechtszustand an, von dem die Strafe abhängt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. August 1994 – 2 BvR 1884/93 –, NJW 1995, 316, juris Rn. 9; BGH, Urteil vom 8. Januar 1965 – 2 StR 49/64 –, BGHSt 20, 177, juris Rn. 11), also auf das gesamte sachliche Recht, das über das „Ob“ und das „Wie“ der Strafbarkeit entscheidet (Schönke/Schröder/Hecker, 30. Aufl. 2019, StGB § 2 Rn. 18; NK-StGB/Kargl, 6. Aufl. 2023, StGB § 2 Rn. 23b; vgl. hierzu etwa BGH, Urteil vom 24. Juli 2014 – 3 StR 314/13 –, BGHSt 59, 271, juris Rn. 9). Hierzu zählt § 46 Abs. 2 StGB, wonach das Vorleben des Täters zu berücksichtigen ist, wozu grundsätzlich auch abgeurteilte Vorstrafen gehören (vgl. nur Fischer, StGB, a.a.O., § 46 Rn. 38), soweit die Zulässigkeit der Berücksichtigung nicht durch Gesetze eingeschränkt wird, zu denen etwa – wie aufgezeigt – die Tilgungsvorschriften zählen (vgl. hierzu Fischer, StGB, a.a.O., § 46 Rn. 39).

Der Angeklagte stand zur Tatzeit unter zweifach offener Bewährung, so dass zum Tatzeitpunkt diesen Vorahndungen eine Warnfunktion (vgl. hierzu Fischer, StGB, a.a.O., § 46 Rn. 38c) zukam.

Diese ist nicht dadurch in Wegfall geraten, dass der Besitz entsprechender Mengen Marihuana ab 1. April 2024 – also nach dem Tatzeitpunkt – nicht mehr strafbar war.

Die Zulässigkeit der Berücksichtigung der einschlägigen Vorahndungen steht insoweit im Einklang mit dem Regelungskonzept des Cannabisgesetzes in Bezug auf rechtskräftige Vorahndungen. Diese werden durch das Gesetz nicht aufgehoben. Gemäß Art. 316p EGStGB ist im Hinblick auf vor dem 1. April 2024 verhängte Strafen nach dem Betäubungsmittelgesetz, die nach dem Konsumcannabisgesetz oder dem Medizinal-Cannabisgesetz nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind, Art. 313 EGStGB entsprechend anzuwenden. Danach werden rechtskräftig verhängte Strafen wegen solcher Taten, die nach neuem Recht nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind, mit Inkrafttreten des neuen Rechts erlassen, soweit sie noch nicht vollstreckt sind (Art. 313 Abs. 1 EGStGB). Diese Rechtswirkungen treten unmittelbar kraft Gesetzes ein, ohne dass es einer Entscheidung der Vollstreckungsbehörde bedarf (OLG Stuttgart, Beschluss vom 28. Mai 2024 – 1 ORs 24 SRs 167/24 –, juris Rn. 7).

Der Straferlass bei noch nicht vollstreckten Strafen ändert aber nichts daran, dass der Schuldspruch hiervon unberührt bleibt und somit auch aus jetziger Sicht eine Warnfunktion für den Verurteilten ausgeübt hat.“

OWi III: Verwerfungsurteil und Verfahrensverzögerung, oder: Begründung der (Verfahrens)Rüge

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Und dann als dritte Entscheidung der BayObLG, Beschl. v. 24.04.2024 – 201 ObOWI 339/24 – zur Begründung der Verfahrensrüge zur Beanstandung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung bei Verwerfungsurteil-

Das AG hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid wegen Geschwindigkeitsverbot mit einem Fahrverbot von einem Monat mit Urteil vom 24.03.2021 gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Das Urteil wurde dem Verteidiger am 26.03.2021 zugestellt. Das Hauptverhandlungsprotokoll wurde am 29.03.2021 fertiggestellt. Gegen das Urteil hat der Betroffene am 29.03.2021 Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der er die Verletzung „formellen und materiellen Rechts“ rügte. Er hat mit Verteidigerschriftsatz vom 13.10.2023 beantragt, eingegangen bei Gericht am 21.11.2023, das Verfahren wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung einzustellen. Am 27.11.2023 wurde dem Verteidiger das Urteil nochmals zugestellt. Eine ergänzende Rechtsbeschwerdebegründung ist nicht erfolgt. Die Rechtsbeschwerde wurde vom BayObLG als unbegründet verworfen:

„b) Das vom Betroffenen geltend gemachte Verfahrenshindernis der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bedurfte vorliegend auch nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils der Erhebung einer formalen Rüge. Eine solche wurde jedoch nicht in zulässiger Weise ausgeführt (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

aa) Will der Beschwerdeführer die Verletzung des Beschleunigungsgebotes geltend machen, erfordert dies grundsätzlich die Erhebung einer Verfahrensrüge (st.Rspr., vgl. u. a. BGH, Beschl. v. 20.06.2007 – 2 StR 493/06 bei juris Rn. 9; zuletzt BGH, Beschl. v. 15.03.2022 – 4 StR 202/21 bei juris Rn. 16, jew. m.w.N.). Ein Ausnahmefall, für den die höchstrichterliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren angenommen hat, das Rechtsmittelgericht habe wegen eines Erörterungsmangels auf die Sachrüge hin einzugreifen, liegt hier schon deshalb nicht vor, weil die Verzögerung erst nach Urteilserlass eingetreten ist und sich nicht aus den Urteilsgründen ergibt.

Allerdings kann für Verzögerungen nach Urteilserlass die bloße Erhebung der Sachrüge ausreichend sein, wenn der Betroffene die Gesetzesverletzung deshalb nicht form- und fristgerecht rügen konnte, weil die Verzögerung erst nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist eingetreten ist und deshalb vom Beschwerdeführer nicht (mehr) mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden konnte (BGH NStZ 2001, 52; BGH, Beschl. v. 20.06.2007 a.a.O. Rn. 10). Ein solcher Fall liegt jedoch nicht vor, da die Frist zu Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde erst mit Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe begann (§ 345 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 OWiG). Die am 26.03.2021 erfolgte Zustellung des Urteils konnte die Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde nicht in Lauf setzen, weil nach § 273 Abs. 4 StPO das Urteil nicht zugestellt werden durfte, bevor das Protokoll fertiggestellt war. Der Verstoß hiergegen machte die Zustellung wirkungslos und setzte deshalb die genannten Fristen nicht in Lauf (st.Rspr., vgl. zuletzt zur Revisionsbegründungsfrist BGH, Beschl. v. 24.11.2020 – 5 StR 439/20 bei juris = NStZ-RR 2021, 57 = StraFo 2021, 164 = BeckRS 2020, 36921 m.w.N.). Der Betroffene war von daher nicht gehindert, zu den Verfahrenstatsachen vorzutragen, aus denen er das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung herleiten will, zumal er vor der zweiten Zustellung Akteneinsicht hatte.

bb) Die Erhebung einer Verfahrensrüge war auch nicht deshalb entbehrlich, weil bei Vorliegen einer zulässigen Rechtsbeschwerde grundsätzlich (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 66. Aufl. Einl. Rn. 150 m.w.N.) das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses von Amts wegen zu prüfen ist (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. und Art. 6 EMRK Rn. 9g; Meyer-Goßner NStZ 2003, 173; a.A. Wohlers JR 2005, 189; offengelassen: BGH, Beschl. v. 10.09.2003 – 5 StR 330/03 bei juris). Dies gilt jedenfalls in den Fällen, in denen der Tatrichter lediglich den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verwirft.

(1) Aus rechtsstaatlichen Gründen kann die Verfahrenseinstellung wegen überlanger Verfahrensdauer dann unabweisbar sein, wenn sie auf einer außergewöhnlichen, vom Betroffenen nicht zu vertretenden und auf Versäumnisse der Justiz zurückzuführenden Verfahrensverzögerung beruht, die den Betroffenen im Lichte der Gesamtdauer des Verfahrens unter Abwägung der Gesamtumstände des Einzelfalls, namentlich des Tatvorwurfs, des Umfangs und der Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes, des festgestellten oder voraussichtlich feststellbaren Schuldumfangs sowie möglicher Belastungen durch das Verfahren, in unverhältnismäßiger Weise belastet und der Verzögerung im Rahmen der Sachentscheidung nicht mehr hinreichend Rechnung getragen werden kann (vgl. BGHSt 35, 137 ff.; BGHSt 46, 159 ff.).

(2) Die Frage, ob und in welchem Umfang eine Kompensation bei Vorliegen einer Verfahrensverzögerung erforderlich ist, ist somit das Ergebnis einer Abwägung der Gesamtumstände des Einzelfalls. Ob eine Verfahrensverzögerung unerheblich ist, ob die bloße Feststellung der Verfahrensverzögerung dem Betroffenen ausreichende Kompensation verschafft (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 02.10.2018 – 6 Kart 6/17 [OWi] bei juris Rn. 1269; OLG Stuttgart, Beschl. v.04.06.2018 – 3 Rb 26 Ss 786/17 bei juris), ob ein „Normalfall“ überlanger Verfahrensdauer vorliegt, der durch die Anrechnung eines Teils der verhängten Geldbuße oder des Fahrverbots kompensiert werden kann (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 11.02.2021 – 4 RBs 13/21 bei juris; beim Verwerfungsurteil verneinend: OLG Rostock, Beschl. v. 27.01.2016 – 21 Ss OWi 2/16 [B] bei juris Rn. 11) oder ob sich der Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot als derartig schwer und außergewöhnlich darstellt, dass ihm nur durch die Einstellung des gesamten Verfahrens Rechnung getragen werden kann, kann nicht ohne Kenntnis der verhängten Sanktion und der damit verbundenen Belastungen für den Betroffenen beantwortet werden, wobei sich letztere oftmals der genauen Kenntnis der Justiz entziehen.

In einem Fall, in dem der Tatrichter lediglich den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verwirft, kommt hinzu, dass sich, anders als bei einem Urteil in der Sache, Tatunrecht und Verfahrensverzögerungen bis zum Erlass des Urteils schon nach der Natur der Entscheidung nicht aus den Urteilsgründen selbst ergeben, während der Betroffene hierzu unschwer Ausführungen machen kann. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von Amts wegen bei zulässiger Rechtsbeschwerde zu berücksichtigen, widerspräche somit der differenzierten geltenden rechtlichen Systematik, wonach der Betroffene gehalten ist, alle diesbezüglichen Umstände vorzutragen, es sei denn sie würden sich aus der Entscheidung selbst ergeben, die Entscheidung wäre lückenhaft oder die Umstände würden sich, weil sie erst nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist entstanden sind, der formgerechten Begründung entziehen.

cc) Die Rechtsbeschwerdeausführungen genügen nicht, um das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung aufzuzeigen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 OWiG).

(1) Die Rechtsbeschwerde teilt zwar mit, dass mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 27.04.2021 der Antrag des Betroffenen nach § 74 Abs. 4 OWiG auf Wiedereinsetzung in die versäumte Hauptverhandlung zurückgewiesen wurde. Sie verhält sich in diesem Zusammenhang aber nicht zu der Frage, wann dem Betroffenen der Beschluss zugestellt wurde, ob er dagegen Rechtsmittel eingelegt hatte und wann gegebenenfalls seitens des Rechtsmittelgerichts hierüber entschieden wurde. Ausführungen hierzu erweisen sich jedoch als notwendig, weil bis zur Rechtskraft des die Wiedereinsetzung versagenden Beschlusses das Rechtsbeschwerdeverfahren von Gesetzes wegen ruhte (§ 342 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG). Der Senat kann daher nicht prüfen, ob und in welchem Umfang die Notwendigkeit der Bearbeitung eines Rechtsmittels des Betroffenen mit dazu beigetragen hat, dass die Akten nicht dem Rechtsbeschwerdegericht vorgelegt wurden.

(2) Es fehlen auch sonst jegliche Darlegungen für den betreffenden Zeitraum vom 27.04.2021 bis 26.09.2023. Die Frage, ob und in welchem Umfang eine Verfahrensverzögerung eine Kompensation erforderlich macht und welcher Art diese gegebenenfalls sein muss, setzt, wie ausgeführt, eine wertende Betrachtung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls voraus. Maßstab ist der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Verfolgungsorgane und die daraus folgenden individuellen Belastungen für den Betroffenen (BGH, Urt. v. 13.03.2011 – 5 StR 411/11 bei juris Rn. 8; BGH, Urt. v. 23.10.2013 – 2 StR 392/13 bei juris Rn. 9). Der Senat kann jedoch, da Einzelheiten für den Grund der Verzögerung nicht genannt werden, nicht prüfen, ob und in welchem Umfang der Betroffene in ihm zurechenbarer Weise selbst zu der Verfahrensverzögerung beigetragen hat.

(3) Der vorliegende Fall weist zudem die Besonderheit auf, dass dem Kraftfahrtbundesamt nach dem Vorbringen des Betroffenen (fälschlicherweise) die Rechtskraft der Entscheidung vom 24.03.2021 mitgeteilt worden war. Nachdem es nicht der Lebenserfahrung entspricht, dass eine von der Vollstreckungsbehörde für rechtskräftig gehaltene Entscheidung nicht auch vollstreckt wird, liegt der Schluss nahe, dass der Betroffene seine Fahrerlaubnis in amtliche Verwahrung gegeben und die Geldbuße bezahlt hat, obwohl er damit rechnen musste, dass die zugrunde liegende Entscheidung noch gar nicht rechtskräftig war, nachdem er gegen sie Rechtsbeschwerde eingelegt hatte und eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nicht ergangen war. Im Rahmen der Gesamtbetrachtung zu Notwendigkeit und Art der Kompensation, bei der auch die Folgen der Verfahrensverzögerung speziell für den Betroffenen und sein Umgang mit dieser von Bedeutung sind, hätte dieser Umstand nicht unberücksichtigt bleiben dürfen und es hätte hierzu von der Rechtsbeschwerde vorgetragen werden müssen.

dd) Ob im vorliegenden Fall dem Grunde nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung der nicht ordnungsgemäß ausgeführten Verfahrensrüge hätte in Betracht kommen können, braucht nicht entschieden zu werden. Eine solche ist auch nach Mitteilung der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft München vom 20.03.2024, aus der hervorging, dass die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde erst mit der am 27.11.2023 bewirkten Zustellung zu laufen begonnen hatte, und zur Geltendmachung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung die Erhebung einer Verfahrensrüge erforderlich war, nicht nachgeholt worden.“