Archiv für den Monat: Januar 2024

Ich habe da mal eine Frage: Was kann ich bei zögerlicher Gebührenfestsetzung tun?

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Und dann die erste Gebührenfrage/das erste RVG-Rätsel des Jahres 2024, und zwar etwas zur zögerlichen Bearbeitung eines Festsetzungsantrages:

„….

Am Landgericht pp. fand ein umfangreicher Prozess wegen einer Steuerhinterziehung und dem Verstoß gegen das AMG statt. Der Arrest über 4.031.422,82 Euro wurde angeordnet und die Einziehung wurde nach 14 Hauptverhandlungen durch die Staatsanwaltschaft beantragt. Ich war als Pflichtverteidiger beigeordnet. Mir ist es gelungen, einen rechtskräftigen Freispruch zu erzielen. Der Mandant hat mir seine Ansprüche gegen die Staatskasse abgetreten. Den Antrag zur Festsetzung und zur Verzinsung habe ich vor 7 (!) Monaten gestellt. Ich habe immer wieder die Bearbeitung angemahnt. Bis heute ohne Erfolg. Über den Antrag wird nicht entschieden. Welche Rechtsschutzmöglichkeiten bleiben mir? Wie kann ich die Bearbeitung erreichen? Wäre § 11 RPflG ein möglicher Rechtsbehelf? Bleibt nur die Dienstaufsichtsbeschwerde?“

Erst „beschränkter, dann „voller“ Pflichtverteidiger, oder: Anrechnung, so die „geballte OLG_Intelligenz“

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Und als zweite Entscheidung dann der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.-10.2023 – 1 Ws 200/23. Eine – in meinen Augen – „Besserwisserentscheidung“ eines OLG, das die vorhergehenden richtigen Entscheidungen des AG Speyer., Beschl. v. 23.03.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19 und des AG Speyer, Beschl. v. 05.04.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19  und des LG Frankenthal, Beschl. v. 05.07.2023 – 2 Qs 144/23, über die ich ja jeweils hier auch berichtet habe (vgl. u.a. Erst „beschränkter, dann „voller“ Pflichtverteidiger, oder: Keine Anrechnung, sagt auch das LG Frankenthal).

Ich erinnere an den Sachverhalt: Dem Beschuldigten ist der Vorwurf der Vergewaltigung gemacht worden. Ihm wurde mit Beschluss des AG vom 16.12.2020 der Kollege Flory für die Dauer der Vernehmung einer Zeugin im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beigeordnet. Nach Abrechnung der insoweit entstandenen gesetzlichen Gebühren ist der Kollege dann auf Antrag der Staatsanwaltschaft mit Beschluss vom 21.o4.2021 als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Dafür sind dann seine weiteren Gebühren und Auslagen wie folgt vom AG festgesetzt worden: Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG, zweimal Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG mit einem Zuschlag Nr. 4110 VV RVG und Auslagen. Die dagegen eingelegte Erinnerung der Vertreterin der Staatskasse hatte keinen Erfolg (das sind die o.a.  AG Speyer Beschlüsse). Gegen den Beschluss des AG hat die Staatskasse natürlich Beschwerde eingelegt. Diese hat das LG Frankenthal mit dem LG Frankenthal, Beschl. v. 05.07.2023 – 2 Qs 144/23 – zurückgewiesen.

Solche Entscheidungen lassen die Vertreter der Staatskasse dann natürlich nicht ruhen. Und er hat weitere Beschwerde eingelegt und hatte damit beim OLG Erfolg:

„Das Rechtsmittel der Vertreterin der Landeskasse ist gern. §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 Satz 3, Abs. 6 Satz 1 RVG zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Die im Beschlussausspruch genannten Entscheidungen des Amtsgerichts Speyer und des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) sind rechtsfehlerhaft.

Der Verteidiger ist demselben Angeklagten in demselben Strafverfahren während des Ermittlungsverfahrens zweimal beigeordnet worden. In diesem Fall stellt ein und dasselbe Strafverfahren – jedenfalls für jede Instanz – immer ein und dieselbe Angelegenheit im Sinne von § 15 Abs. 2 RVG dar (OLG Celle, Beschluss vom 25.08.2010, 2 Ws 303/10, Rn. 14; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.12.2013, III 1 Ws 416/13, juris, Rn. 6; LG Landshut, Beschluss vom 23.03.2010, 2 Qs 326/09, juris, Rn. 15; für das Revisionsverfahren: OLG München, Beschluss vom 21.01.2008, 4 Ws 3/08 <K>, juris, Rn. 7). Die von dem Rechtsanwalt übernommenen Aufgaben sind für die Beurteilung unerheblich, soweit sie in demselben Verfahren wahrgenommen werden (OLG Celle a.a.O., Rn. 11). Die mehrfache Beauftragung eines Rechtsanwalts in derselben Angelegenheit regelt § 15 Abs. 5 RVG. Nach Satz 1 dieser Vorschrift erhält der Rechtsanwalt, der in einer Angelegenheit, in der er bereits vorher tätig war, weiter tätig wird, nicht mehr an Gebühren, als er erhalten würde, wenn er von vomherein hiermit beauftragt worden wäre. Nach Satz 2 der Vorschrift gilt dies nicht, wenn der frühere Auftrag seit mehr als zwei Kalenderjahren erledigt ist. Im vorliegenden Fall liegen zwischen den beiden Beiordnungen durch das Amtsgericht Speyer keine zwei Jahre mit der Folge, dass der Verteidiger nur die Gebühren abrechnen kann, die er hätte abrechnen können, wenn er bereits am 16.12.2020 umfassend als Pflichtverteidiger beigeordnet worden wäre.

Der Umsetzung dieser Rechtslage steht auch nicht die Rechtskraft des Kostenfestsetzungsbeschlusses vom 06.04.2021 entgegen; denn der Inhalt dieses Beschlusses hindert die Anrechnung der bereits zuerkannten Gebühren und Auslagen auf den weiteren Gebühren- und Auslagenanspruch des Verteidigers nicht.

Wie gesagt: „Besserwisserentscheidung. Denn das OLG liegt falscg, die AG und LG-Entscheidungen waren richtig. Das OLG übersieht, dass die Bestellung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren nur für die „Dauer der Vernehmung der Zeugin“ erfolgt, also zeitlich beschränkt, ist. Sie war mit der Vernehmung beendet und es ist eine neue Beiordnung erfolgt. Es handelt sich also nicht um dieselbe Angelegenheit i.S. des § 15 RVG. Insofern übersieht das OLG auch, dass die Tätigkeit des Rechtsanwalts während der Dauer einer Vernehmung etwas anders ist als Verteidigertätigkeit im Erkenntnisverfahren. Die vom OLG angeführte Rechtsprechung stützt die falsche Auffassung des OLG im Übrigen nicht. Denn die den zitierten Entscheidungen zugrunde liegende Sachverhalte sind mit der hier entschiedenen Konstellation nicht zu vergleichen. Denn es handelt sich u.a. um Fragen der Nebenklage und/oder der Vertretung mehrerer Adhäsionskläger. Da spielen m.E. ganz andere Fragen eine Rolle. Das OLG sieht es offenbar anders. Schade, aber gegen die geballte Intelligenz (?) eines OLG-Senats kommt man (kaum) an.

Welche Rahmengebühren im Bußgeldverfahren? oder: Falsch, falscher, LG Koblenz

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Und dann der erste Gebührenfreitag im neuen Jahr. Den Reigen der Gebührenentscheidungen in 2024 muss ich dann leider mit zwei nicht so schönen Entscheidungen eröffnen. Das lässt sich aber nicht ändern, auch die müssen sein/muss man kennen.

Zunächst der LG Koblenz, Beschl. v. 23.11.2023 – 6 Qs 58/23. Mal wieder zur § 14 RVG im Bußgeldverfahren und mal wieder – wie beim LG Koblenz schon seit Jahren, was da aber wohl niemanden interessiert – falsch.

Das AG hatte in einem Bußgeldverfahren die Rahmengebühren unterhalb der Mittelgebühr festgesetzt. Das LG beanstandet das nicht, sondern „winkt die Sache durch“:

„1. Gemäß § 14 Abs. 1 RVG bestimmt der Rechtsanwalt – hier der Wahlverteidiger – bei den hier geltenden Rahmengebühren die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände. Die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung ist nur dann nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist.

Ob das der Fall ist, unterliegt im Kostenfestsetzungsverfahren und auch im Beschwerdeverfahren einer Wertung, wobei das grundsätzliche Gebührenbestimmungsrecht des Anwalts nicht dadurch ausgehöhlt werden darf, dass eine Gebührenbemessung schon dann als unbillig korrigiert werden darf, wenn sie lediglich „gut bemessen“ ist. Da billiges Ermessen nicht positiv in dem Sinne bestimmt werden kann, dass jeweils nur ein konkreter Gebührenbetrag in Betracht kommt, ist lediglich eine negative Abgrenzung möglich, nämlich danach, ob eine konkrete Gebührenbestimmung außerhalb eines Bereichs liegt, der noch vom billigen Ermessen abgedeckt ist (zu allem: Gerold/Schmidt, RVG, 20. Aufl. § 14 Rn. 5).

Der Rechtspfleger des Amtsgerichts Koblenz hat in der angefochtenen Entscheidung differenzierte Betrachtungen für die einzelnen Gebührentatbestände eingestellt, die auf das Rechtsmittel hin zu überprüfen sind. Dabei sind jeweils alle Umstände zu berücksichtigen, die für eine Erhöhung der Mittelgebühr und gleichfalls alle Umstände, die für eine Unterschreitung der Mittelgebühr sprechen können, wobei die Mittelgebühr in der Rechtspraxis als die konkret billige Gebühr in Normalfällen angesehen wird (Gerold/Schmidt, a.a.O. Rn. 10). Die jeweils in der einen oder anderen Richtung relevanten Umstände — Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Angeklagten und die Bedeutung der Angelegenheit —sind außerdem gegeneinander abzuwägen (Gerold/Schmidt, a.a.O., Rn 11). Schließlich ist —nach gerichtlicher Bemessung der jeweils angemessenen Gebühr — unter Achtung des dem Rechtsanwalt vom Gesetz eingeräumten Ermessensspielraums ein Überschreiten der von dem Gericht als angemessen erachteten Gebühr durch den Rechtsanwalt in einem gewissen Rahmen grundsätzlich zu tolerieren. Die Grenze dieses Rahmens, die sogenannte Toleranzgrenze (Gerold/Schmidt, a.a.O., Rn 12), zieht die Kammer bei 20 % und sieht darüberhinausgehende Gebührenbestimmungen des Rechtsanwalts als unbillig an.

2. In dem vorliegenden Verfahren waren die durch das Amtsgericht festgesetzten Gebühren angemessen und haben auch den Ermessensspielraum des Verteidigers von 20 % ausreichend inkludiert.

Das Amtsgericht ist bei der Festsetzung der zu erstattenden Gebühren zu Recht davon ausgegangen, dass es sich um eine Angelegenheit handelt, die nach der Sach- und Rechtslage und ihrer Schwierigkeit als deutlich unter dem Durchschnitt der Bußgeldverfahren liegend anzusehen ist.

Denn Maßstab für die Beurteilung der Schwierigkeit wie auch des zeitlichen Aufwands sind nicht isoliert Verkehrsordnungswidrigkeiten, sondern es ist das gesamte Spektrum an Ordnungswidrigkeiten zu berücksichtigen, die von den Gebührensätzen, die im Vergütungsverzeichnis vorgesehen sind, abgedeckt werden. Um zu spezialgesetzlichen Bußgeldtatbeständen etwa auf dem Gebiet des Umwelt-, Wirtschafts- und Steuerrechts, die einerseits erhebliche Bußgelder vorsehen, andererseits häufig mit rechtlichen Schwierigkeiten sowie umfangreicher Sachaufklärung verbunden sind, eine angemessene Relation herzustellen, können bei Verfahren wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten daher im Regelfall nur unter den Rahmenmittelsätzen liegende Verteidigergebühren als angemessen angesehen werden (vgl. LG Koblenz, Beschluss vom 11.07.2012, 1 Qs 149/12, juris Rdnr. 8).

So liegt der Fall auch hier. Es handelt sich der Sache nach um einen äußerst einfach gelagerten Fall, in dem es um den Vorwurf der Nutzung eines elektronischen Geräts im Straßenverkehr gemäß § 23 Abs. la StVO geht, mithin um eine alltägliche Verkehrsordnungswidrigkeit. Ansonsten kann allenfalls von einem für Verkehrsordnungswidrigkeiten durchschnittlichen Aufwand ausgegangen werden. Zu klären wäre letztlich die Frage gewesen, ob der Betroffene das Mobiltelefon tatsächlich während der Fahrt dergestalt benutzt hat, dass er es auf Höhe des Mundes gehalten und Sprechbewegungen ausgeführt hat. Zu beachten ist dabei insbesondere, dass es aufgrund der vielen Terminsverlegungen letztlich nicht einmal zu einem Hauptverhandlungstermin und damit zu einer Beweisaufnahme mit der Einvernahme der Zeugen, sondern vielmehr zu einer Einstellung des Verfahrens aufgrund der eingetretenen Verfolgungsverjährung kam. Die anwaltliche Tätigkeit beschränkte sich daher auf das Beantragen der Akteneinsicht, auf die Ausführungen des Verteidigers in seiner fünfseitigen Einspruchsbegründung, die sich jedoch in allgemeinen Ausführungen zum Tatbestand (so auch der kurze Schriftsatz vom 22.06.2020, BI. 59 d.A.) sowie einer vorläufigen Würdigung der Zeugenangaben erschöpfen. Soweit etwa zwei Jahre später ein Antrag auf Verfahrenseinstellung folgte, wurde alleine für diese Tätigkeit die zusätzliche und der Höhe nach nicht unerhebliche Gebühr nach Nr. 5115 VV RVG gewährt, obgleich das Verfahren letztlich allein wegen der Verfahrensverzögerung und nicht wegen anwaltlicher Mitwirkung eingestellt worden ist. Weitere Schreiben, die umfangreiche oder wesentliche inhaltliche oder rechtliche Ausführungen zum Gegenstand haben, lassen sich dem Aktenstück nicht entnehmen. Eine aufwendige Sach- oder Rechtsaufklärung ist insofern nicht ersichtlich.

Neben vorstehenden Erwägungen gilt im Hinblick auf die Verfahrensgebühren Nr. 5103 und 5109 W RVG zudem, dass die Höhe der Geldbuße im Bußgeldverfahren maßgebliches Kriterium für die Gebührenhöhe ist, was der Gesetzgeber hier durch die Bestimmung eines Wertrahmens zum Ausdruck gebracht hat; anderenfalls hätte es einer Gebührenstaffelung für verschiedene Geldbußen gerade nicht bedurft (LG Koblenz, Beschluss vom 15.09.2010, 4 Qs 53/10). Hier liegt die verhängte Geldbuße mit 100,00 € weit am unteren Rand der Staffelung (60,- bis 5.000,- €), was den Ansatz von Mittelgebühren ebenfalls nicht zwingend nahelegt. Generell ist auch hier der anzusetzende Vergleichsmaßstab nicht innerhalb verschiedener Verkehrsordnungswidrigkeiten zu suchen, sondern vielmehr im Hinblick auf die Frage, ob es sich um ein tatsächlich und rechtlich einfach gelagertes Bußgeldverfahren handelt, ein Vergleich zwischen Verkehrsordnungswidrigkeiten einerseits und spezialgesetzlichen Bußgeldtatbeständen andererseits anzustellen.

Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Akte zum Zeitpunkt des ersten Akteneinsichtsgesuchs am 17.02.2020 einen Umfang von gerade einmal 31 Seiten hatte. Hinsichtlich des Akteninhalts ist dabei nennenswert lediglich der wenige Seiten umfassende polizeiliche Vermerk vom 08.01.2020. Darüber hinaus finden sich keine Unterlagen, die einer schwierigen und umfangreichen Einarbeitung unterlegen hätten.

Die festgesetzten Gebühren bewegen sich durchgehend über den Mindestsätzen und sie tragen auch der Bedeutung der Sache für den Betroffenen hinreichend Rechnung. Dies gilt insbesondere auch mit Rücksicht darauf, dass die Geldbuße auf 100,00 € festgesetzt worden ist und die Eintragung von einem Punkt im Fahreignungsregister im Raum stand, weshalb sich – bei nur einer Voreintragung – eine gesteigerte Bedeutung für den Betroffenen nicht erkennen lässt, sondern die Angelegenheit vielmehr als wenig erheblich einzustufen ist.

Dass ohne einen entsprechenden Hauptverhandlungstermin eine Terminsgebühr nicht verlangt werden kann – insbesondere bei gleichzeitiger Geltendmachung der zusätzlichen Gebühr für die Entbehrlichkeit der Hauptverhandlung – liegt auf der Hand. Insoweit geht die Kammer von einem Versehen des Verteidigers aus.

Nach alldem ist eine Festsetzung von über den bereits vom Rechtspfleger festgesetzten Beträgen liegenden Gebühren nicht gerechtfertigt.“

Falsch, falscher, LG Koblenz.

StPO III: Berufungsverwerfung wegen Ausbleibens, oder: AG-Urteil ohne Unterschrift

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Und als dritte Entscheidung dann noch der BayObLG, Beschl. v. 29.08.2023 – 203 StRR 331/23. Mit dem bin ich mal ganz mutig. In der Entscheidung spielt nämlich eine Urteil ohne Unterschrift eine Rolle. Ich befürchte, dass es nun wieder los gehen wird 🙂 : Das Kommentieren und Schreiben zu dieser wichtigen 🙂 Frage, die manche nicht verstehen.

In dem dem Beschluss zugrunde liegenden Verfahren war das Urteil des AG nicht unterschrieben. Das LG hat dann die Berufung des Angeklagten trotzdem nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen, als der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung unentschuldigt ausgeblieben ist. Und das war richtig, sagt das BayObLG:

„Ergänzend bemerkt der Senat:

Wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat, steht der Umstand, dass das erstinstanzliche schriftliche Urteil keine Unterschrift des Tatrichters aufweist, einer Verwerfung der Berufung nach § 329 StPO nicht entgegen. Das Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 setzt voraus, dass zulässig Berufung eingelegt worden ist, die Verfahrensvoraussetzungen gegeben sind, keine Prozesshindernisse vorliegen, der Angeklagte ordnungsgemäß geladen wurde, weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsmacht erschienen ist und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 329 Rn. 6 ff.; Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 329 Rn. 60, 63). Liegen diese Voraussetzungen vor, hat das Berufungsgericht das Verfahren ohne jede sachliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils zu beenden (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rn. 32). Die Bestimmung nimmt die Möglichkeit in Kauf, dass ein sachlich unrichtiges Urteil allein darum rechtskräftig wird, weil der Angeklagte in der Berufungsverhandlung ohne genügende Gründe ausgeblieben ist (BGH, Urteil vom 3. April 1962 – 5 StR 580/61 –, BGHSt 17, 188-190, juris Rn. 4). Ein Urteil ohne Gründe ist, sofern es nach § 268 Abs. 2 StPO verkündet worden ist, grundsätzlich wirksam und kann in Rechtskraft erwachsen (BGH, Urteil vom 8. Juli 1955 – 2 StR 144/55 –, BGHSt 8, 41-42, juris).“

Und ja, die Entscheidung ist zutreffend.

StPO II: Bei Urteilsverkündung Maßregel vergessen, oder: (kein) Verkündungs-/Fassungsversehen?

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Und dann die zweite Entscheidung. Die kommt aus Bayern. Es handelt sich um den BayObLG, Beschl. v. 06.09.2023 – 203 StRR 342/23. Der behandelt eine Frage, die sich sicherlich gar nicht so selten stellen dürfte, nämlich: Wie geht man damit um, wenn im erstinstanzlichen Urteil eine Maßregel „vergessen“ worden ist. Zumindest im verkündeten Urteil?

Hier war der Angeklagte durch Urteil des AG wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren trotz Fahrverbots verurteilt worden. Nach der laut Hauptverhandlungsprotokoll in der Hauptverhandlung verkündeten und inhaltsgleich in der schriftlichen Urteilsurkunde wiedergegebenen Urteilsformel hat das AG den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt und ein Fahrverbot von 5 Monaten, jedoch keine Sperrfrist ausgesprochen. In den schriftlichen Gründen der Urteilsurkunde hat es allerdings eine isolierte Sperre nach § 69 a Abs. 1 Satz 3 StGB von einem Jahr begründet. Eine Protokollberichtigung ist nicht erfolgt.

In der Berufung hat das LG eine wirksame Anordnung einer Sperrfrist von einem Jahr angenommen und die Berufung des Angeklagten mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die verhängte Sperrfrist noch 9 Monate beträgt. Das Fahrverbot von 5 Monaten hat es aufrechterhalten.

Das geht so nicht, sagt das BayObLG:

„Die zulässige Revision ist teilweise begründet. Mit der – erstmaligen – Anordnung einer isolierten Sperrfrist hat das Landgericht gegen das in der Revision von Amts wegen zu prüfende (BGH, Beschluss vom 23. August 2000 – 2 StR 171/00 –, juris; Franke in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 358 Rn. 23 m.w.N.) Verbot der Schlechterstellung (§ 331 Abs. 1 StPO) verstoßen und den Umfang der von Amts wegen zu beachtenden Teilrechtskraft (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 4 m.w.N.; BGH, Beschluss vom 23. August 2000 – 2 StR 171/00 –, juris Rn. 7; Gericke in KK-StPO, 9. Aufl., § 358 Rn. 22) nicht berücksichtigt. Für die Bestimmung des Umfangs der Bestrafungsgrenze ist die verkündete Urteilsformel maßgeblich (BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 4 m.w.N.). Das Amtsgericht hat bei der Verkündung des Urteils am 1. März 2023 wie auch im Tenor der schriftlichen Urteilsurkunde keine isolierte Sperrfrist für die Erteilung der Fahrerlaubnis ausgesprochen. Auf die Streitfrage, ob in der Revision das Übereinstimmen von verkündeter und im schriftlichen Urteil niedergelegter Urteilsformel von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 3), kommt es hier nicht an.

Im einzelnen:

1. Um die Auswirkung der Rechtskraft bestimmen zu können, hat das Berufungsgericht den Verkündungsinhalt von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen (BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20-, juris Rn. 4). Das Erfordernis einer Verfahrensrüge gibt es im Berufungsverfahren nicht.

2. Nach § 268 Abs. 2 S. 1 StPO wird das Urteil durch Verlesung der Urteilsformel und Eröffnung der Urteilsgründe verkündet. Nach § 260 Abs. 2 und 4 StPO sind alle Rechtsfolgen in die Urteilsformel mit aufzunehmen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 260 Rn. 38). Mit der Verkündung ist der Urteilsspruch grundsätzlich nicht mehr änderbar und nicht mehr ergänzbar. Die Urteilsformel als Grundlage für die Vollstreckung und die Eintragung der Verurteilung in die Register muss aus sich selbst heraus verständlich sein (vgl. Stuckenberg in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 260 Rn. 30, 31). Rechtsfolgen, die notwendig in die Formel aufzunehmen sind, gelten als nicht verhängt oder als abgelehnt, wenn die verkündete Urteilsformel über sie schweigt (Stuckenberg a.a.O. Rn. 34). Eine nachträgliche Ergänzung der Formel im Wege der Berichtigung ist nur zur Korrektur offensichtlicher Verkündungsversehen in Ausnahmefällen möglich (Stuckenberg a.a.O.).

3. Die verkündete Urteilsformel ist als wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung gemäß § 274 StPO zu protokollieren (vgl. Bartel in KK-StPO, a.a.O. § 268 Rn. 3). Der authentische Wortlaut der Urteilsformel ergibt sich demgemäß aus der Sitzungsniederschrift (BGH, Beschluss vom 13. September 1991 – 3 StR 315/91 –, juris; BGH, Beschlüsse vom 9. Mai 2001 – 2 StR 42/01- und vom 6. Februar 2013 – 1 StR 529/12 Rn. 3 m.w.N., zitiert nach juris; BGH, Urteil vom 10. Oktober 2019 – 1 StR 632/18-, juris). Allein das Protokoll beweist nach § 274 Satz 1 StPO, welche Urteilsformel der Vorsitzende tatsächlich verkündet hat (BGH, Urteil vom 10. Oktober 2019 – 1 StR 632/18 –, juris Rn. 15), während es auf den Wortlaut der niedergelegten Urteilsformel nicht ankommt (Bartel in KK-StPO, a.a.O., § 268 Rn. 3; Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 268 Rn. 29). Die bloße schriftliche Niederlegung der Anordnung einer Sperrfrist könnte demnach eine unterbliebene Verkündung nicht ersetzen.

4. Nach dem Hauptverhandlungsprotokoll hat das Amtsgericht hier keine Anordnung einer Maßregel nach § 69a StGB verkündet.

a) Die Sitzungsniederschrift ist insoweit eindeutig, der Urteilstenor leidet für sich betrachtet nicht an offensichtlichen Mängeln, ist weder unklar, erkennbar lückenhaft oder widersprüchlich. Die vom Tatgericht niedergeschriebene Urteilsformel haben die beiden Urkundspersonen weder in das Protokoll eingefügt noch als Anlage zum Protokoll genommen (vgl. dazu OLG Köln, Urteil vom 7. November 2006 – 83 Ss 70/06 –, juris Rn. 27; Stuckenberg, a.a.O., Rn. 28, 29), so dass insoweit keine Widersprüchlichkeit innerhalb des Protokolls, die die Beweiskraft des Protokolls erschüttern könnte, vorliegt. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Aufnahme der §§ 69, 69a StGB in die angewandten Strafvorschriften. Denn die Liste der angewandten Vorschriften ist kein Bestandteil des Urteilstenors (BGH, Beschluss vom 18. Juli 2007 – 2 StR 280/07 –, juris; Tiemann in KK-StPO, a.a.O. § 260 Rn. 52). Sie ist weder zu verlesen noch sonst bekannt zu geben (BGH, Urteil vom 25. September 1996 – 3 StR 245/96 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 260 Rn. 51; Tiemann a.a.O.).

b) Eine förmliche Berichtigung des Protokolls (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 23. April 2007 – GSSt 1/06 –, BGHSt 51, 298-317 juris) ist nicht erfolgt. Keine der Urkundspersonen ist von der protokollierten Fassung abgerückt (vgl. dazu OLG Hamm, Urteil vom 14. August 1980 – 2 Ss 367/80 –, juris).

c) Der Senat hat daher die Beweiskraft des Protokolls zu beachten. Danach ist die Urteilsformel wie protokolliert verkündet worden. Das Amtsgericht hat in der Urteilsformel keine Anordnung einer Sperrfrist ausgesprochen.

5. Entgegen der Rechtsauffassung der Generalstaatsanwaltschaft liegt hier kein offensichtliches Verkündungs- oder Fassungsversehen vor.

a) Das Verschlechterungsverbot steht der Nachholung unterlassener Entscheidungen nicht in jedem Fall entgegen (vgl. Gericke a.a.O. § 358 Rn. 19).

b) Das Rechtsmittelgericht kann offensichtliche Versehen im Ausspruch des angefochtenen Urteils berichtigen. Nach der gefestigten Rechtsprechung sind „offensichtlich“ jedoch lediglich solche Fehler, die sich ohne weiteres aus der Urkunde selbst oder aus solchen Tatsachen ergeben, die für alle Verfahrensbeteiligten klar zu Tage treten und auch nur den entfernten Verdacht einer späteren sachlichen Änderung ausschließen. Es muss – auch ohne Berichtigung – eindeutig erkennbar sein, was das Gericht – zum Zeitpunkt der Verkündung – tatsächlich gewollt und entschieden hat (vgl. zur Berichtigung in der Revision BGH, Beschluss vom 5. Juni 2013 – 4 StR 77/13 –, juris Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 354 Rn. 33; Franke a.a.O. § 354 Rn. 47 ff.; Gericke a.a.O. § 354 Rn. 20 f.). Bei dieser Prüfung ist ein strenger Maßstab anzulegen, um zu verhindern, dass mit einer Berichtigung eine unzulässige nachträgliche Abänderung des Urteils einhergeht (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2017 – 2 StR 345/16 –, juris Rn. 17; BGH, Beschluss vom 20. Juni 2017 – 1 StR 113/17 –, juris Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 268 Rn. 10). Hinsichtlich der Frage einer möglichen Berichtigung der mündlich verkündeten Urteilsformel könnte auch die mündliche Urteilsbegründung Berücksichtigung finden (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. Rn. 10 m.w.N.). Grundsätzlich ist jedoch in Ansehung der überragenden Bedeutung der Urteilsformel, die – anders als die schriftlichen Urteilsgründe – bei Verkündung schriftlich vorliegen muss, bei einer Berichtigung der Urteilsformel Zurückhaltung geboten (BGH, Urteil vom 23. Oktober 1952 – 5 StR 480/52, BGHSt 3, 245, 247, juris; BGH, Urteil vom 8. November 2017 – 2 StR 542/16 –, juris Rn. 18).

c) Gemessen daran kann im vorliegenden Fall in der unterlassenen Verkündung einer Entscheidung über die Anordnung einer Sperre keine Unrichtigkeit erblickt werden, deren Offensichtlichkeit sich zwanglos aus Tatsachen ergeben würde, die für alle Verfahrensbeteiligten klar zu Tage liegen und die jeden Verdacht einer unzulässigen nachträglichen Änderung ausschließen. Die verkündete Urteilsformel selbst war in sich widerspruchsfrei und eindeutig. Für weitere aus dem Ablauf der Urteilsverkündung ergebende und für die Verfahrensbeteiligten klar zu Tage liegenden Tatsachen, die ein reines Versehen bei der Fassung des Tenors offenkundig machen könnten, ist hier nichts ersichtlich, insbesondere fehlen Anhaltspunkte, dass die mündliche Mitteilung der Entscheidungsgründe, die gemäß § 268 Abs. 2 StPO mit der Verlesung der Urteilsformel eine Einheit bildet, den Verfahrensbeteiligten ohne weiteres die Gewissheit über die Anordnung einer Sperre – etwa im Wege der mündlichen Erörterung der Sperrfrist – vermittelt hätte. Die spätere schriftliche Urteilsbegründung, die für die Verfahrensbeteiligten erkennbar Ausführungen zu einer Sperre enthält, reicht für sich allein nicht aus, um nachträglich die wahre Entscheidung des Amtsgerichts zum allein maßgeblichen Zeitpunkt der Urteilsverkündung aufzuzeigen (vgl. Stuckenberg a.a.O. Rn. 54; Franke a.a.O. § 354 Rn. 49). Wird eine bestimmte Rechtsfolge als Teil des Urteilsspruchs nicht verkündet, liegt kein offensichtliches Verkündungs- oder Fassungsversehen vor, das vom Revisionsgericht nachträglich richtig gestellt werden könnte (so auch BGH, Beschluss vom 10. Mai 1988 – 5 StR 47/88 –, juris ebenfalls zu einer versehentlich unterbliebenen Verkündung der Anordnung einer Sperre; vgl. auch BGH, Beschluss vom 28. Mai 1974 – 4 StR 633/73 –, BGHSt 25, 333-338 juris; im Ergebnis auch Franke a.a.O).

d) Der Umstand, dass die nach der Urteilsverkündung gefertigten schriftlichen Urteilsgründe des Amtsgerichts für sich genommen rechtlich einwandfreie Erwägungen enthalten, die die Festsetzung der nicht verkündeten Anordnung einer Sperrfrist rechtfertigen würden, vermag aufgrund des Widerspruchs von Tenor und Gründen an dem Ergebnis somit nichts mehr zu ändern.

6. Mangels Anordnung einer Maßregel in der ersten Instanz durfte das Landgericht auf die Berufung des Angeklagten hin nach § 331 Abs. 1 StPO keine Entscheidung zur isolierten Sperre treffen. Das in der Revision angefochtene Urteil ist somit entsprechend zu korrigieren…..“