Archiv für den Monat: März 2023

Nr. 4141 VV RVG nach abgesprochenem Strafbefehl?, oder: Nein, Burhoffs Argumentation ist „fragwürdig“

Smiley

Ich hatte Ende Januar über den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 16.01.2023 – 12 Qs 76/22 – berichtet. Ja, das ist/war der Gebührenbeschluss des LG Nürnberg-Fürth zum Anfall der Nr. 4141 VV RVG bei einem „abgesprochenen“ Strafbefehl (vgl. Nr. 4141 VV RVG nach abgesprochenem Strafbefehl?, oder: Planwidrige Regelungslücke ==> Analogie im RVG).

Mir war schon zu der Zeit klar: Ein so schöne – verteidigerfreundliche (und m.E. richtige) Entscheidung wird den Vertreter der Staatskasse nicht ruhen lassen und er wird die zugelassene weitere Beschwerde einlegen. Und das ist passiert. Wir sind ja schließlich auch in Bayern 🙂 .

Und inzwischen liegt dann die OLG-Entscheidung mit dem OLG Nürnberg, Beschl. v. 07.03.2023 – Ws 139/23. Und der beweist mal wieder: Es geht eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein OLG seine einmal gefasste Meinung aufgibt. So auch hier: Denn das OLG Nürnberg hat den LG Nürnberg-Beschluss aufgehoben und den Anfall der Nr. 4141 VV RVG unter Hinweis auf Rechtsprechung aus 2009 (!!) verneint. Mich wundert es nicht wirklich. Erst recht nicht für Bayern. Das OLG führt aus/meint:

„Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung (Beschluss vom 20.05.2009, 2 Ws 132/09 BeckRS 2009, 20314), fest, dass die zusätzliche Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG nicht anfällt, wenn der Verteidiger den Verurteilten dahingehend berät, ein den Rechtszug beendendes Urteil oder den erlassenen Strafbefehl hinzunehmen und nicht dagegen vorzugehen. Dabei ist es unerheblich, ob, wie vorliegend, von Anfang an übereinstimmend das Strafbefehlsverfahren gewählt wird oder die Staatsanwaltschaft zunächst Anklage erhoben hat und dann entweder durch Rücknahme der Anklage oder gemäß § 408a StPO zum Strafbefehlsverfahren übergegangen wird.

1, Gesetzlich geregelt ist in Nr. 4141 Anm. 1 S. 1 Nr. 3 VV RVG der Fall, dass durch die anwaltliche Mitwirkung eine Hauptverhandlung dadurch entbehrlich wird, dass sich das gerichtliche Verfahren durch rechtzeitige Rücknahme des Einspruchs gegen den Strafbefehl erledigt. Diese Fallgestaltung liegt nicht vor.

2. Zu der Fallgestaltung, dass nach Eröffnung des Hauptverfahrens und im Anschluss an einen Hauptverhandlungstermin nach § 408a StPO in das Strafbefehlsverfahren übergegangen, ein Strafbefehl erlassen und kein Einspruch gegen diesen eingelegt wurde, hat der Senat im Beschluss vom 20.05.2009 ausgeführt, dass Nr. 4141 Anm. 1 S. 1 Nr. 3 VV RVG nach seinem Wortlaut nur auf endgültig verfahrensbeendende Maßnahmen unter verfahrensfördernder anwaltlicher Mitwirkung gerichtet ist. Damit ist der dieser Entscheidung zu Grunde liegende Fall schon deshalb nicht mit der gesetzlich geregelten Fallgestaltung vergleichbar, weil der Angeklagte gegen den erlassenen Strafbefehl durch eine Einspruchseinlegung nach § 410 Abs.1 S. 1 StPO die Anberaumung einer Hauptverhandlung hätte erzwingen können. Es findet somit lediglich ein Übergang in eine andere Verfahrensart statt, ohne dass damit eine Erledigung des Verfahrens verbunden wäre.

In dem genannten Beschluss hat der Senat weiter ausgeführt, dass auch keine versehentliche Regelungslücke vorliegt, die Anlass für eine erweiternde Anwendung dieses Gebührentatbestandes geben würde. Die Möglichkeit, nach § 408a StPO nach Eröffnung des Hauptverfahrens in das Strafbefehlsverfahren überzugehen, besteht seit 1. April 1987. Daher muss davon ausgegangen werden, dass diese strafprozessuale Regelung zur Verfahrensvereinfachung dem Gesetzgeber bei Einführung des RVG, das am 01.07.2004 in Kraft getreten ist, bekannt war und gebührenrechtlich hätte berücksichtigt werden können, wenn dies gewollt gewesen wäre.

Dass der Gesetzgeber sich der Möglichkeit für differenzierte Regelungen bewusst war, zeigt ein Vergleich mit der für das Ordnungswidrigkeitenverfahren getroffenen Regelung der Mitwirkungs-gebühr in Nr. 5115 VV RVG. In Nr. 5115 Anm. 1 Nr. 5 VV RVG wird abweichend zu Nr. 4141 Anm. 1 S. 1 Nr. 3 VV RVG und der hierzu vergleichbaren Regelung in Nr. 5115 Anm. 1 Nr. 4 VV RVG, die jeweils auf eine endgültige Verfahrensbeendigung abstellen, die zusätzliche Gebühr auch dann gewährt, wenn der Verteidiger unter Verzicht auf eine Hauptverhandlung eine Entscheidung im Beschlussweg nach § 72 Abs. 1 Satz 1 OWiG ermöglicht, er mithin lediglich zu einer Verfahrensvereinfachung beiträgt. Ferner kommt nach Nr. 5115 Anm. 1 Nr. 3 VV RVG die zusätzliche Gebühr dann in Betracht, wenn ein Bußgeldbescheid nach Einspruch von der Verwaltungsbehörde zurückgenommen und gegen einen neuen Bußgeldbescheid kein Einspruch eingelegt wird. Diese Regelung legt zugrunde, dass die Verwaltungsbehörde aufgrund der Mitwirkung des Anwalts einen Bußgeldbescheid etwa aus formellen Gründen zurücknehmen muss, ein neuer Bußgeldbescheid jedoch mit besserer Begründung oder in einwandfreier Form gleichwohl ergehen kann und dann vom Betroffenen hingenommen wird (vgl. Hartmann, Kostengesetze, 35. Auflage 2005, Nr. 5115 VV RVG, Rn 6).

Von solchen weiteren Möglichkeiten für das Entstehen der zusätzlichen Gebühr hat der Gesetz-geber für das Strafverfahren jedoch gerade keinen Gebrauch gemacht, obwohl eine vergleichbare Regelung, dass eine zusätzliche Gebühr auch dann entsteht, wenn der Angeklagte nach Eröffnung des Hauptverfahrens unter Vermeidung einer (weiteren) Hauptverhandlung einen Strafbefehl akzeptiert und gegen diesen keinen Einspruch einlegt, durchaus möglich gewesen wäre.

3. Diese Ausführungen haben weiter Bestand und gelten auch für den vorliegenden Fall, dass von Anfang an übereinstimmend das Strafbefehlsverfahren gewählt und der Angeklagte gegen den Strafbefehl keinen Einspruch einlegt (vgl. Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, Teil 1: Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz — RVG) Anlage 1 (zu § 2 Abs. 2) Teil 4 Abschnitt 1 Unterabschnitt 5 VV RVG Nr.4141 — 4147 Rn. 23, beck-online). Auch bei dieser Fallgestaltung wird das Verfahren aufgrund der Mitwirkung des Verteidigers nicht unmittelbar beendet, sondern mündet im Strafbefehlsverfahren.

Zudem wurde durch das Zweite Kostenrechtsmodernisierungsgesetz vom 23.07.2013 der Gebührentatbestand von Nr. 4141 Anm. 1 VV RVG um Nr. 4 ergänzt, mit der die zusätzliche Gebühr auch dann entsteht, wenn der Angeklagte seinen Einspruch auf die Höhe der Tagessätze einer festgesetzten Geldstrafe beschränkt und das Gericht nach § 411 Abs. 1 S. 3 StPO ohne Haupt-verhandlung durch Beschluss entscheidet, wozu der Angeklagte und sein Verteidiger zugestimmt haben müssen. Auch in diese Änderung wurde die vorliegende Fallgestaltung nicht einbezogen, was ebenfalls gegen eine planwidrige Regelungslücke spricht.

Die Gegenansicht, dass auch in diesen Fällen eine Hauptverhandlung vermieden wird, sodass vom Sinn und Zweck der Nr. 4141 VV RVG ebenfalls eine entsprechende Anwendung der Vorschrift zu bejahen sei (Burhoff in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, Nr. 4141 VV Gebühr bei Entbehrlichkeit der Hauptverhandlung durch anwaltliche Mitwirkung, Rn. 61 m.w.N.; Gerold/Schmidt/Burhoff, 25. Aufl. 2021, RVG W 4141 Rn. 33) überzeugt aus den genannten Gründen nicht. Es erscheint fragwürdig, dass so im Wege der analogen Gesetzesanwendung ein Nichttätigwerden des Rechtsanwalts vergütet werden soll.

4. Dass die zusätzliche Gebühr nach Nr. 4141 Anm.1 S.1 Nr. 3 VV RVG anfallen würde, wenn der Angeklagte Einspruch gegen den einvernehmlich erlassenen Strafbefehl einlegen und später unter Mitwirkung des Rechtsanwalts zurücknehmen würde, ändert daran nichts.

Die Zusatzgebühr der Nummer 4141 VV RVG ist, nachdem dort ausdrücklich nur bestimmte Fallgestaltungen geregelt sind, keine Kompensationsgebühr für allgemeine Mühewaltung der Verteidigerin, die zu einer Vereinfachung des Verfahrens beiträgt. Die Beratung durch die Verteidigerin, ob gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt werden soll oder dieser akzeptiert wird, ist mit der Verfahrensgebühr abgegolten.“

Tja, muss man mit leben, auch wenn es schwer fällt. Zu der Problematik hier nur Folgendes:

1. Mich überzeugen die Ausführungen des OLG nicht. Die Nr. 4141 VV RVG ist – entgegen den Ausführungen des OLG – doch eine „Kompensationsgebühr“. Ergebnis dieser Rechtsprechung des OLG wird sein, dass nun eben Verfahren nicht „vereinfacht“ durch Strafbefehl erledigt werden. Verteidiger werden erst Einspruch gegen einen Strafbefehl einlegen (wollen), um den dann zurück zu nehmen und die Nr. 4141 Nr. 3 VV RVG abzurechnen. Schließlich geht die HV-Gebühr verloren. Ist dann eben so.

2. Ich kann nur die zuständigen Ausschüsse von DAV und BRAK bitten, dafür zu sorgen, dass in einem 3. KostRMoG oder einem KostRÄnG nun endlich mal solche Fragen, wie die hier entschiedene geklärt werden. Man sollte sich jetzt vielleicht endlich mal Teil 4 und 5 VV RVG vornehmen und dort Änderungen durchsetzen und nicht immer nur in Teil 2 und 3 VV RVG ändern. Ich weiß, dass das nicht einfach ist. Verteidiger haben keine Lobby.

3. Mich persönlich ärgert die Formulierung „fragwürdig“ in dem Beschluss in Zusammenhang mit der Bewertung meiner Argumentation. Dass ich „fragwürdig“ argumentiere, hat mir bisher noch niemand vorgehalten. Aber: OLG eben. Und: Es beruhigt mich ein wenig, dass dieses „fragwürdig“ dann aber auch nicht nur für mich gilt, sondern auch für die Strafkammer des LG Nürnberg-Fürth, die ebenso „fragwürdig“ argumentiert (hat). Ich befinde mich also in gute Gesellschaft.

Befangenheit III: Reicht Arzt-Patienten-Verhältnis?, oder: Reicht auch in „Nichtarzthaftungssachen“

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Die dritte Entscheidung stammt dann auch aus dem Zivilrecht, und zwar aus einem familiengerichtlichen Verfahren.

Gestritten wird im Unterhalt für ein aus einer außerehelichen Beziehung hervorgegangenes Kind. Der Antragsgegner ist Zahnarzt. Der Richter teilte am 11.11.2022 den Beteiligten mit, dass er selbst Patient beim Antragsgegner ist und forderte die Beteiligten zur Stellungnahme auf. Mit Schriftsatz vom 18.11.2022 erklärte die Antragstellervertreterin, dass sie beantrage, dass der Richter für befangen erklärt werde und die Zuständigkeit wechsle. Mit Vermerk vom 09.01.2023 leitete der Abteilungsrichter die Akte weiter zur Prüfung des Antrags „im Hinblick auf die bedenkliche Gemengelage im Hinblick auf das vertrauliche Arzt-Patient-Verhältnis“.

Das AG hat im AG Schwetzingen, Beschl. v. 23.01.2023 – 1 F 228/22 – die Besorgnis der Befangenheit bejaht:

„Auch inhaltlich ist die Ablehnung gerechtfertigt. Es liegt ein Grund vor, der im Sinne von § 113 Abs. 1 S. 1 FamFG iVm § 42 Abs. 2 ZPO geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen.

Dabei muss es sich um einen objektiven Grund handeln, der vom Standpunkt des Ablehnenden aus die Befürchtung erwecken kann, der Richter stehe der Sache nicht unvoreingenommen und damit nicht unparteiisch gegenüber. Dabei ist nicht entscheidend, ob der Richter tatsächlich befangen ist oder sich selbst befangen fühlt. Entscheidend ist, ob ein Prozessbeteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit eines Richters zu zweifeln (BGH, Beschluss vom 14. März 2003 – IXa ZB 27/03 –, Rn. 6, juris).

Das Arzt-Patient-Verhältnis zwischen dem Richter und dem Antragsgegner ist als eine persönliche und rechtliche Beziehung zu qualifizieren, welche im Ergebnis ausreichend ist, für einen objektiven Beobachter Anlass zu Zweifeln zu geben.

Die Rechtsprechung sieht die Besorgnis der Befangenheit beispielsweise in Arzthaftungsprozessen in der Regel als berechtigt, wenn der Richter selbst Patient des Arztes war oder ist (Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 12. Januar 2012 – 5 W 36/11; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Juni 2019 – 13 W 22/19; OLG Koblenz, Beschluss vom 15. Februar 2012 – 5 U 1011/11). Der Grund hierfür wird darin gesehen, dass zwischen dem Arzt und seinem Patienten immer ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, nicht nur in Einzelfällen (Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 12. Januar 2012 – 5 W 36/11 –, Rn. 6, juris). Dies sei nur bei einmaligen, lange zurückliegenden oder weniger bedeutenden Maßnahmen nicht der Fall (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Juni 2019 – 13 W 22/19, Rn. 15, juris). Außerdem sei es nicht abwegig, wenn ein Beteiligter befürchte, der Richter könne Angst haben, ein negativer Ausgang des Prozesses für den Arzt könnte seine zukünftige Behandlung beeinflussen (OLG Koblenz, Beschluss vom 15. Februar 2012 – 5 U 1011/11 –, Rn. 3, juris).

All diese Überlegungen sind nicht nur im Arzthaftungsprozess von Bedeutung, sondern auch in sonstigen Rechtsstreitigkeiten, zumindest solchen mit erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung. Für die Frage, ob zwischen dem Arzt und dem Richter ein besonderes Verhältnis besteht, ist es allenfalls am Rande erheblich, ob Gegenstand des Verfahrens die ärztliche Tätigkeit ist oder nicht. Die Tatsache, dass der Patient seine gesundheitlichen Belange dem Arzt anvertraut und sich mit diesen in die Hände des Arztes begibt, ist in jedem Fall gegeben. Ebenso ist die Befürchtung, der Richter könne Folgen für seine eigene Behandlung besorgen, im Unterhaltsverfahren nicht weniger berechtigt.

Daher kann auch außerhalb des Arzthaftungsprozesses davon ausgegangen werden, dass ein Arzt-Patienten-Verhältnis zwischen einem Verfahrensbeteiligten und dem Richter eine Besorgnis der Befangenheit regelmäßig begründet.

Aus den Umständen des Einzelfalles ergibt sich nichts anderes. Der Richter hat angegeben, dass er seit etlichen Jahren regelmäßig zu Untersuchungen und Zahnreinigung in die Praxis des Antragsgegners geht. Auch wurde über vertrauliche gesundheitliche Belange gesprochen. Es besteht also eindeutig ein Vertrauensverhältnis. Auch hat der Rechtstreit für den Antragsgegner erhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Die Unterhaltspflicht für ein Kind belastet ihn in erheblichem Umfang von langer Dauer.“

Befangenheit II: Vorbefassung der Ehefrau des Richters, oder: Teilnahme am „einstimmigen Beschluss“

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In der zweiten Entscheidung, dem BGH, Beschl. v. 09.02.2023 – I ZR 142/22 – geht es auch um die Besorgnis der Befangenheit, und zwar um die bei Vorbefassung der Ehefrau des Richters.

Ergangen ist der Beschluss in einem Zivilverfahren, in dem sich die Parteien um eine Provision streiten. Die Klage hatte beim LG Erfolg. Die Berufung des Beklagten wurden vom OLG nach entsprechendem Hinweis einstimmig zurückgewiesen. Der Beklagte hat Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH eingelegt. Dort ist aber einer der zuständigen Richter der Ehemann einer der Richterinnen, die an der OLG-Entscheidung beteiligt waren. Der BGH-Richter hat sich selbst abgelehnt. Die Parteien haben ihn ebenfalls wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Der BGH ist dem gefolgt:

„II. Die Selbstablehnung des Richters am Bundesgerichtshof Dr. L. und das gegen ihn gerichtete Ablehnungsgesuch der Klägerin sind begründet.

1. Nach § 42 Abs. 2 ZPO findet die Ablehnung eines Richters wegen der Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Tatsächliche Befangenheit oder Voreingenommenheit ist nicht erforderlich; es genügt schon der „böse Schein“, das heißt der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität (BVerfG, NJW 2012, 3228 [juris Rn. 13]). Entscheidend ist, ob ein Prozessbeteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit eines Richters zu zweifeln. Dabei kommen nur objektive Gründe in Betracht, die aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit oder der Unabhängigkeit des abgelehnten Richters aufkommen lassen (BGH, Beschluss vom 13. Januar 2016 – VII ZR 36/14, NJW 2016, 1022 [juris Rn. 9]; Beschluss vom 20. November 2017 – IX ZR 80/15, juris Rn. 3; Beschluss vom 21. Juni 2018 – I ZB 58/17, NJW 2019, 516 [juris Rn. 10]). Solche Zweifel können sich aus dem Verhalten des Richters innerhalb oder außerhalb des konkreten Rechtsstreits, aus einer besonderen Beziehung des Richters zum Gegenstand des Rechtsstreits oder zu Prozessbeteiligten (vgl. BGH, NJW 2019, 516 [juris Rn. 10] mwN) oder – wie vorliegend – aus nahen persönlichen Beziehungen zwischen an derselben Sache beteiligten Richtern ergeben.

2. Nach diesen Maßstäben sind aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters am Bundesgerichtshof Dr. L. gerechtfertigt.

a) Allerdings stellt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Mitwirkung des Ehegatten eines Rechtsmittelrichters an der angefochtenen Entscheidung keinen generellen Ablehnungsgrund gemäß § 42 Abs. 2 ZPO im Hinblick auf dessen Beteiligung an der Entscheidung im Rechtsmittelverfahren dar (BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2003 – II ZB 31/02, NJW 2004, 163 [juris Rn. 7]; Beschluss vom 17. März 2008 – II ZR 313/06, NJW 2008, 1672; vgl. auch BGH, Beschluss vom 26. August 2015 – III ZR 170/14, MDR 2016, 49 [juris Rn. 3]). Diese Auffassung hat der Bundesgerichtshof damit begründet, dass eine solche generalisierende, allein auf die Tatsache des ehelichen Verhältnisses abstellende Betrachtung im Ergebnis auf dem Umweg über § 42 ZPO zu einer unzulässigen Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 41 ZPO führen würde, da sie faktisch einem Ausschluss kraft Gesetzes gleichkäme (BGH, NJW 2004, 163 [juris Rn. 7]). Die Vorschrift des § 41 ZPO zähle die Ausschließungsgründe abschließend auf. Schon wegen der verfassungsmäßigen Forderung, den gesetzlichen Richter im voraus möglichst eindeutig zu bestimmen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), sei die Vorschrift einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich (BGH, NJW 2004, 163 [juris Rn. 6]). Diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat im Schrifttum Kritik erfahren (Feiber, NJW 2004, 650 f.; M. Vollkommer, EWiR 2004, 205, 206; Zöller/G. Vollkommer, ZPO, 34. Aufl., § 42 Rn. 13a mwN).

b) Vorliegend muss nicht entschieden werden, ob an dieser Rechtsprechung uneingeschränkt festgehalten werden kann. Jedenfalls liegt im Streitfall ein Grund vor, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit von Richter am Bundesgerichtshof Dr. L. zu rechtfertigen.

aa) Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass es den Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters begründen kann, wenn seine Ehefrau nicht lediglich als Mitglied eines Kollegialgerichts an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt, sondern diese als Einzelrichterin allein verantwortet hat. Denn aus Sicht der ablehnenden Partei kann die Alleinverantwortung der Ehefrau des abgelehnten Richters für das angefochtene Urteil zu einer Solidarisierungsneigung des abgelehnten Richters führen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Februar 2020 – III ZB 61/19, NJW-RR 2020, 633 [juris Rn. 13]). Letztere ist nicht in gleichem Maße zu erwarten, wenn der Ehegatte des abgelehnten Richters lediglich als Mitglied eines Kollegialgerichts an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat (vgl. BGH, NJW 2004, 163 [juris Rn. 8]; BGH, NJW-RR 2020, 633 [juris Rn. 13]; Fellner, MDR 2020, 777, 778).

bb) Im Streitfall hat die Ehefrau des Richters am Bundesgerichtshofs Dr. L. an einem die Berufung der Beklagten zurückweisenden Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO mitgewirkt, der nach der gesetzlichen Regelung nur einstimmig gefasst werden kann. Sie hat damit nicht allein als – möglicherweise überstimmtes – Mitglied eines Kollegiums, sondern infolge der Einstimmigkeit des gefassten Beschlusses in nach außen erkennbarer Weise die Verantwortung für die angefochtene Entscheidung mit übernommen. Dieser Fall ist nicht anders zu beurteilen als der Fall, dass der Ehegatte des abgelehnten Richters die angefochtene Entscheidung als Einzelrichter getroffen hat. Ein solcher Sachverhalt begründet ebenfalls die Besorgnis, dass der abgelehnte Richter der Sache nicht unvoreingenommen gegenübersteht.

cc) Da nach § 42 Abs. 3 ZPO das Ablehnungsrecht in jedem Fall beiden Parteien zusteht, steht dem Erfolg des Ablehnungsgesuchs der Klägerin nicht entgegen, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts zu ihren Gunsten ausgefallen ist. Die Klägerin hat dennoch Veranlassung, Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters am Bundesgerichtshof Dr. L. zu hegen. Auch wenn es näher liegen mag, dass die in der Vorinstanz unterlegene Beklagte eine Solidarisierung des abgelehnten Richters mit seiner Ehefrau befürchtet (vgl. BGH, NJW-RR 2020, 633 [juris Rn. 13]), kann auch die Klägerin die nachvollziehbare Besorgnis hegen, dass der abgelehnte Richter in dem Bestreben, seine Unvoreingenommenheit in dieser Sache zu zeigen, geneigt sein könnte, dem Begehren der Beklagten näherzutreten.

c) Eine Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBl. I S. 661) ist nicht veranlasst. Eine Abweichung gemäß § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist nicht gegeben, wenn die Rechtsauffassungen zwar nicht voll übereinstimmen, aber zum selben Ergebnis führen (BGH, Beschluss vom 6. Mai 1999 – V ZB 1/99, BGHZ 141, 351 [juris Rn. 20] mwN). So liegt es hier.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts stellt die Ehe zwischen einer an einem Revisionsgericht tätigen Richterin und einem Richter, der an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, „angesichts der Komplexität der Verfahren und der Intensität, mit der sich die für die Entscheidung zuständigen Richter mit dem vorinstanzlichen Urteil auseinandersetzen“, einen Grund dar, die Besorgnis der Befangenheit der Richterin, deren Ehepartner an der vorinstanzlichen Entscheidung mitgewirkt hat, zu rechtfertigen (BSG, Beschluss vom 18. März 2013 – B 14 AS 70/12 R, BeckRS 2013, 68558 Rn. 7). Nach dieser Rechtsprechung, die maßgeblich auf die Tätigkeit der abgelehnten Richterin oder des abgelehnten Richters an einem der obersten Gerichtshöfe des Bundes abstellt, wäre das Ablehnungsgesuch gegen den Richter am Bundesgerichtshof Dr. L. ebenfalls begründet.“

Befangenheit I: Vorbefassung im Cum-Ex-Strafprozess, oder: Das Recht auf den gesetzlichen Richter

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Heute dann ein „Befangenheitstag“, und zwar mit drei Entscheidungen zur Besorgnis der Befangenheit. Die vorgestellten Entscheidungen stammen zwar nicht alle aus einem Strafverfahren, aber die in den Entscheidungen angestellten Überlegungen können auch da von Bedeutung sein.

Zunächst verweise ich auf die „Cum-Ex-Entscheidung“ des BVerfG. Das hat im BVerfG, Beschl. v. 27.01.2023 – 2 BvR 1122/22 – über die Verfassungsbeschwerde eines ehemaligen Cum-Ex-Mitarbeiters entschieden, der gegen ein Urteil des LG Bonn und die Revisionsentscheidung des BGH Verfassungsbeschwerde eingelegt und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt hatte. Der Verurteilte hatte mit seiner Verfassungsbeschwerde gerügt, dass in seinem Verfahren zwei Richter zuvor an einem anderen Cum-Ex-Urteil gegen zwei Börsenhändler beteiligt waren, und sich die Urteilsgründe in dem Verfahren auch zu seiner Rolle als Haupttäter verhielten. Im dem war u.a. ausgefüht, der Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerde habe gemeinschaftlich mit weiteren Personen vorsätzlich rechtswidrige Steuerstraftaten begangen, zu denen einer der beiden Börsenhändler Hilfe geleistet habe. An dme Urteil waren der Vorsitzende und der Berichterstatter beteiligt gewesen. Der Angeklagte hatte sie deshalb wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehtn. Das LG hatte das Ablehnungsgesuch zurückgewiesen und den Angeklagten verurteilt. Der BGH hatte die Revision verworfen.

Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die keinen Erfolg hatte. Das BVerfG sieht das Recht auf den gesetzlichen Recht nicht verletzt. Es referiert u.a. die Rechtsprechung des EGMR zur sog. Vorbefassung und führt dann aus:

„2. Gemessen an diesen Maßstäben wurde dem Beschwerdeführer der gesetzliche Richter nicht im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen. Die angegriffenen Entscheidungen entsprechen der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Befangenheit wegen Vorbefassung (a), die weder verfassungsrechtlichen (b) noch konventionsrechtlichen (c) Bedenken begegnet. Soweit der Bundesgerichtshof – der Argumentation des Generalbundesanwalts folgend (vgl. BVerfGK 5, 269 <285 f.>) – im konkreten Fall die Verwerfung des Befangenheitsgesuchs gegen den Vorsitzenden der Strafkammer revisionsrechtlich nicht beanstandet hat, scheidet ein den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzender Entzug des gesetzlichen Richters aus (d).

a) Eine Vortätigkeit des erkennenden Richters, die den Verfahrensgegenstand betrifft, zieht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weder automatisch die Ausschließung des Richters von der Ausübung des Richteramts im weiteren Verfahren nach sich (aa) noch begründet sie zwangsläufig die Besorgnis der Befangenheit (bb).

aa) Nach der Konzeption des Strafverfahrensrechts ist der erkennende Richter wegen einer Vortätigkeit, die den Verfahrensgegenstand betrifft, nicht automatisch, sondern nur ausnahmsweise von der Mitwirkung im weiteren Verfahren ausgeschlossen. Dass einer der gesetzlichen Ausschlussgründe greift, macht der Beschwerdeführer hier weder geltend, noch ist eine solche Konstellation aus sich heraus ersichtlich. Soweit der Beschwerdeführer im Revisionsverfahren auf den Ausschlussgrund des § 22 Nr. 5 StPO abgestellt hat, verfolgt er diese Verfahrensbeanstandung mit der Verfassungsbeschwerde ausdrücklich nicht mehr weiter.

bb) Da die Ausschlussgründe in der Strafprozessordnung die Frage der Vorbefassung abschließend regeln, ist die Vorbefassung eines Richters in anderen Verfahrenskonstellationen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 24 Abs. 2 StPO zu begründen; es müssen besondere Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen (stRspr; vgl. BGH, Beschluss des 5. Strafsenats vom 10. August 2005 – 5 StR 180/05 -, BGHSt 50, 216 <221 f.>; Urteil des 2. Strafsenats vom 30. Juni 2010 – 2 StR 455/09 -, NStZ 2011, S. 44 <46 Rn. 23>; Beschluss des 3. Strafsenats vom 10. Januar 2012 – 3 StR 400/11 -, NStZ 2012, S. 519 <520 Rn. 19>; Urteil des 1. Strafsenats vom 15. Mai 2018 – 1 StR 159/17 -, Rn. 56; Beschluss des 3. Strafsenats vom 18. Mai 2022 – 3 StR 181/21 -, Rn. 48; Beschluss des 5. Strafsenats vom 7. Juni 2022 – 5 StR 460/21 -, NStZ-RR 2022, 288 <289>). Das gilt nicht nur bei Vorbefassung mit Zwischenentscheidungen im selben Verfahren, etwa bei der Mitwirkung am Eröffnungsbeschluss oder an Haftentscheidungen, sondern auch bei der Mitwirkung eines erkennenden Richters in Verfahren gegen andere Beteiligte desselben Lebenssachverhalts (vgl. BGH, Beschluss des 3. Strafsenats vom 18. Mai 2022 – 3 StR 181/21 -, Rn. 48).

b) Diese Rechtsprechung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das deutsche Verfahrensrecht ist von der Auffassung beherrscht, ein Richter könne auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantreten, wenn er sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet habe (vgl. BVerfGE 30, 149 <153 f.>). Es bedarf deshalb besonderer Umstände, um aus der Vorbefassung eines Richters auf dessen fehlende Neutralität zu schließen. Nur wenn ein diese Umstände aufgreifendes Befangenheitsgesuch willkürlich zu Unrecht abgelehnt wird, ist dem Angeklagten der gesetzliche Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen (vgl. BVerfGK 9, 282 <286>).

c) Diese Maßstäbe stehen im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, die als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen ist (vgl. BVerfGE 111, 307 <317 f.>; 128, 326 <366 ff.>; 148, 296 <351 Rn. 128>; 149, 293 <328 Rn. 86>; 158, 1 <36 Rn. 70>), wenngleich eine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht verlangt ist (vgl. BVerfGE 128, 326 <366, 392 f.>; 156, 354 <397 Rn. 122>). Bei der Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention sind die Leitentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, auch wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen, denn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zu (vgl. BVerfGE 111, 307 <320>; 128, 326 <368>; 148, 296 <351 f. Rn. 129>). Die Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe gemäß Art. 1 Abs. 2 GG über den Einzelfall hinaus dient dazu, den Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland möglichst umfassend Geltung zu verschaffen, und kann darüber hinaus helfen, Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu vermeiden (vgl. BVerfGE 128, 326 <369>; 148, 296 <352 f. Rn. 130>).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verortet die Unparteilichkeit des zur Entscheidung berufenen Richters im Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und sieht sie als dessen unverzichtbarer Bestandteil an (stRspr; vgl. EGMR, Schwarzenberger v. Germany, Urteil vom 10. August 2006, Nr. 75737/01, § 38; Bezek v. Germany, Entscheidung vom 21. April 2015, Nr. 4211/12 und 5850/12, § 31; Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, §§ 42 ff., NJW 2021, S. 2947 <2948 ff.>). Er prüft nicht nur anhand subjektiver Kriterien ausgehend von der persönlichen Überzeugung und dem Verhalten eines bestimmten Richters in einer bestimmten Rechtssache, ob Unparteilichkeit im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK gegeben ist. Er stellt auch auf objektive Kriterien ab und prüft, ob der Richter hinreichend Gewähr dafür geboten hat, dass alle berechtigten Zweifel insoweit auszuschließen sind (stRspr; vgl. EGMR, Schwarzenberger v. Germany, Urteil vom 10. August 2006, Nr. 75737/01, § 38; Kriegisch v. Germany, Entscheidung vom 23. November 2010, Nr. 21698/06, NJW 2011, S. 3633 <3634>; Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 44, NJW 2021, S. 2947 <2948>).

Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte genügt allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche, aber selbständige Tatvorwürfe entschieden oder in einem gesonderten Strafverfahren gegen einen Mitangeklagten verhandelt hat, nicht, um Zweifel an der Unparteilichkeit dieses Richters in einem nachfolgenden Fall zu begründen (stRspr; vgl. EGMR, Schwarzenberger v. Germany, Urteil vom 10. August 2006, Nr. 75737/01, § 42; Kriegisch v. Germany, Entscheidung vom 23. November 2010, Nr. 21698/06, NJW 2011, S. 3633 <3634>; Bezek v. Germany, Entscheidung vom 21. April 2015, Nr. 4211/12 und 5850/12, § 32 f.; Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 47, NJW 2021, S. 2947 <2948>; Mucha v. Slovakia, Urteil vom 25. November 2021, Nr. 63703/19, § 49). Hat allerdings ein Gericht in einem früheren Urteil ohne rechtliche Notwendigkeit die Rolle des später Angeklagten derart detailliert beurteilt, dass das frühere Urteil so zu verstehen ist, das Gericht habe hinsichtlich des später Angeklagten alle für die Erfüllung eines Straftatbestands erforderlichen Kriterien als erfüllt angesehen, können nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte objektive Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Gerichts bestehen (stRspr; vgl. EGMR, Kriegisch v. Germany, Entscheidung vom 23. November 2010, Nr. 21698/06, NJW 2011, S. 3633 <3634>; Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 48, NJW 2021, S. 2947 <2949>). Er hält solche Zweifel insbesondere dann für möglich, wenn ein innerstaatliches Gericht nicht nur die Tatsachen beschrieben hat, die einen später angeklagten Täter betreffen, sondern darüber hinaus dessen Verhalten, ohne dass dazu eine Notwendigkeit bestanden hätte, rechtlich bewertet hat (vgl. EGMR, Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 48, NJW 2021, S. 2947 <2949>).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt ferner an, dass es in komplexen Strafverfahren mit mehreren Beteiligten, die nicht in einem Verfahren gleichzeitig abgeurteilt werden können, für die Beurteilung der Schuld der abzuurteilenden Personen unerlässlich sein kann, dass das Strafgericht auf die Beteiligung Dritter Bezug nimmt, gegen die später womöglich ein gesondertes Verfahren geführt wird (vgl. EGMR, Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 47, NJW 2021, S. 2947 <2948>; Mucha v. Slovakia, Urteil vom 25. November 2021, Nr. 63703/19, § 58; vgl. mit Blick auf Art. 6 Abs. 2 EMRK auch EGMR, Karaman v. Germany, Urteil vom 27. Februar 2014, Nr. 17103/10, § 64). Ausdrücklich hat er betont, dass Strafgerichte auch in solchen Konstellationen den für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten maßgeblichen Sachverhalt so genau und präzise wie möglich feststellen müssen und entscheidende Tatsachen – einschließlich solcher mit Bezug auf die Beteiligung Dritter – nicht als reine Behauptungen oder Vermutungen darstellen dürfen (vgl. EGMR, Mucha v. Slovakia, Urteil vom 25. November 2021, Nr. 63703/19, § 58; Karaman v. Germany, Urteil vom 27. Februar 2014, Nr. 17103/10, § 64). Er bezieht in seine Prüfung auch ein, ob und inwieweit in dem ersten Verfahren die Schuld des Beschwerdeführers bewertet wurde (vgl. EGMR, Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 49, NJW 2021, S. 2947 <2949>). Die Besorgnis, der Richter sei nicht unvoreingenommen gewesen, hält er für unbegründet, wenn das später entscheidende Gericht aufgezeigt hat, dass es in dem zweiten Verfahren eine neue Beweiswürdigung vorgenommen hat, insbesondere, wenn sich aus dem Urteil in der späteren Rechtssache ergibt, dass die abschließende Bewertung auf Grundlage der in neuen Verfahren vorgelegten Beweismittel und gehörten Argumente vorgenommen wurde (vgl. EGMR, Kriegisch v. Germany, Entscheidung vom 23. November 2010, Nr. 21698/06, NJW 2011, S. 3633 <3634>; Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 50, NJW 2021, S. 2947 <2949>).

d) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers verworfen hat. Auch unter Berücksichtigung der Gewährleistungsgehalte des Art. 6 Abs. 1 und 2 EMRK scheidet ein den Beschwerdeführer in seinem Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzender Entzug des gesetzlichen Richters aus.

aa) Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist nichts dagegen zu erinnern, dass die zuständige Kammer der Auffassung war, in dem vorliegenden komplexen Strafverfahren die Beteiligten nicht in einem Verfahren gleichzeitig aburteilen zu können. Schon die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urteile zeigen auf, dass an Geschäften aus dem Cum-Ex-Komplex eine Vielzahl von Beschäftigten unterschiedlicher Banken in unterschiedlicher Zusammensetzung und in unterschiedlichen Fallkonstellationen beteiligt waren. Ein einziger Prozess, der sich gegen alle diese Personen richtete, hätte insbesondere Beteiligte mit untergeordneten Tatbeiträgen über Gebühr mit einem langen Strafverfahren belastet und wäre mit dem Beschleunigungsgebot nicht zu vereinbaren gewesen. Der Einwand des Beschwerdeführers, das Gericht hätte für den ersten Prozess gegen Personen, deren Tatbeiträge als Beihilfe im Sinne des § 27 Abs. 1 StGB eingeordnet worden sind, prüfen müssen, ob abzuwarten sei, bis auch die Verfahren gegen die beteiligungsrechtlich als (Haupt-)Täter einzuordnenden Personen zur Anklage gelangt waren, greift daher schon deshalb nicht durch.

bb) Die Argumentation des Generalbundesanwalts, dessen begründetem Verwerfungsantrag das Revisionsgericht gefolgt ist (vgl. BVerfGK 5, 269 <285 f.>), es sei unerlässlich gewesen, die Tatbeiträge des Beschwerdeführers im früheren ersten Cum-Ex-Prozess festzustellen und rechtlich zu würdigen, begegnet vor dem Hintergrund der Gewährleistungen der Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 6 Abs. 1 und 2 EMRK ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen oder konventionsrechtlichen Bedenken.

(1) Mit dem Landgericht ist zum Ausgangspunkt zu nehmen, dass die Angeklagten des früheren Verfahrens unter anderem wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung angeklagt und verurteilt wurden. In diesem Verfahren gegen die Börsenhändler konnte auf Feststellungen zum Vorliegen einer vorsätzlichen rechtswidrigen Haupttat und damit zum Tatbeitrag des Beschwerdeführers nicht verzichtet werden. Vielmehr musste das Tatgericht seiner Pflicht nachkommen, den für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der damals Angeklagten maßgeblichen Sachverhalt so genau und präzise wie möglich festzustellen und entscheidende Tatsachen – auch solche mit Bezug auf die Beteiligung Dritter – nicht als reine Behauptungen oder Vermutungen darzustellen (vgl. EGMR, Mucha v. Slovakia, Urteil vom 25. November 2021, Nr. 63703/19, § 58; Karaman v. Germany, Urteil vom 27. Februar 2014, Nr. 17103/10, § 64).

(2) Bei der Feststellung, dass einer der früheren Angeklagten dem Beschwerdeführer zu dessen vorsätzlicher und rechtswidriger Steuerhinterziehung Hilfe geleistet hat, hat sich das Landgericht – konventionsrechtliche Anforderungen beachtend (vgl. EGMR, Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 49, NJW 2021, S. 2947 <2949>) – der Aussage enthalten, ob der Beschwerdeführer schuldhaft gehandelt hat. Es hat berücksichtigt, dass schuldhaftes Handeln des (Haupt-)Täters – anders als ein tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Handeln – gemäß dem in § 27 Abs. 1 StGB verankerten Grundsatz der limitierten Akzessorietät der Teilnahme keine Voraussetzung für eine Strafbarkeit des Gehilfen ist.

(3) Der Hinweis des Beschwerdeführers darauf, wie häufig sein Name in dem vorangegangenen Strafurteil aus dem Cum-Ex-Komplex genannt worden ist, ist bereits angesichts der Länge des betreffenden Urteils nicht aussagekräftig. Soweit der Beschwerdeführer auf Stellen verweist, in denen das Gericht nach seiner Auffassung im früheren Urteil zu seiner Schuld ausgeführt hat, ist dies den aufgelisteten Passagen nicht zu entnehmen, da sich das Gericht dort zwar mit der – im Verfahren gegen die Gehilfen zwingend festzustellenden – inneren Tatseite des Beschwerdeführers auseinandergesetzt hat, nicht aber mit dessen Schuld.

(4) Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers hätte auf die Aufklärung seiner Rolle im Cum-Ex-Komplex in dem vorangegangenen Strafverfahren auch nicht deshalb verzichtet werden können, weil außer ihm ein weiterer Tatbeteiligter die entsprechenden Steuererklärungen unterzeichnet und daher ebenfalls eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat begangen hat. Dem steht bereits entgegen, dass auf diese Weise jeder Haupttäter die Darstellung seiner Tatbeiträge mit Verweis auf weitere Täter für verzichtbar erklären könnte, so dass das Gericht im Ergebnis überhaupt kein Täterhandeln mehr beschreiben dürfte. Dies geriete mit dem Umstand in Konflikt, dass für das Gehilfenhandeln festzustellen ist, welche vorsätzliche und rechtswidrige Tat eines Haupttäters gefördert worden ist.

(5) Eine verfassungsrechtlich zu beanstandende Vorbefassung der erkennenden Richter lässt sich ferner nicht daraus ableiten, dass das Landgericht im Urteil gegen die Börsenhändler die vorsätzliche rechtswidrige Haupttat nicht allgemeiner umschrieben und die Person des Haupttäters offengelassen hat. Zwar erkennt der Beschwerdeführer im Ansatz zutreffend, dass die Verurteilung eines Gehilfen grundsätzlich auch dann möglich ist, wenn die Identität des Haupttäters unbekannt bleibt. Bei dem hier zu beurteilenden Verfahren war aber gerade die Identität der Haupttäter, insbesondere deren berufliche Stellung und ihre Kenntnisse im Steuerrecht, maßgeblich für die – im Verfahren gegen die Gehilfen zwingend vorzunehmende – Bewertung der inneren Tatseite der Haupttäter.

(6) Auch die aus Sicht des Beschwerdeführers zurückhaltende Bewertung der Rolle eines möglichen weiteren Haupttäters in den Gründen des ihn betreffenden Urteils lässt nicht darauf schließen, dass die Ausführungen des Gerichts zum Handeln des Beschwerdeführers im Urteil gegen die als Teilnehmer verurteilten Börsenhändler über das erforderliche Maß hinausgegangen sind. Nach den Feststellungen des Landgerichts verwirklichte der Beschwerdeführer alle Merkmale der Steuerhinterziehung eigenhändig als Täter, indem er die entsprechenden Steuererklärungen unterzeichnete. Auf die Handlungen möglicher Mittäter kam es daher in diesem Zusammenhang nicht entscheidend an.

cc) Der mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rüge, der Hinweis des Vorsitzenden auf seine Erinnerung an die Vernehmung eines Zeugen im früheren Verfahren begründe besondere Umstände, die die Besorgnis der Befangenheit wegen Vorbefassung rechtfertigten, ist ebenfalls der Erfolg zu versagen. Der Beschwerdeführer verkennt den anzuwendenden Prüfungsmaßstab, wenn er im Ergebnis eine Neubewertung der für und gegen eine Befangenheit sprechenden Umstände erreichen möchte. Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts ist nicht die Befangenheit eines Richters als solche, sondern – unter Anlegung des Willkürmaßstabs (vgl. oben Rn. 25) – die Frage, ob die angegriffenen Entscheidungen über einen Befangenheitsantrag des Beschwerdeführers und die Überprüfung dieser Entscheidung durch das Revisionsgericht im Einklang mit den Gewährleistungen der Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK stehen.“

Ich denke, wir werden dazu noch etwas vom EGMR hören.

Pflichti III: Bestellung in der Strafvollstreckung, oder: Bestellung im Bußgeldverfahren

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Und dann zum Schluss noch zwei Entscheidungen zu den Beiordungsgründen. Beide Entscheidungen betreffen nicht das „normale“ Erkenntnisverfahren, sondern einmal das Bußgeldverfahren und einmal die Strafvollstreckung, und zwar:

Liegt bei dem Verurteilten eine leichte Intelligenzminderung vor und ist ein Sachverständigengutachten zur Gefährlichkeit des Verurteilten erstattet, ist ihm im Strafvollstreckungsverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen.

Dem Betroffenen ist auch im Bußgeldverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn die konkreten Umstände des Einzelfalls das erfordern. Das ist ausnahmsweise dann der Fall, wenn bereits eine erste Verurteilung des Betroffenen ist auf seine Rechtsbeschwerde vom OLG hin aufgehoben worden ist und die durchzuführende Hauptverhandlung sich maßgeblich an den Ausführungen des OLG zu orientieren hat, wobei die insoweit gebotene Auseinandersetzung mit den optischen Fehlerquellen einer Messung namentlich unter Berücksichtigung der Sichtverhältnisse und die juristische Bewertung der Messmethode von einem juristischen Laien nicht erwartet werden kann.