Archiv für den Monat: Juli 2022

Darlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse bei PKH, oder: Nicht vergessen, denn der BGH erinnert nicht

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Heute Gebührenfreitag mit zwei kurzen/zackigen Entscheidungen.

Zunächst kommt hier der BGH, Beschl. v. 04.05.2022 – 3 StR 55/22 – zum PKH-Antrag im Adhäsionsverfahren. In einem Verfahren mit dem Vorwurf des Totschlags hatte die Tochter der durch die Tat Getöteten und in erster Instanz als solche zugelassene Nebenklägerin in der Tatsacheninstanz beim LG im Wege der Adhäsion einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld geltend gemacht. Sie hat dann beantragt, ihr im Adhäsionsverfahren für die Rechtsmittelinstanz Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Rechtsanwalts zu bewilligen. Der BGG hat den Antrag abgelehnt:

„Im Adhäsionsverfahren ist über den Prozesskostenhilfeantrag von Nebenklägern für die jeweilige Instanz gesondert zu entscheiden (§ 404 Abs. 5 Satz 1 StPO i.V.m. § 119 Abs. 1 Satz 1 ZPO; vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Juni 2019 – 3 StR 547/18, juris Rn. 2; vom 30. Oktober 2018 – 3 StR 324/18, juris Rn. 2). Dies erfordert in jeder Instanz erneut die Prüfung und deshalb die Darlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragsstellers, der sich insoweit grundsätzlich des vorgeschriebenen Vordrucks gemäß § 117 Abs. 4 ZPO zu bedienen hat. Eine derartige Erklärung zu ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen hat die Nebenklägerin jedoch weder in der Tatsachen- noch in der Rechtsmittelinstanz abgegeben; auch ansonsten hat sie hierzu nichts vorgetragen.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe löst auch keine Verpflichtung des Revisionsgerichts aus, die – aktuellen – wirtschaftlichen Verhältnisse zu ermitteln (BGH, Beschlüsse vom 6. Februar 2018 – 5 StR 347/17, juris Rn. 1; vom 5. September 2017 – 5 StR 271/17, juris Rn. 1). Das Erfordernis der Darlegung ergibt sich aus dem Gesetz; eines Hinweises auf diese Sachlage und eines Zuwartens mit der Entscheidung hat es somit nicht bedurft (BGH, Beschluss vom 6. Februar 2018 – 5 StR 347/17, juris Rn. 1).“

Sollte man als Nebenklägervertreter auf dem Schirm haben.

StGB III: Zur Beleidigung eines Polizeibeamten, oder: „Du Opfer.“

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Und als dritte Entscheidung aus dem Kompelx „StGB“ stelle ich den KG, Beschl. v. 11.02.2022 – (3) 121 Ss 170/21 (62/21) vor. Das KG nimmt umfangreich zu Bewährungsfragen Stellung, insoweit komme ich auf die Entscheidung noch mal zurück. Heute geht es um Ausführungen des KG zur Frage der Beleidigung eines Polizeibeamten.

Das AG hat den Angeklagten u.a. wegen Beleidigung (§ 185 StGB) verurteilt. Diese Veruretilung hat beim KG „gehalten“. Der Angeklagte hatte u.a. geltend gemacht, dass die Bezeichnung eines Polizeibeamten als „Opfer“ nicht den Tatbestand der Beleidigung erfülle. Das sieht das KG anders:

„1. Die Feststellungen tragen den Schuldspruch, insbesondere auch die Feststellungen zu der Tat vom 25. September 2020 im Hinblick auf den Schuldspruch der Beleidigung gemäß § 185 StGB.

Die Beleidigung setzt einen rechtswidrigen Angriff auf die Ehre einer anderen Person durch vorsätzliche Kundgabe der Missachtung voraus (BGHSt 1, 288).

Das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte am 25. September 2020 den Kontaktbereichsbeamten PK A im Rahmen der Ahndung einer Verkehrsordnungswidrigkeit als „Opfer“, „Schwanzlutscher“ und „Hurensohn“ beschimpft habe (UA S. 4).

Soweit der Revisionsführer beanstandet, die von ihm getätigte Bezeichnung des Polizeibeamten als „Opfer“ sei nicht als Beleidigung, sondern als bloße Meinungsäußerung zu werten, kann er damit nicht durchdringen.

Selbst wenn der Begriff „Opfer“ in der juristischen Fachsprache eine neutrale und in der Jugendsprache eine scherzhafte Bedeutung hat bzw. haben kann (vgl. Pohlreich, JA 2020, 744), so ist der Äußerungsinhalt unter Berücksichtigung der Begleitumstände (vgl. Fischer, StGB 69. Aufl., § 185 Rn. 8) – hier die Äußerung eines Bürgers gegenüber einem Polizeibeamten im Rahmen der Ahndung einer Verkehrsordnungswidrigkeit – als tatbestandsrelevante Kundgabe der Miss- und Nichtachtung zu interpretieren. Dies gilt umso mehr, als der Angeklagte neben der Bezeichnung „Opfer“ zugleich die Beschimpfungen „Schwanzlutscher“ und „Hurensohn“ geäußert hat.“

StGB II: Vermummungsverbot bei einer Versammlung, oder: Vermummung zum Selbstschutz?

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Als zweite Entscheidung stelle ich das OLG Karlsruhe, Urt. v. 30.06.2022 – 2 Rv 34 Ss 789/21 – vor. Es nimmt zur Reichweite des versammlungsrechtlichen Vermummungsverbots Stellung.

Das AG hatte den Angeklagten wegen Verstoßes gegen das versammlungsrechtliche Vermummungsverbot zu einer Geldstrafe verurteilt. Auf die Berufung des Angeklagten sprach das LG den Angeklagten frei gesprochen, weil es zum einen nicht ausschließen zu können meinte, die vermummende Aufmachung sei den Wetterbedingungen geschuldet gewesen, zum anderen dem Urteilsspruch zugrundelegte, dass eine Vermummung, die nicht auf die Verhinderung der Identifizierung durch die Ordnungsbehörden, sondern durch Dritte gerichtet sei, nicht gegen § 17a Abs. 2 Nr. 1 VersG verstoße.

Die Revision der StA hatte Erfolg. Das OLG sieht die Urteilsgründe als lückenhaft an und führt weiter aus:

„3. Schließlich vermag sich der Senat auch nicht der den Freispruch weiter tragenden einschränkenden Auslegung von § 17a Abs. 2 Nr. 1 VersG anzuschließen.

a) Wie das Kammergericht (Urteil vom 7.10.2008 – (4) 1 Ss 486/07 = StV 2010, 637 und Beschluss vom 11.12.2012 – (4) 161 Ss 198/12 (310/12) = NStZ 2013, 178) und das Oberlandesgericht Dresden (Beschluss vom 23.9.2013 – 2 OLG 21 Ss 693/13, juris) – ebenso OLG Zweibrücken, Beschluss vom 19.1.2021 – 1 OLG 2 Ss 87/20 = NStZ 2022, 243 – unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik überzeugend dargelegt haben, ist § 17a Abs. 2 Nr. 1 VersG vom Gesetzgeber bewusst als abstraktes Gefährdungsdelikt ausgestaltet worden, weil das Auftreten Vermummter die Bereitschaft zur Gewalt und zur Begehung von Straftaten indiziere und provoziere, Vermummte bei einer Demonstration regelmäßig den Kern der Gewalttäter stellten und diejenigen Demonstrationsteilnehmer, die ohnehin zur Anwendung von Gewalt neigten, in ihrer Gewaltbereitschaft bestärkten (BT-Drs. 11/4359 S. 14). Eine einschränkende Auslegung, wonach eine lediglich aus Gründen des Selbstschutzes erfolgte Vermummung als nicht tatbestandsmäßig anzusehen sei (LG Hannover StV 2010, 640; AG Tiergarten, Urteils vom 21.4.2005 – 256 Cs 81 Js 1217/04, juris; AG Rotenburg a.d. Wümme, Urteil vom 12.7.2005 – 7 Cs 523 Js 23546/04, juris; AG Wuppertal, Beschluss vom 2.12.2015 – 25 Ds 521 Js 17/15, juris; Deutscher Bundestag Wissenschaftliche Dienste, Das versammlungsrechtliche Vermummungsverbot, 2018 – WD 3 – 3000 – 313/18 S. 6; Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, § 17a VersG Rn. 6; Lembke in Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl., § 17a VersG Rn. 62; Güven NStZ 2012, 425; dagegen MK-Tölle, StGB, 4. Aufl., § 17a VersG Rn. 30), ist damit nicht vereinbar. Vielmehr sind solche Fallgestaltungen der Anlass für den Gesetzgeber gewesen, in § 17a Abs. 3 Satz 2 VersG eine Befreiung vom Vermummungsverbot durch behördliche Erlaubnis zu schaffen (BT-Drs. 11/4359 S. 14; Dietzel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 17. Aufl., § 17a VersG Rn. 15). Im Hinblick auf diese Befreiungsmöglichkeit ist nach Auffassung des Senats eine einschränkende Auslegung auch nicht geboten, um eine unverhältnismäßige Beschränkung der grundrechtlich verbürgten Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) zu verhindern (vgl. Wache in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 228. ErgLfg, § 17a VersG Rn. 1).

b) Die auf die Einlassung des Angeklagten gestützte Annahme, die Vermummung des Angeklagten habe nicht die Verhinderung der Identifizierung durch die Polizei oder die Ordnungsbehörde bezweckt, sondern habe ausschließlich der Verbergung der Identität gegenüber Teilnehmern der Gegendemonstration im Hinblick auf die Befürchtung von diesen ausgehender Repressalien gedient, lässt danach die Tatbestandsmäßigkeit einer Vermummung nicht entfallen, sondern kann, nachdem die Annahme einer Rechtfertigung fern liegt (vgl. dazu KG a.a.O.), nur im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung finden.

StGB I: Vorsatz/Begriff der sexuellen Handlung, oder: Führt die Gesamtbetrachtung zu einem Sexualbezug?

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Nach den vielen OWi-Entscheidungen an den letzten Tagen setze ich heute mit materiellem Recht fort, also StGB. Ich beginne mit dem BGH, Urt. v. 05.05.2022 – 3 StR 481/21 – zur Frage der „sexuellen Handlung“.

Das LG hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Schutzbefohlenen verurteilt. Das LG hatte folgende Feststellungen getroffen:

„1. Der Angeklagte lebte seit dem Jahr 2014 mit seiner Ehefrau und deren Sohn, dem am 2. Februar 2012 geborenen L. , in häuslicher Gemeinschaft. Er war in dessen Erziehung in gleicher Weise eingebunden wie in diejenige der weiteren gemeinsamen Kinder. Anlässlich häufiger Besuche der gesamten Familie des Angeklagten auf dem Hausgrundstück seines Vaters, welches über ein Schwimmbecken verfügte, tobten der Angeklagte und der – dabei des Öfteren unbekleidete – L. im Wasser herum. Hierbei übertrieb der Angeklagte regelmäßig das Untertauchen des Jungen, so dass dieser wegen Luftmangels schrie und laut weinte. Auch zu anderen Gelegenheiten schikanierte der Angeklagte den L. , etwa indem er das Einsteigen des Kindes in das Kraftfahrzeug durch gezieltes Anfahren behinderte.

An einem solchen Besuchstag im Sommer 2019 kam es unter Anwesenheit der gesamten Familie des Angeklagten und weiterer Verwandter im Anschluss an ein Bad des L. im Schwimmbecken dazu, dass dieser unbekleidet im Garten herumlief. Der Angeklagte verfolgte das Kind und spritzte es mit einem handelsüblichen Wasserschlauch ohne Aufsatz nass. Er packte den sich wehrenden Jungen und legte ihn bäuchlings über seine Knie, drückte das Schlauchende zwischen die Pobacken und spritzte ihm – wie zuvor bereits zu anderer Gelegenheit angekündigt – für wenige Sekunden Wasser in den Anus und weiter in den Enddarm. Nachdem er ihn losgelassen hatte, rannte L. weinend davon, wobei er seinen Darm unkontrolliert auf den Rasen entleerte. Der Angeklagte verspottete ihn deswegen gegenüber den weiteren anwesenden Personen.

Ein Einführen des Gartenschlauchs in den Anus des Kindes hat das Landgericht nicht feststellen können, ebenso wenig eine sexuelle Intention oder sogar Erregung des Angeklagten.“

Das LG hat das Verhalten des Angeklagten als sexuelle Handlung im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB bewertet, weil es bereits objektiv einen eindeutigen Bezug zu entsprechenden Sexualpraktiken aufweise und deshalb die Motivation des Täters unerheblich sei.

Das hat beim BGH „gehalten“.

„Die Verurteilung des Angeklagten hält sachlichrechtlicher Nachprüfung stand. Zu Recht hat das Landgericht den Angeklagten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Schutzbefohlenen schuldig gesprochen. Der näheren Erörterung bedarf lediglich das Folgende:

1. Das Verhalten des Angeklagten ist als vom Vorsatz umfasste sexuelle Handlung im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB anzusehen.

a) Anerkannt ist, dass der Begriff der sexuellen Handlung bereits unter Heranziehung ausschließlich objektiver Kriterien bestimmt werden kann, wenn die Tätigkeit objektiv, also allein gemessen an ihrem äußeren Erscheinungsbild, einen eindeutigen Sexualbezug aufweist. Darüber hinaus können äußerlich ambivalente Handlungen dann als sexuelle Handlungen eingeordnet werden, wenn diese zwar für sich betrachtet nicht ohne Weiteres sexualbezogen sind, wohl aber aus der Sicht eines objektiven Betrachters, der alle Umstände des Einzelfalls, also auch die Zielrichtung des Täters, kennt, eine solche sexuelle Intention erkennen lassen (BGH, Beschluss vom 7. April 2020 – 3 StR 44/20, StV 2021, 363 Rn. 13; Urteile vom 8. Dezember 2016 – 4 StR 389/16, juris Rn. 7; vom 10. März 2016 – 3 StR 437/15, BGHSt 61, 173 Rn. 6; vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263 Rn. 19 f.; vom 14. März 2012 – 2 StR 561/11, BGHR StGB § 178 Abs. 1 Sexuelle Handlung 9 Rn. 20, 22; vom 20. Dezember 2007 – 4 StR 459/07, BGHR StGB § 184 f. Sexuelle Handlung 2 Rn. 9; BeckOK StGB/Ziegler, 52. Ed., § 184h Rn. 3 ff.; LK/Laufhütte/Roggenbuck, StGB, 12. Aufl., § 184g Rn. 5 ff.; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 184h Rn. 6 ff.; SSW-StGB/Wolters, 5. Aufl., § 184h Rn. 2; Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, 2. Aufl., § 184h Rn. 5 f.; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 184h Rn. 3 ff., jeweils mwN).

b) Nach diesen Maßstäben stellt das Verhalten des Angeklagten bereits unter Heranziehung ausschließlich objektiver Kriterien eine sexuelle Handlung dar.

In die im Einzelfall anzustellende Gesamtbetrachtung ist dabei zugunsten der Annahme eindeutigen Sexualbezugs einzustellen, dass es sich bei dem Anus des Geschädigten um einen intimen Körperbereich handelte, der zudem – wenn auch aus der Situation geschuldeten Gründen – unbekleidet war. Ebenfalls für einen eindeutigen Sexualbezug des Geschehens spricht die diesen Bereich betonende Körperhaltung des Geschädigten, der von dem Angeklagten bäuchlings über seine Knie gelegt worden war. Weiter setzte der Angeklagte den Schlauch derart fest zwischen den Pobacken an, dass Wasser in das Körperinnere eindringen konnte, was zugleich eine Penetration darstellt. Schließlich kommt die vorherige Ankündigung des Vorhabens seitens des Angeklagten hinzu („ich steck dir den mal hinten rein“). Bei dieser Sachlage bedarf es eines Rückgriffs auf eine – hier nach den Feststellungen nicht gegebene – sexuelle Intention oder sogar Erregung des Angeklagten zur Begründung eines entsprechenden Sexualbezugs nicht mehr. Dass dem im Ausgangspunkt spielerischen Geschehen auf dem Hausgrundstück etliche weitere Personen beiwohnten, darunter die Mutter und die Geschwister des geschädigten Kindes, kann auf Grundlage ausschließlich der äußeren Gegebenheiten – der Angeklagte bezog die Anwesenden von sich aus in den Vorgang ein, indem er den Geschädigten diesen gegenüber verspottete – nicht zu einer anderen Beurteilung führen.

c) Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass sich der Angeklagte des eindeutigen Sexualbezuges seines Verhaltens bewusst war. Dies genügt für den entsprechenden Vorsatz (vgl. BGH, Urteile vom 24. September 1980 – 3 StR 255/80, BGHSt 29, 336, 338; vom 10. Mai 1995 – 3 StR 150/95, BGHR StGB § 178 Abs. 1 Sexuelle Handlung 8).“

OWi III: Antragseingang 3 Stunden vor dem Termin, oder: „gehörige gerichtsinterne Organisation“

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Und die dritte Entscheidung kommt dann mal nicht vom KG 🙂 , sondern vom OLG Zweibrücken. Das hat mit dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 30.06..2022 – 1 OWi 2 SsRs 85/21 – über die Rechtsbeschwerde gegen ein Verwerfungsurteil zu entscheiden, dem folgender Verfahrensablauf zugrunde gelegen hat:

Nach Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung war Hauptverhandlungstermin auf den 25.03.2022 bestimmt. Zu dem waren weder der Betroffene noch sein Verteidiger erschienen. Das AG hat den Einspruch daher nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Das beim AG per Fax am selben Tag um 12:09 Uhr über den allgemeinen Anschluss eingegangene Schreiben, in dem der Verteidiger um Entbindung des Betroffenen vom persönlichen Erscheinen ersuchte, fand dabei keine Berücksichtigung. Es erreichte den zuständigen Richter über die Geschäftsstelle erst im Nachgang zur Hauptverhandlung. Auf dem Empfangsbekenntnis für die Ladung zur Hauptverhandlung, das der Verteidiger an das AG zurückgeleitet hat, war nach der Angabe des Ansprechpartners (Frau B.) die Fax-Nr. der Geschäftsstelle (0621/5616-384) und im Briefkopf unter der Anschrift des Amtsgerichts die Fax-Nr. des allgemeinen Anschlusses (0621/5618-380) angegeben.

Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde und erhebt die Verfahrens- und Sachrüge. Er macht insbesondere geltend, der Einspruch sei zu Unrecht verworfen worden, da vor dem Hauptverhandlungstermin ein Antrag auf Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gestellt worden war, der vom AG nicht beschieden worden sei.

Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg:

„2. Die Rüge ist auch begründet.

Nach § 74 Abs. 2 OWiG hat das Gericht den Einspruch ohne Verhandlung zur Sache durch Urteil zu verwerfen, wenn der Betroffene ohne genügende Entschuldigung ausbleibt, obwohl er von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen nicht entbunden war. Dabei kann der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde nur die fehlerhafte Anwendung des § 74 Abs. 2 OWiG auf den in der Hauptverhandlung bekannten Sachverhalt rügen. Eine Entscheidung gemäß § 74 Abs. 2 OWiG wird auf die Rechtsbeschwerde nur daraufhin überprüft, ob der rechtzeitig erhobene Einspruch zu Recht als unbegründet verworfen wurde, weil der Betroffene trotz nachgewiesener Ladung ohne genügende Entschuldigung und mangels Entbindung von der Verpflichtung zum Termin zu erscheinen, zum Hauptverhandlungstermin nicht erschienen ist. Wird ein Antrag des Betroffenen, ihn von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, zu Unrecht zurückgewiesen oder aber, wie hier, nicht beschieden, so liegt – falls am Ende ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs.2 OWiG ergeht – die Verletzung des Rechtes auf rechtliches Gehör darin, dass das Gericht nicht in Abwesenheit des Betroffenen dessen Einlassung oder Aussageverweigerung, auf die der Entbindungsantrag gestützt wird (§ 73 Abs.2 OWiG), zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung in der Sache erwogen, sondern mit einem Prozessurteil den Einspruch des Betroffenen verworfen hat (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 18.11.2002 – 2 Ss (OWi) 35 Z/02 –, juris Rn. 6).

Der Betroffene hat vorliegend mit Verteidigerschriftsatz vom 25.03.2021 per Fax Antrag auf Entbindung vom persönlichen Erscheinen gestellt, der um 11:44 Uhr von der Kanzlei versandt und um 12:09 Uhr über den allgemeinen Anschluss bei der Wachtmeisterei eingegangen ist. Der Hauptverhandlungstermin fand um 15:20 Uhr statt und endete, da dem Tatrichter der Schriftsatz zu diesem Zeitpunkt nicht vorlag, mit einem Verwerfungsurteil.

Dass dem Amtsrichter der Entbindungsantrag bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung tatsächlich nicht zur Kenntnis gelangt war, ist unerheblich. Maßgeblich ist allein, ob der Antrag bei gehöriger gerichtsinternen Organisation dem Richter hätte rechtzeitig zugeleitet werden können (OLG Koblenz, Beschluss vom 27.04.2021 – 3 OWi 6 SsBs 59/21, juris). Dabei ist zu prüfen, ob im Einzelfall unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt das Gericht von ihm Kenntnis hätte nehmen können und ihn deshalb einer Bearbeitung hätte zuführen müssen. Die reine Zeitspanne zwischen Antragseingang bis zum Hauptverhandlungstermin ist dabei nur ein Teilaspekt, wobei in diesem Zusammenhang die gewöhnlichen Geschäftszeiten des jeweiligen Gerichts nicht außer Acht zu lassen sind (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 30.10.2007 – 2 Ss OWi 1409/07, BeckRS 2007, 19100). Außerdem ist zu berücksichtigen, ob – falls der Kommunikationsweg via Fax gewählt wurde – die Telekopie an den Anschluss der zuständigen Geschäftsstelle oder an einen allgemeinen Anschluss des Gerichts versandt wurde. Im letzteren Fall bedarf es eines Hinweises auf die Eilbedürftigkeit der Vorlage an den zuständigen Richter (OLG Bamberg, Beschluss vom 23.05.2017 – 3 Ss OWi 654/17 –, juris Rn. 5).

Gemessen hieran war zu erwarten, dass der Schriftsatz dem zuständigen Tatrichter rechtzeitig zugeleitet werden kann. Die Geschäftsabläufe des Amtsgerichts hätten – auch unter Berücksichtigung der Mittagspause – gewährleisten müssen, dass ein Schriftsatz, der per Fax gut drei Stunden vor der Hauptverhandlung über den allgemeinen Anschluss des Gerichts eingeht und den Hinweis „Eilt! Termin heute!“ enthält, bis zum Beginn der Hauptverhandlung die Geschäftsstelle erreicht (insofern liegt der Fall auch anders als derjenige, den das Oberlandesgericht Bamberg zu entscheiden hatte, Beschluss vom 27.01.2009 – 2 Ss OWi 1613/08, juris; hier fehlte es an einem Hinweis auf die für denselben Tag anberaumte Hauptverhandlung). Mit dem Hinweis auf die Eilbedürftigkeit war die Behandlung als Sofortsache geboten (vgl. Senat, Beschluss vom 10.07.1996 – 1 Ss 161/96, juris).

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass bei dem Amtsgericht Ludwigshafen am Rhein nach Auskunft der Geschäftsleitung die mündliche und über Jahre praktizierte Anweisung gilt, dass Faxeingänge auf dem zentralen Faxanschluss fünfmal täglich gesichtet und auf Eilbedürftigkeit überprüft werden. Soweit die Eilbedürftigkeit ersichtlich ist, erfolgt ein Anruf in der zuständigen Abteilung und die Übergabe des Faxschreibens von Hand zu Hand.

Demnach liegt eine Gehörsverletzung in der Nichtbescheidung des Antrags auf Entbindung vom persönlichen Erscheinen vor.

Auf eine etwaige Verletzung der Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht des Tatrichters, die es gebietet, dass sich der Richter vor der Verkündung des Verwerfungsurteils bei der Geschäftsstelle informiert, ob dort eine entsprechende Nachricht – möglicherweise Anträge auf Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen oder zu Hinderungsgründen für das Nichterscheinen – vorliegt (KG Berlin, Beschluss vom 10.11.2011 – 3 Ws (B) 529/11, juris), kommt es aus den soeben dargestellten Gründen nicht mehr an. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es die Sachaufklärungspflicht des Tatrichters grundsätzlich nicht gebietet, bei der Einlaufstelle nachzuforschen, ob dort ein Entschuldigungsschreiben des Betroffenen eingegangen ist, was nicht nur unter den Verhältnissen eines Großstadtgerichts eine Überspannung der Aufklärungspflicht wäre (BayObLG wistra 1992, 320; Göhler, OWiG, 17. Aufl., § 74 Rn.31 m. w. N.).“