Archiv für den Monat: Februar 2024

Alkohol III: Nachtrunkbehauptung im Verkehrsrecht, oder: Wenn Eheleute sich streiten

Bild von Igor Lukin auf Pixabay

Und dann noch aus dem Verkehrecht der LG Itzehoe, Beschl. v. 19.02.2024 – 14 Qs 9/24. Ergangen ist er in einem Verfahren wegen Verdachts der Trunkenheit im Verkehr im Verfahren wegen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis.

Zugrunde liegt eine in der Praxis ja nicht seltene Konstellation. Eheleute trinken gemeinsam Alkohol, man streitet sich, die Ehefrau nimmt die Kinder und fährt zu einer Freundin. Der Ehemann ruft die Polizei an und teilt mir, dass seine Ehefrau alkoholisiert unterwegs ist/war. Die Polizei trifft die Ehefrau bei der Freundin an und es wird eine Blutentnahme angeordnet. Das Ergebnis  der Blutprobe würde dann „reichen“. Aber es kommt die Einlassung: Bei der Freundin ist es zu einem Nachtrunk gekommen. Und die hatte hier zumindest vorläufig Erfolg. Denn das LG hat die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) aufgehoben:

„Vorliegend kann nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen zwar angenommen werden, dass die Beschwerdeführerin am 12.11.2023 gegen 21:14 Uhr in Lutzhorn das Kraftfahrzeug Mercedes-Benz mit dem amtlichen Kennzeichen pp. nach dem vorherigen Genuss alkoholischer Getränke geführt hat – es kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Ermittlungen indes nicht mit der erforderlichen großen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass sie zum Zeitpunkt der Fahrt auch eine Butalkoholkonzentration von mindestens 1,1 °/00 aufwies.

Der dahingehende Tatverdacht beruht derzeit ausschließlich auf der Aussage des Ehemannes der Beschuldigten gegenüber der Polizei, welcher am Tattag um 21:05 Uhr die Dienststelle in Elmshorn kontaktierte und angab, seine Ehefrau habe sich nach einem Streit stark alkoholisiert und schwankend mit dem Fahrzeug entfernt, sowie den damit korrespondierenden Angaben der Zeugen PK pp. und POM pp., welche die Beschuldigte am Tattag um 22:34 Uhr an der antrafen und einen Atemalkoholgeruch feststellten sowie den Analyseergebnissen der um 23:42 Uhr und 00:12 Uhr bei der Beschwerdeführerin entnommenen Blutproben, die einen BAK-Wert von 1,85 und 1,72 °/00 aufwiesen.

Diese Beweismittel sind jedoch nicht ohne weiteres geeignet, den dringenden Tatverdacht einer Trunkenheitsfahrt gern. § 316 Abs. 1, 2 StGB zu begründen, denn der unmittelbare Schluss, dass die Beschwerdeführerin bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt der Autofahrt eine Blutalkoholkonzentration von über 1,1 °/00 aufwies, kann daraus nicht gezogen werden.

a) Die Beschwerdeführerin selbst hat den Tatvorwurf bestritten und sich gegenüber den Polizei-beamten zuletzt dahingehend eingelassen, sie habe vor Fahrtantritt zwischen 17:00 Uhr und 20:00 Uhr in einem Restaurant 0,5 I Bier und drei bis vier 2 cl Gläser Ouzo getrunken – größere Mengen Alkohol, nämlich 0,33 I Bier und etwa 15 cl Ouzo, habe sie hingegen erst nach Fahrtende bei ihrer Freundin, der Zeugin pp. konsumiert. Diese Einlassung, nach der sich die Beschwerdeführerin während der Autofahrt allenfalls im Zustand relativer Fahruntüchtigkeit befunden hat, wird sich nicht ohne Weiteres widerlegen lassen.

Der Ehemann der Beschuldigten, der bisher keine Angaben zur Trinkmenge der Beschuldigten gemacht hat, gibt nunmehr an, diese habe vor Fahrtantritt in einem Restaurant zwei Bier und drei bis vier Ouzo getrunken, er habe die Polizei lediglich aus Verärgerung und Wut nach der Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau gerufen. Die Zeugin pp. hat darüber hinaus an Eides statt versichert, die Beschwerdeführerin habe nach ihrer Ankunft bei ihr gegen 21:00 Uhr bis 22:00 Uhr ein Bier getrunken und den Großteil einer Ouzo-Flasche geleert. Diese Aussagen stützen die Einlassung der Beschwerdeführerin und sind nicht geeignet, den gegen sie erhobenen Vorwurf der Trunkenheitsfahrt im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit zu begründen.

Die Kammer verkennt dabei nicht, dass das Aussageverhalten der Zeugen und die Einlassung der Beschuldigten inkonsistent sind und es sich auch um nachträglich abgesprochene Aussage handeln kann. So gab die Beschuldigte selbst zunächst an, sie habe nach der Fahrt in ihrem Fahrzeug Alkohol konsumiert, wenig später korrigierte sie die Aussage dahingehend, sie habe nach Fahrtende mit ihrer Freundin drei bis vier Bier getrunken und nach Durchführung des Atemalkoholtests gab sie schließlich an, gegen 17:30 Uhr zwei Weißweinschorlen und einen Ouzo und gegen 21:15 Uhr bei Frau pp. zwei bis drei Bier getrunken zu haben. Auch wirft es jedenfalls Fragen auf, dass die Zeugin pp.  gegenüber der Polizei zunächst angegeben haben soll, dass beide Frauen bei ihr keinen Alkohol konsumiert hätten. Sofern sie nunmehr behauptet, sie habe die Frage nach etwaigem Alkoholkonsum lediglich auf sich bezogen beantwortet, da es darum gegangen sei, die Beschwerdeführerin im Verlaufe der Nacht mit dem Fahrzeug von der Wache abzuholen, muss der Wahrheitsgehalt dieser Aussage ggf. nach Anhörung der Vernehmungsbeamten ermittelt werden. Die Kammer hält die Frage nach einer (ausschließlichen) Alkoholisierung der Zeugin im Rahmen der gegen die Beschwerdeführerin geführten Ermittlungen wegen einer Trunkenheitsfahrt für wenig wahrscheinlich; es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Niederschrift der Aussage der Zeugin pp. nicht von den vernehmenden Beamten (PKW POM pp. ) selbst, sondern von dem Zeugen POMA pp. gefertigt worden ist.

In diesem Zusammenhang muss auch berücksichtigt werden, dass der Ehemann der Beschuldigten die erste Aussage gegenüber der Polizei im Streit mit der Beschwerdeführerin getätigt hat, was eine kritische Würdigung der Aussage erfordert, da eine Belastungstendenz und eine etwaige Dramatisierung der Umstände jedenfalls nicht fernliegend erscheint. Für letzteres würde auch sprechen, dass er gegenüber der Polizei zunächst angab, die Beschwerdeführerin habe einen schwankenden Gang aufgewiesen, wohingegen die Polizeibeamten PK pp. und POM pp. bei der Beschwerdeführerin keinerlei Ausfallerscheinungen feststellen konnten.

Letztlich sind die Unstimmigkeiten innerhalb der Aussagen allenfalls geeignet einen hinreichenden Tatverdacht einer Trunkenheitsfahrt gem. § 203 StPO zu begründen, es kann indes nicht mit der notwendigen hohen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Beschwerdeführerin diese Tat auch begangen hat.

b) Auch die Ergebnisse der doppelten Blutprobenentnahme sind nicht geeignet, die Nachtrunkbehauptung der Beschwerdeführerin zu widerlegen.

Ein Rückschluss von einer gemessenen Blutalkoholkonzentration zum Zeitpunkt der Blutentnahme auf die relevante Blutalkoholkonzentration zum Zeitpunkt der Fahrt ist grundsätzlich dann möglich, wenn in der dazwischenliegenden Zeit ein regelhafter Verlauf der Blutalkoholkurve unterstellt werden kann; Nachtrunkeinlassungen erschweren diesen Rückschluss zugunsten des Beschuldigten (LG Oldenburg, Beschluss vom 24. Mai 2022 – 4 Qs 155/22 m.w.N.). In geeigneten Fällen kann eine Nachtrunkbehauptung jedoch durch die Ergebnisse einer Doppelblutentnahme widerlegt werden. Dem liegt zugrunde, dass die Zeitspanne während welcher die Blutalkoholkonzentration nach dem letzten Alkoholkonsum bis zur Erreichung ihres Maximums steigt – die sog. Anflutungsphase – im Regelfall etwa 30 Minuten bis zu zwei Stunden beträgt, wenngleich sie im Einzelfall von Person zu Person variiert (LG Oldenburg, Beschluss vom 24. Mai 2022 – 4 Qs 14 Qs 9/24 m.w.N.). In dieser Phase ist mithin mit steigenden Blutalkoholkonzentrationswerten zu rechnen, sodass in Fällen, in denen die Analysen einer ersten, in zeitlich engem Zusammenhang mit dem in Rede stehenden Tatgeschehen entnommenen Blutprobe, und einer zweiten, im Abstand von 30 Minuten entnommenen Blutprobe, eine sinkende Blutalkoholkonzentration ergibt, die Nachtrunkbehauptung in der Regel als widerlegt angesehen werden kann (vgl. a.a.O.). Für einen solchen Rückschluss muss die Entnahme der ersten Blutprobe allerdings spätestens 45 Minuten nach Trinkende erfolgen (zu den weiteren Voraussetzungen vgl. ausführlich a.a.O. m.w.N.). Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall jedoch nicht erfüllt, denn das Blut für die erste Blutprobe zur Bestimmung der Blutalkoholkonzentration wurde der Beschwerdeführerin erst um 23:42 Uhr entnommen – und mithin knapp 1,5 Stunden nach dem behaupteten Trinkende um 22:15 Uhr. In diesem Fall verbietet sich der Rückschluss, dass die sinkenden Werte belegen, dass die Nachtrunkbehauptung unwahr ist, da auch im Falle des Nachtrunks die Anflutungsphase zum Zeitpunkt der zweiten Blutprobenentnahme bereits beendet wäre und die „Abbauphase“ begonnen hätte.

Der Nachweis einer absoluten Fahruntüchtigkeit zum maßgeblichen Zeitpunkt der Fahrt lässt sich vor diesem Hintergrund nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit führen.“

Schon erstaunlich, dass das LG die verschiedenen, sich teilweise widersprechenden Aussagen nicht einfach mit „unglaubhaft“ abgetan hat. Man darf gespannt sein, wie das AG damit umgeht.

Und: die erwähnte Entscheidung des LG Oldenburg hatte ich hier übrigens auch vorgestellt, und zwar hier.

Alkohol II: Umrechnung von Atemalkohol in eine BAK?, oder: Konvertierung wissenschaftlich nicht gesichert

© benjaminnolte – Fotolia.com

Und als zweite Entscheidung dann der KG, Beschl. v. 06.09.2023 – 2 ORs 29/23. Das ist eine der „Alle Jahre wieder-Entscheidungen“, was bedeutet. Die behandelte Problematik ist an sich in der obergerichtlichen Rechtsprechung entschieden, aber – alle Jahre wieder – muss dennoch ein Obergericht dazu Stellung nehmen. Es geht um die Darstellung des Messergebnisses der Atemalkoholkonzentration und um die Umrechnung von Atemalkohol in Blutalkohol.

In dem Verfahren ist der Angeklagte vom AG wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Dagegen hat der Angeklagte Berufung eingelegt und diese auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Das LG hat die Berufung als unbegründet verworfen. Die Revision hatte dann beim KG Erfolg:

„1. Das Urteil des Landgerichts, das lediglich Feststellungen zum Rechtsfolgenausspruch (und zur Schuldfähigkeit) enthält, war schon deshalb aufzuheben, weil das Landgericht zu Unrecht von einer wirksamen Beschränkung der Berufung ausgegangen ist und dementsprechend keine eigenen Feststellungen zur Tat getroffen hat.

a) Im Rahmen einer zulässigen Revision hat das Revisionsgericht auf die Sachrüge von Amts wegen – unabhängig von einer sachlichen Beschwer und ohne Bindung an die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts – zu prüfen, ob dieses zu Recht von einer wirksamen Beschränkung der Berufung nach § 318 Satz 1 StPO und damit einer Teilrechtskraft des erstinstanzlichen Urteils ausgegangen ist (vgl. BGHSt 27, 70; KG, Beschluss vom 7. Februar 2017 – [5] 121 Ss 4/17 [3/17] -; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., § 318 Rn. 33, § 352 Rn. 4).

b) Grundsätzlich gebietet es die dem Rechtsmittelberechtigten in § 318 Satz 1 StPO eingeräumte Verfügungsmacht über den Umfang der Anfechtung, den in den Rechtsmittelerklärungen zum Ausdruck kommenden Gestaltungswillen im Rahmen des rechtlich Möglichen zu respektieren (vgl. KG, Urteil vom 22. September 2014 – [4] 161 Ss 148/14 [203/14] –). Somit führt nicht jeder Mangel des infolge der Beschränkung grundsätzlich in Rechtskraft erwachsenen Teils des Urteils, insbesondere auch nicht jede Lücke in den Schuldfeststellungen, zur Unwirksamkeit der Beschränkung (vgl. KG aaO).

Die wirksame Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch setzt jedoch voraus, dass das angefochtene Urteil seine Prüfung ermöglicht. Dies ist namentlich dann nicht der Fall, wenn die Feststellungen zur Tat so knapp, unvollständig, unklar oder widersprüchlich sind, dass sie keine hinreichende Grundlage für die Rechtsfolgenentscheidung des Berufungsgerichts bilden können (vgl. BGHSt 33, 59; KG aaO und Beschluss vom 30. März 2012 – [2] 161 Ss 28/12 [7/12] – mwN). Die Beschränkung ist ferner insbesondere dann unwirksam, wenn auf der Grundlage der Feststellungen zum Schuldspruch überhaupt keine Strafe verhängt werden könnte (vgl. BGH NStZ 1996, 352; Senat, Beschluss vom 30. März 2012 – [2] 161 Ss 28/12 [7/12] – mwN).

c) Nach diesen Grundsätzen ist die von dem Angeklagten erklärte Beschränkung der Berufung unwirksam. Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten sind so unzureichend, dass sie keine hinreichende Grundlage für die Rechtsfolgenentscheidung des Berufungsgerichts bilden können. Sie tragen nicht die Annahme eines schuldhaft begangenen Diebstahls (§ 242 StGB).

2. Die vom Amtsgericht zur Tat getroffenen Feststellungen lauten wie folgt:

„Am 19. September 2022 gegen 14:15 Uhr riss der Angeklagte bei ‚Sat ‘, x, x Berlin, das Mobiltelefon der Marke ‚Sam G S 22 U ‘ für 1299 Euro aus der Befestigung, steckte es in seine rechte Jackentasche und verließ das Geschäft ohne die Ware zu bezahlen, um es für sich zu verwenden.

Die Tat wurde beobachtet und der Angeklagte wurde ergriffen. Das erbeutete Telefon wurde zurückgeführt. Der Angeklagte hatte zuvor Alkohol konsumiert. Eine um 14:58 Uhr genommene Atemalkoholmessung ergab einen Wert von 2,46 Promille.“

a) Rechtsfehlerhaft ist es, dass das Amtsgericht ohne nähere Erläuterung festgestellt hat, der Angeklagte habe eine mit Promille-Werten bestimmte Atemalkoholkonzentration aufgewiesen. Dies ist nicht nachvollziehbar, weil das Ergebnis einer Atemalkoholmessung die in Gramm oder Milligramm bestimmte Äthylalkoholmenge in einem bestimmten Atemvolumen darstellt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Dezember 2022 – 6 StR 449/22 –, juris und vom 18. September 2019 – 2 StR 187/19 –, juris). Das Gericht hat also entweder nicht das konkrete Messergebnis (zur Frage einer direkten Konvertierbarkeit von AAK- in BAK-Werte vgl. auch BGHSt 46, 358, 362 ff.) oder aber irrtümlich ein unzutreffendes Messergebnis mitgeteilt und seiner (impliziten) Beurteilung der Schuldfähigkeit damit nicht ausschließbar einen unzutreffenden Grad der Alkoholisierung zugrunde gelegt. Denn wenngleich eine Atemalkoholkonzentration von 0,25mg/l normativ einer Blutalkoholkonzentration von 0,5 ‰ entspricht (§ 24a StVG), ist eine Umrechnung von Atemalkohol in Blutalkohol wissenschaftlich nicht gesichert und daher erst recht keine exakte Konvertierung möglich (vgl. dazu KG, Beschluss vom 3. März 2016 – (3) Ws (B) 106/16 – mwN, juris).

Mit Rücksicht darauf kommt es nicht infrage, die Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit aufgrund von Messungen mithilfe von Atemalkoholtestgeräten festzustellen; vielmehr können deren Ergebnisse insoweit nur als Indiz herangezogen und ausschließlich  zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt werden, wenn andere verwertbare Ausgangsdaten zur Bestimmung der Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit nicht zur Verfügung stehen, während eine Berücksichtigung zum Nachteil des Angeklagten ausscheidet (vgl. KG, Beschluss vom 24. September 2015 – (1) 121 Ss 157/15 (15/15) – mwN, juris). Letzteres ist hier zu besorgen, weil eine am Tattag um 14:58 Uhr entnommene Blutprobe möglicherweise einen noch höheren Wert ergeben hätte als die seinerzeit durchgeführte Atemalkoholmessung.

b) Das daneben vom Amtsgericht festgestellte „Leistungsverhalten“ des Angeklagten, das grundsätzlich zur Beurteilung der Schuldfähigkeit durch den Tatrichter herangezogen werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2022 – 6 StR 449/22 –, juris), beschränkt sich hier auf die Beschreibung des Tatgeschehens und erlaubt für sich keinen Rückschluss auf das Ausmaß der Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten. Andernfalls geriete die Beweiswürdigung in die Gefahr des Zirkelschlusses, dass der zur Tat fähige Täter automatisch auch schuldfähig gewesen ist.“

Alkohol I: Zur alkoholbedingten Schuldunfähigkeit, oder: Nur vage Trinkmengenangaben

Bild von Maximilian Barth auf Pixabay

Heute ist ein besonderer Tag, nämlich der 29. Februar. Gibt es ja nur alle vier Jahre, daher besonders. Und man muss/kann immer hoffen, dass man den nächsten 29. Februar noch erreicht. Sicher ist das ja nicht.

Und zur „Feier des Tages“ stelle ich hier heute Entscheidungen vor, in der mit „Alkohol“ zusammenhängende Fragen eine Rolle spielen. Die spielen ja im Straf- und ggf. auch im Bußgeldverfahren eine große Rolle.

Den Opener mache ich mit dem BayObLG, Beschl. v. 09.01.2024 – 202 StRR 101/23 – noch einmal zu den Voraussetzungen für die Annahme alkoholbedingter Schuldunfähigkeit.

Das AG hat den Angeklagten am 07.02.2023 wegen sexueller Belästigung in 3 Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe  von 140 Tagessätzen verurteilt, wobei es ausgeschlossen hat, dass der Angeklagte zu den Tatzeitpunkten aufgrund vorangegangenen Alkoholgenusses schuldunfähig im Sinne des § 20 StGB war. Gegen diese Entscheidung haben der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt, die jeweils auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt wurden. Das LG ist von einer wirksamen Beschränkung der Berufungen auf den Rechtsfolgenausspruch ausgegangen, hat eine Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen festgesetzt und die weitergehenden Berufungen verworfen. Dagegen dann jetztt noch die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt.

Die Berufung hatte nur wegen der Geldstrafenhöhe Erfolg. Insoweit komme ich auf die Entscheidung noch zurück. Im Übrigen führt das BayObLG aus:

„1. Die Berufungskammer ist zu Recht von der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch gemäß § 318 Satz 1 StPO ausgegangen und hat deshalb keine eigenen Feststellungen zum Schuldspruch getroffen, was das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen hat, weil das Fehlen erforderlicher Feststellungen durch die Berufungskammer einen sachlich-rechtlichen Mangel des Berufungsurteils darstellen würde (st.Rspr., vgl. zuletzt BayObLG, Beschl. v. 22.11.2023 – 202 StRR 86/23 = BeckRS 2023, 35649; 18.10.2023 – 202 StRR 74/23 = BeckRS 2023, 31050; 12.10.2023 – 202 StRR 72/23 bei juris = BeckRS 2023, 31056, jew. m.w.N.).

a) Die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch ist grundsätzlich zulässig. Dies gilt nur dann nicht, wenn die dem Schuldspruch im angefochtenen Urteil zugrunde liegenden Feststellungen tatsächlicher oder rechtlicher Art unklar, lückenhaft, widersprüchlich oder derart knapp sind, dass sich Art und Umfang der Schuld nicht in dem zur Überprüfung des Strafausspruchs notwendigen Maße bestimmen lassen und die erstinstanzlichen Feststellungen deshalb keine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Berufungsgerichts sein können (st.Rspr., vgl. BGH, Beschl. v. 27.04.2017 – 4 StR 547/16 = BGHSt 62, 155 = NJW 2017, 2482 = NZV 2017, 433 = StraFo 2017, 280; Urt. v. 02.12.2015 – 2 StR 258/15 = StV 2017, 314 = BeckRS 2016, 3826). Die Beschränkung ist ebenfalls unwirksam, wenn aufgrund der erstinstanzlich getroffenen Feststellungen unklar bleibt, ob sich der Angeklagte überhaupt strafbar gemacht hat (st.Rspr., vgl. etwa BGH, Urt. v. 06.08.2014 – 2 StR 60/14 = NStZ 2014, 635; 19.03.2013 – 1 StR 318/12 = wistra 2013, 463; BayObLG, Beschl. 22.11.2023 – 202 StRR 86/23 a.a.O.; 03.07.2023 – 202 StRR 34/23 bei juris = BeckRS 2023, 17751;12.10.2023 – 202 StRR 72/23 a.a.O.; 18.10.2023 – 202 StRR 74/23, jew. a.a.O.; 18.03.2021 – 202 StRR 19/21 bei juris = BeckRS 2021, 14721, jew. m.w.N.).

b) Derartige zur Unwirksamkeit der Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch führende Defizite haften dem erstinstanzlichen Urteil entgegen den von der Revision geäußerten Bedenken nicht an.

aa) Die Beschränkung einer Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch ist unter anderem dann unwirksam, wenn nach den Feststellungen im Ersturteil Anhaltspunkte für eine aufgehobene Schuldfähigkeit im Sinne des § 20 StGB vorhanden sind, die aufgrund der Urteilsfeststellungen nicht ausgeräumt wurden (vgl. BayObLG, Beschl. v. 01.02.2021 – 202 StRR 10/21 bei juris = BeckRS 2021, 1625; OLG Bamberg, Urt. v. 14.03.2017 – 3 OLG 6 Ss 22/17 = StV 2018, 276 = OLGSt StPO § 318 Nr 30 = BeckRS 2017, 106512 m.w.N.).

bb) Eine derartige Konstellation ist jedoch nicht gegeben. Vielmehr hat sich das Amtsgericht eingehend mit der Frage beschäftigt, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten aufgrund des vorangegangenen Alkoholkonsums aufgehoben im Sinne des § 20 StGB war, und hat dies rechtsfehlerfrei verneint.

(1) Zwar ist der Tatrichter bei Beurteilung der Schuldfähigkeit im Falle einer Alkoholintoxikation grundsätzlich gehalten, eine Berechnung des Blutalkoholgehalts zur Tatzeit vorzunehmen, was das Amtsgericht unterlassen hat. Es obliegt grundsätzlich dem Tatgericht, aufgrund von festgestellten Trinkmengen eine Berechnung des Blutalkoholgehalts im Tatzeitpunkt vorzunehmen, weil dessen Höhe ein gewichtiges Indiz für eine erhebliche alkoholische Aufnahme und damit das Ausmaß der Beeinträchtigung der Schuld darstellt (vgl. nur BGH, Urt. v. 27.09.2023 – 2 StR 46/23 bei juris = BeckRS 2023, 32664; Beschl. v. 20.07.2023 – 2 StR 88/22 bei juris = BeckRS 2023, 24570; 20.06.2023 – 5 StR 58/23 bei juris = BeckRS 2023, 19322; 02.05.2023 – 1 StR 41/23 bei juris = BeckRS 2023, 16447; BayObLG, Urt. v. 15.01.2021 – 202 StRR 111/20 = DAR 2021, 274 = BeckRS 2021, 1621; Beschl. v. 01.02.2021 – 202 StRR 10/21 bei juris = BeckRS 2021, 1625; 08.12.2020 – 202 StRR 123/20 = Blutalkohol 58 [2021], 34 = StV 2021, 257 = VerkMitt 2021, Nr 22 = BeckRS 2020, 35557). Hiervon ist das Tatgericht nicht schon dann entbunden, wenn die Angaben des Angeklagten zum konsumierten Alkohol nicht exakt sind. Vielmehr ist eine Berechnung der Blutalkoholkonzentration aufgrund von Schätzungen unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes auch dann vorzunehmen, wenn die Einlassung des Angeklagten sowie gegebenenfalls die Bekundungen von Zeugen zwar keine sichere Berechnungsgrundlage ergeben, jedoch eine ungefähre zeitliche und mengenmäßige Eingrenzung des Alkoholkonsums ermöglichen (BayObLG, Urt. v. 15.01.2021 – 202 StRR 111/20 a.a.O. m.w.N.).

(2) Die Berechnung einer möglichen Blutalkoholkonzentration aufgrund von Trinkmengen kann indes dann unterbleiben, wenn die Trinkmengenangaben so vage sind, dass selbst unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes eine auch nur annähernd verlässliche Ermittlung des Blutalkoholgehalts nicht möglich ist (BGH, Urt. v. 07.11.2018 – 5 StR 241/18 bei juris; 25.10.2017 – 2 StR 118/16 = NStZ-RR 2018, 69 = StraFo 2018, 202; Beschl. v. 20.04.2022 – 6 StR 111/22 bei juris; BayObLG a.a.O.). Denn bei einer völlig ungesicherten Tatsachenbasis kann einer hierauf gründenden Berechnung des Blutalkoholgehalts kein ausreichender Indizwert beigemessen werden. In einem solchen Fall richtet sich die Beurteilung der Schuld nur nach psychodiagnostischen Kriterien (BGH, Urt. v. 26.11.1998 – 4 StR 406/98 = NStZ-RR 1999, 297 = DAR 1999, 194 = Blutalkohol 37, 74; BayObLG a.a.O. m.w.N.).

(3) Eine solche Ausnahmekonstellation lag hier vor, so dass das Amtsgericht rechtsfehlerfrei von einer Berechnung der Blutalkoholkonzentration mangels hinreichender Verlässlichkeit der Berechnungsgrundlagen abgesehen hat. Nach den Gründen des amtsgerichtlichen Urteils hat sich der Angeklagte nicht zur Sache eingelassen. Die vernommenen Zeugen gaben zwar an, dass der Angeklagte alkoholisiert gewesen sei, keiner der Zeugen konnte jedoch Angaben zu Trinkmengen machen.

(4) Die Erwägungen des Amtsgerichts zum Ausschluss eines Zustands der Schuldunfähigkeit anhand der aufgrund der Beweisaufnahme herausgearbeiteten psychodiagnostischen Kriterien sind nicht zu beanstanden. Das Amtsgericht hat berücksichtigt, dass der Angeklagte zwar erheblich alkoholisiert war und sich beim Begehen einer Treppe am Geländer festgehalten hat, aber von seinem Bekannten nicht gestützt werden musste. Ferner hat es in die Überlegungen eingestellt, dass sich der Angeklagte beim Verlassen der Örtlichkeit sogar für sein „blödes“ Verhalten entschuldigt habe, woraus das Tatgericht den durchaus möglichen Schluss gezogen hat, dass er in der Lage war, sein Handeln noch zu überblicken und zu reflektieren. Außerdem hat es überzeugend der Tatausführung, bei der es dem Angeklagten unter anderem gelang, die Verletzte auf seinen Schoß zu ziehen und mit einer gezielten Handbewegung in deren Schritt unter den Rock zu greifen, Bedeutung beigemessen und im Rahmen der gebotenen Gesamtschau dieser Umstände ausgeschlossen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Tatzeitpunkt vollständig aufgehoben war. Hiergegen ist aus revisionsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern.“

Pflichti III: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Eine fürs Töpfchen, eine fürs Kröpfchen

© ernsthermann – Fotolia.com

Und dann – wie fast immer an einem „Pflichti-Tag“ – noch etwas zur rückwirkenden Bestellung. Ohne diesen Dauerbrenner geht es offenabr nicht. Heute habe ich zu der Problematik zwei Entscheidungen, eine „gute“ und eine „schlechte“, also „eine fürs Töpfchen und eine fürs Kröpfchen“.

Hier zunächst die „Töpfchen-Entscheidung“, nämlich der LG Erfurt, Beschl. v. 31.01.2024 – 7 Qs 313/23 -, von dem es aber nur die Leitsätze gibt, da die Problematik hier ja nun schon sehr häufig Thema war:

1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zu diesem Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über die Beiordnung aufgrund gerichtsinterner bzw. behördeninterner Vorgänge unterblieben ist.
2. Ein Fall der notwendigen Verteidigung ist u.a. dann gegeben, wenn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr zu erwarten ist. Dabei sind auch Verurteilungen aus anderen Verfahren, wenn diese zur Bildung einer Gesamtstrafe führen, zu berücksichtigen.

Und dann die „fürs Köpfchen“, und zwar der LG Limburg, Beschl. v. 26.01.2024 – 2 Qs 4/24 – auch nur mit dem Leitsatz:

Auch nach der Neuregelung der §§ 140 ff. StPO durch die Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26.10.2016 (sog. „PKH-Richtlinie“) und deren Umsetzung durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 verbleibt es dabei, dass eine sog. rückwirkende Beiordnung als Pflichtverteidiger ausgeschlossen ist.

Mich überzeugt diese Entscheidung nicht. Ich halte die Rechsprechung, auf die verwiesen wird, für falsch. Und erst recht ist m.E. die Beschwerde in den Fällen nicht „unzulässig“. Die Beschwer ist nicht entfallen, sondern besteht, da man ja um die Bestellung streitet, fort.

Pflichti II: AG kickt den Verteidiger „vorschnell“ raus, oder: Und was ist mit dem Vertrauensschutz?

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und als zweite Entscheidung dann eine Entscheidung des LG Halle. Gestritten worden ist um die Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung durch das AG Merseburg. Das hatte im dem von der Staatsanwaltschaft gegen den Angeklagten ursprünglich wegen des Verdachts des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Halle eingeleiteten Ermittlungsverfahren am 25.02.2022 den Kollegen Siebers aus Braunschweig, der mir die Entscheidung geschickt hat, gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO bei geordnet, weil dem Angeklagten ein Verbrechen zur Last gelegt wurde.

Mit Verfügung vom 27.03.2023 stellte die Halle das Verfahren dann gem. § 170 Abs. 2 StPO ein, soweit ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Betracht kam. Gleichzeitig beantragte sie beim AG Merseburg den Erlass eines Strafbefehls bezüglich des Besitzes von 1,07 Gramm Marihuana gem. §§ 1, 3 Abs. 1, 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 33 BtMG.

Das AG Merseburg erließ den Strafbefehl am 05.04.2023. Hiergegen legte der Angeklagte rechtzeitig Einspruch ein. Nach erfolgter Akteneinsicht meldete der Kollege sich beim AG, wobei er u. a. auf eine Verfahrenseinstellung gemäß § 153 StPO hinzuwirken versuchte sowie Kritik an der Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft, wegen der o. g. Tat einen Strafbefehl zu beantragen („steuergeldverschwendendes Verfahren“), übte.

Mit Beschluss vom 15.12.2023 hat das AG – ohne vorherige Anhörung der Verfahrensbeteiligten – die Beiordnung auf gehoben, weil kein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 StPO mehr gegeben sei. Gleichzeitig bestimmte das AG Hauütverhandlungstermin auf den 26.03.2024.

Der Kollege hat gegen den die Pflichtverteidigerbestellung aufhebendeb Beschluss sofortige Beschwerde eingelegt, die Erfolg hatte. Das LG Halle mit dem LG Halle, Beschl. v. 15.02.2024 – 3 Qs 11/24 – die AG-Entscheidung aufgehoben:

„Gemäß § 143 Abs. 2 S. 1 StPO kann die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufgehoben werden, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt. Dies ist anzunehmen, wenn sich im Lauf des Verfahrens ergibt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen, die zur Annahme eines Falles der notwendigen Verteidigung im Sinne von § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 10, Abs. 2 StPO geführt haben, nicht mehr gegeben sind (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, StPO, 66. Auflage, § 143 Rn 3).

Dies ist zwar vorliegend, nachdem die Staatsanwaltschaft der Verfahren hinsichtlich des Vorwurfs des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge eingestellt hat, mittlerweile der Fall. Seit dem 27. März 2023 wird dem Angeklagten kein Verbrechen mehr vorgeworfen, sodass kein Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO mehr vorliegt.

Allerdings steht die Aufhebung der Bestellung im Ermessen des Gerichts („Kann-Bestimmung“). Dem liegt nach der Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, dass Aspekte des Vertrauensschutzes trotz Wegfalls der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die Fortdauer der Beiordnung rechtfertigen können (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 45; KG Berlin, Beschl. vom 15.5.2020 – 5 Ws 65/20, BeckRS 2020, 36749).

Den Gründen des angegriffenen Beschlusses ist indes nicht zu entnehmen, dass sich das Amtsgericht seines Ermessensspielraums bewusst gewesen ist. Dies folgt unter anderem aus der vom Gericht in den Gründen des Beschlusses verwendeten Formulierung, dass die Bestellung aufzuheben „ist“. Die Verwendung des Verbes „ist“ impliziert ohne nähere Begründung, dass die Aufhebung der Beiordnung als Automatismus in dem Fall, dass die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nicht mehr vorliegen, verstanden worden ist. Ein solcher Automatismus besteht hier aber gerade nicht.

Die fehlende Ermessensausübung des Amtsgerichts zwingt im vorliegenden Fall jedoch nicht zu einer Zurückverweisung der Sache, vielmehr kann die Kammer selbst in der Sache entscheiden. Eine Zurückverweisung durch das Beschwerdegericht kommt nur in eng begrenzen Ausnahmefällen in Betracht (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, a.a.O., § 309 Rn 7), welche die Kammer hier nicht annimmt. Grundsätzlich hat das Beschwerdegericht gemäß § 309 Abs. 2 StPO eine eigene Sachentscheidung zu treffen, wobei an die Stelle des Ermessens des Erstgerichts das Ermessen des Beschwerdegerichts tritt (vgl. Münchener Kommentar zur StPO, 1. Auflage, § 309 Rn 28).

Dies führt zur Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Merseburg vom 15. Dezember 2023, da der Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 143 Abs. 2 S. 1 StPO ein berechtigtes Vertrauen des Angeklagten entgegen steht.

Seit der Teileinstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft – durch die die Voraussetzung des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO weggefallen ist – bis zur Entscheidung des Amtsgerichts, die Pflichtverteidigerbestellung aufzuheben, sind knapp acht Monate vergangen, in denen weder das Gericht noch die Staatsanwaltschaft den Wegfall der Voraussetzung der notwendigen Verteidigung jemals problematisiert haben. Vielmehr hat der Verteidiger des Angeklagten in dieser Zeit weiterhin Tätigkeiten für ihn im dem Verfahren entfaltet, insbesondere versucht, auf eine Einstellung gem. § 153 StPO hinzuwirken. Staatsanwaltschaft und Gericht haben auf diese Tätigkeiten jeweils – beispielsweise mit der Veranlassung der Einholung eines Substanzgutachtens – reagiert, ohne zu erkennen zu geben, dass eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung in Betracht kommen könnte. Erst im unmittelbaren Zusammenhang mit der Terminierung der Hauptverhandlung für den 26. März 2024 hat das Amtsgericht – ohne die Verfahrensbeteiligten zuvor anzuhören – die Bestellung aufgehoben. Durch das der Aufhebung vorhergehende Verhalten hat das Amtsgericht jedoch ein schutzwürdiges Vertrauen des Angeklagten dahingehend geschaffen, dass die einmal getroffene Entscheidung der Beiordnung auch unter den nach der Teileinstellung geänderten Umständen aufrechterhalten bleiben soll. Aufgrund dessen war der Aufhebungsbeschluss des Amtsgerichts aufzuheben, sodass die Pflichtverteidigerbeiordnung fortdauert.“

Na ja: Erst das Verfahren einstellen und dann nach acht (!) Monaten sagen, dass die Beiordnungsgründen weggefallen sind und dann ohne Anhörung entpflichten, geht natürlich nicht. M.E. spricht viel dafür, dass das AG den möglicherweise „unbequemen“ Verteidiger „los werden wollte, da der ja schon mit „steuergeldverschwendendes Verfahren“ gegen den Strafbefehl gewettert hatte. Das versprach „Stimmung“ in der Hauptverhandlung, auf die das AG dann wohl keinen Bock hatte. Und schwupps, war der Verteidiger entpflichtet. Aber ebenso schwupps hat das LG Halle die Entscheidung aufgehoben, was m.E. richtig ist/war. Das AG draf sich dann jetzt auf die Hauptverhandlung freuen.