Archiv für den Monat: Februar 2019

Pflichti II: Unfähigkeit der Selbstverteidigung, oder: Beschuldigter steht unter Betreuung

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Und die zweite Entscheidung zur Pflichtverteidigerbestellung kommt aus Berlin. Das LG Berlin stellt im LG Berlin, Beschl. v. 19.09.2018 – 502 Qs 102/18 – fest: Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor, wenn der Angeklagte unter Betreuung steht (Aufgabekreis die Aufenthaltsbestimmung, die Vermögenssorge, die Vertretung vor Behörden und Institutionen, Wohnungsangelegenheiten sowie die Geltendmachung von Ansprüchen nach SGB I-XII). Die Entscheidung kommt vom Kollegen Kümmerle aus Berlin, ist schon etwas älter – die Entscheidung 🙂 -, das liegt aber nicht am Kollegen sondern an der Technik. Seine Mail hatte mich zunächst nicht erreicht.

Das LG hat die Ablehnung der Bestellung durch das AG aufgehoben. Zur Begründung führt es aus:

Diese Beschluss war aufzuheben und ihm ein Pflichtverteidiger beizuordnen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vorliegt, denn es ist ersichtlich, dass der Angeklagte sich nicht selbst verteidigen kann.

Der Angeklagte steht unter Betreuung. Der Aufgabekreis umfasst die Aufenthaltsbestimmung, die Vermögenssorge, die Vertretung vor Behörden und Institutionen, Wohnungsangelegenheiten sowie die Geltendmachung von Ansprüchen nach SGB I-X11. Damit ist belegt, dass der Angeklagte besonders umfassend unter Betreuung steht, was erhebliche Zweifel an seiner Fähigkeit zur Selbstverteidigung begründet (vgl. OLG Hamm, NJW 2003, S. 3286, 3287; Meyer-Goßner, StPO, 61. Aufl. 2018, § 140, Rn. 30; Thomas/Kämpfer, MüKo-StPO, 1. Aufl. 2014, § 140, Rn. 49; LaufhütteNVillnow, KK-StPO, 7. Aufl. 2013, § 140, Rn. 24; Lüderssen-Jahn, LR-StPO, 26. Aufl. 2007, § 140, Rn. 97 ff.).

Der Umstand, dass der durch Einspruch angefochteneStrafbefehl lediglich auf eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen lautet, steht dem nicht entgegen, weil die notwendige Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO nicht stets eine bestimmte Tatschwere voraussetzt (vgl. auch OLG Hamm a.a.O.). Außerdem muss sich_ der Angeklagte auch hinsichtlich der Tagessatzhöhe verteidigen können, was Kenntnisse über seine Einkunfts- bzw. Vermögenslage voraussetzt, und hierbei handelt es sich um einen von dem Aufgabenkreis des Betreuers ausdrücklich umfassten Bereich.“

Pflichti I: Bestellungsgrund: Ausschließlich Polizeibeamte als Zeugen, oder: Aber auch andere Umstände

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Und dann heute noch zwei Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Zunächst bringe ich den LG Dortmund, Beschl. v. 14.01.2019 – 32 Qs 6/19. Ergangen ist er in einem Verfahren mit dem Vorwurf des tättlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB). Das AG hatte die Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt. Das LG bestellt:

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Pflichtverteidigerbestellung ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwierigkeit der Sachlage erforderlich.

„Die der Angeklagten vorgeworfenen Taten des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) können nur durch die Zeugenaussagen der beteiligten Polizeibeamten nachgewiesen werden. Andere Beweismittel sind insoweit nicht vorhanden. Bei dieser Sachlage kann eine sachgerechte Verteidigung, insbesondere das Aufzeigen von eventuellen Widersprüchen in den Angaben der Belastungszeugen nur durch Kenntnis des gesamten Akteninhaltes gewährleistet werden. Dieser ist aber nur dem Verteidiger zugänglich, so dass in diesem Falle die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich ist (so auch LG Bielefeld, Beschluss vom 15.06.2016, Az. 8 Qs 246/16, juris).

Zudem wurde bei der Angeklagten eine BAK von 2,08 Promille festgestellt, sodass zumindest Zweifel an ihrer Schuldfähigkeit bestehen. Auch insoweit ist die Mitwirkung eines Verteidigers geboten.

Ferner steht die Angeklagte unter Betreuung, sodass auch Zweifel an ihrer Verteidigungsfähigkeit bestehen. Schließlich drohen der Angeklagten möglicherweise auch sorgerechtliche Konsequenzen im Falle einer Verurteilung, sodass bei einer Gesamtbetrachtung der Umstände ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt.“

Also erneut Bestellungsgrund: Ausschließlich Polizeibeamte als Zeugen, aber: Nicht nur, sondern flankiert auch durch andere Umstände.

Akteneinsicht des Nebenklägervertreters, oder: Welche schutzwürdigen Umstände des Beschuldigten stehen entgegen?

Heute dann keine Entscheidungen zum Karneval, auch wenn im Rheinland die 5. Jahreszeit beginnt. In der übrigen Republik wird ja normal gearbeitet. Gott sei Dank sind die Karnevalstage noch kein gesetzlicher Feiertag, obwohl man, wenn man sich die Fernsehprogramme anschaut, schon den Eindruck hat, dass es derzeit nichts Wichtigeres auf der Welt gibt.

Ich bringe hier heute zunächst den KG, Beschl. v. 21.11.2018 – 3 Ws 278/18 -, der noch einmal Akteneinsicht des Nebenklägervertreters Stellung nimmt, und zwar insbesondere zu den schutzwürdigen Umständen den Beschuldigten betreffend, die nach § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO der Akteneinsicht des Nebenklägervertreters entgegenstehen können. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs. Die Zeugin, zu deren Lasten die angeklagten Taten begangen sein sollen, ist als Nebenklägerin zugelassen. Zugleich wurde ihr die bereits im Ermittlungsverfahren durch das Amtsgericht Tiergarten zu ihrem Beistand bestellte Rechtsanwältin erneut beigeordnet. Letztere hatte – ebenfalls bereits im Ermittlungsverfahren – Akteneinsicht beantragt; diesbezüglich hat der Vorsitzende dem Angeschuldigten mit Schreiben vom 3. September 2018 über seinen Verteidiger rechtliches Gehör gewährt. Der Angeschuldigte wendet sich gegen die Akteneinsicht.Der Vorsitzende der Strafkammer hat in vollem Umfang Akteneinsicht gewährt. Dagegen die Beschwerde des Angeschuldigten. Die hatte nur hinsichtlich der Hauptakte keinen Erfolg.

„2. Die Beschwerde hat jedoch in der Sache – soweit es die Hauptakte betrifft – keinen Erfolg. Lediglich die im hiesigen Beschlusstenor bezeichnete Beiakte des Amtsgerichts Tiergarten ist von der Gewährung der Akteneinsicht für Rechtsanwältin P. durch den nach § 406e Abs. 4 Satz 1 Hs. 2 StPO zuständigen Vorsitzenden der mit der Sache befassten Strafkammer auszunehmen.

Der Nebenklägerin steht gemäß § 406e Abs. 1 Satz 1 StPO über ihre Rechtsanwältin auch ohne Darlegung eines berechtigten Interesses (vgl. § 406e Abs. 1 Satz 2 StPO) ein Recht auf Akteneinsicht zu, das sich dem Umfang nach grundsätzlich auf den gesamten Akteninhalt erstreckt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 61. Aufl., § 406e Rn. 5). Die Versagungsgründe des § 406e Abs. 2 StPO stehen lediglich der Einsichtnahme in die Beiakte entgegen.

a) Nach § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO ist die Einsicht in die Akten zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. Bei der Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht sind daher die Interessen der Betroffenen gegeneinander abzuwägen, um auf diese Weise festzustellen, welches Interesse im Einzelfall schwerer wiegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2008 – 2 BvR 1043/08 – [juris]; KG NStZ 2016, 438). Dies gilt auch bei der Akteneinsicht für den Nebenkläger (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO Rn. 9 mwN).

aa) Vorliegend sind – mit Blick auf die Hauptakte – bei der Abwägung insbesondere die Schwere der gegen den Angeschuldigten erhobenen Tatvorwürfe und der Umstand zu berücksichtigen, dass angesichts der bereits erfolgten Anklageerhebung ein erheblicher Verdachtsgrad gegen ihn besteht. Hiernach kommt dem berechtigten Interesse der Nebenklägerin als der mutmaßlich Verletzten, den vollständigen Akteninhalt kennenzulernen, ein hohes Gewicht zu. Besonders sensible Daten des Angeschuldigten, wie sie etwa in medizinischen oder psychiatrischen Gutachten enthalten sein können, sind kein Bestandteil der Hauptakte; auch enthält der den Angeschuldigten betreffende Bundeszentralregisterauszug keine Eintragungen. Die – über die Angaben der Nebenklägerin hinausgehende – Befassung mit Umständen aus dem privaten Lebensbereich und der Intimsphäre des Angeschuldigten ist dem Charakter der ihm zur Last gelegten Straftaten geschuldet. Ein Überwiegen des Geheimhaltungsinteresses des Beschwerdeführers betreffend die Hauptakte (bzw. Teile davon) kommt bei dieser Sachlage nicht in Betracht.

bb) Der Einsichtnahme in die im hiesigen Beschlusstenor aufgeführte Beiakte stehen dagegen sowohl überwiegende schutzwürdige Interessen des Angeschuldigten als auch solche weiterer Personen entgegen. Die Beiakte betrifft ein – in der Hauptakte im polizeilichen Bericht vom 13. Dezember 2017 erwähntes – Strafverfahren gegen den Angeschuldigten, in welchem er mit Urteil des Amtsgerichts Tiergarten – Jugendschöffengericht – vom 30. April 2007 rechtskräftig vom Tatvorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes freigesprochen wurde. Allein schon der Umstand, dass dem Angeschuldigten ein strafbares Verhalten nicht nachzuweisen war, legt es insoweit nahe, sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung höher zu achten als das Interesse der Nebenklägerin an der Erlangung von Informationen aus dem früheren Verfahren. Ob er die Versagung der Akteneinsicht bereits für sich zwingend gebietet (vgl. LG Köln StraFo 2005, 78; einschränkend LG Darmstadt K&R 2009, 211), kann der Senat dahinstehen lassen; denn mit Blick auf einen möglichen Erkenntnisgewinn seitens der Nebenklägerin gilt es vorliegend weiter zu berücksichtigen, dass das damalige Verfahren weder einen Bezug zu ihrer Person und/oder derjenigen ihrer Schwester aufwies noch in den Tatzeitraum fiel. Zu schützen gilt es schließlich auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der damaligen Anzeigeerstatterin, die ausweislich der Urteilsgründe einer kritischen Überprüfung „ihrer Glaubwürdigkeit und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen“ nicht standhielt.

b) Die Akteneinsicht kann weiter – auch noch nach Erhebung der öffentlichen Klage (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO Rn. 11) – nach pflichtgemäßem Ermessen versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint (§ 406e Abs. 2 Satz 2 StPO). Dies ist dann anzunehmen, wenn zu befürchten ist, dass bei Gewährung der Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt wird, weil etwa – wie hier vom Beschwerdeführer geltend gemacht – die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihm noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen kann (vgl. KG aaO; OLG Braunschweig aaO; Meyer-Goßner/Schmitt aaO, jeweils mwN). Hinsichtlich der Beurteilung der Gefährdung besteht ein weiter Entscheidungsspielraum (vgl. etwa BGH NJW 2005, 1519). Dabei ist der Senat als Beschwerdegericht nicht darauf beschränkt, die angefochtene Entscheidung auf Ermessensfehler zu überprüfen, sondern trifft eine eigene Ermessensentscheidung (vgl. OLG Braunschweig aaO; OLG Hamm, Beschluss vom 30. Dezember 2014 – III-1 Ws 518/14 – [juris]; OLG Stuttgart, Beschluss vom 11. Februar 2000 – 1 Ws 13/00 – [juris]).

Nach den dargestellten Grundsätzen ist die Nichtanwendung des § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO vorliegend nicht zu beanstanden. Allein die Rolle der Nebenklägerin als Zeugin in dem anhängigen Strafverfahren und die deshalb durch das Akteneinsichtsrecht grundsätzlich eröffnete Möglichkeit einer „Präparierung“ ihrer Aussage anhand des Akteninhalts reicht für eine Versagung der Akteneinsicht nicht aus (vgl. KG aaO sowie Beschluss vom 24. November 2017 – 2 Ws 178/17 –; Hanseatisches OLG Hamburg aaO; LG Stralsund StraFo 2006, 76). Denn zum einen geht mit der Wahrnehmung des gesetzlich eingeräumten Akteneinsichtsrechts nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (vgl. BGH NStZ 2016, 367; OLG Braunschweig aaO mwN). Zum anderen würde durch die generalisierende Annahme, dass mit Akteneinsicht durch den Nebenklägervertreter die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Nebenklägers stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehen sei, seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt werden; gerade denjenigen, die Opfer einer Straftat geworden sind, würden damit die Schutzfunktionen der §§ 406d ff. StPO entzogen (vgl. dazu BGH aaO; KG NStZ 2016, 438). Maßgeblich für die Prüfung der Gefährdung des Untersuchungszwecks ist demzufolge stets eine Würdigung der Verfahrens- und Rechtslage im Einzelfall (vgl. KG aaO; OLG Braunschweig aaO; Hanseatisches OLG Hamburg aaO).

Zwar gilt es vorliegend zu berücksichtigen, dass die Schwestern X und Y im Hinblick auf die erhobenen Tatvorwürfe (jeweils) die beiden einzigen Zeuginnen sind, ohne dass ergänzend auf weitere unmittelbar tatbezogene Beweismittel zurückgegriffen werden kann, weshalb ihren Angaben eine zentrale Bedeutung zukommt. Sie sind zudem aufgrund ihrer familiären Verbundenheit – wie der Beschwerdeführer zutreffend geltend macht – demselben „Lager“ zuzuordnen. Mit Blick auf den sich bisher durch Schweigen verteidigenden Angeschuldigten liegt somit gegenwärtig eine Verfahrenssituation vor, die hinsichtlich der für die durch das Tatgericht vorzunehmende Beweiswürdigung geltenden Grundsätze einer sog. Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nahe kommt (vgl. BGH NStZ 2013, 180; OLG Karlsruhe StraFo 2005, 250; OLG Frankfurt am Main StV 2011, 12). Die in derartigen Fällen erforderliche besondere Prüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Belastungszeuginnen und die damit verbundene Betrachtung der Aussagekonstanz können dafür sprechen, Teile der Akten – insbesondere die Protokolle ihrer polizeilichen Vernehmungen  – von der Akteneinsicht auszunehmen (vgl. Hanseatisches OLG Hamburg aaO sowie StraFo 2015, 328 [„Ermessen grundsätzlich auf Null reduziert“]; s. auch Senat, Beschluss vom 5. Oktober 2016 – 3 Ws 517/16 –). Auch ist in den Blick zu nehmen, dass es sich – wie in den Fällen der in Bezug genommenen Entscheidungen des Hanseatischen OLG Hamburg – vorliegend um ein Verfahren mit nur einer Tatsacheninstanz handelt, weshalb den besonderen Erkenntnismöglichkeiten des Tatgerichts aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung erhöhte Bedeutung zukommt. 

Gleichwohl erscheint der Grad der Gefährdung des Grundsatzes der Wahrheitsermittlung bei einer umfassenden Akteneinsicht für Rechtsanwältin P. im hier zu prüfenden Einzelfall so gering, dass das Informationsinteresse der Nebenklägerin die für deren Versagung streitenden Gründe überwiegt.

So ist zunächst festzustellen, dass die Befürchtung des Angeschuldigten, die Nebenklägerin werde ihre Angaben aufgrund der Akteneinsicht der bisherigen Beweislage anpassen, nicht auf objektivierbaren Erkenntnissen basiert (vgl. hierzu KG aaO; OLG Düsseldorf StV 1991, 202). Ihre in der polizeilichen Vernehmung geäußerte Einschätzung, vermeintliche Erinnerungen in bestimmten (sexualbezogenen) Situationen als sog. Flashbacks zu bewerten, hinsichtlich derer sie nicht beurteilen könne, ob ihr „Kopf das dann vermixt“, spricht vielmehr für ein hohes Maß an Selbstreflexion und lässt keinen unbotmäßigen Belastungseifer erkennen. Auch der Umstand, dass die Zeugin Z – die Mutter der Nebenklägerin – in ihrer polizeilichen Vernehmung bekundet hat, ihre Tochter habe mit Blick auf das anhängige Strafverfahren bewusst davon abgesehen, ihr nähere Einzelheiten bezüglich der angezeigten Vorfälle zu berichten, spricht nach Aktenlage gegen etwaige Bestrebungen, die Wahrheitsfindung zu manipulieren.

Der Senat geht weiter davon aus, dass Rechtsanwältin P. – wie von ihr vorgetragen – als erfahrene Nebenklagevertreterin mit den erhöhten Anforderungen des Bundesgerichtshofs an die tatrichterliche Beweiswürdigung vertraut ist, wie sie in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation – bzw. in einer vergleichbaren Fallkonstellation wie hier – auch in Bezug auf die Bedeutung der Konstanzanalyse gelten (vgl. etwa BGH StV 1990, 99). Ihr Vorbringen, dass sie bemüht sein werde, den Beweiswert der Aussage ihrer Mandantin nicht „durch vorherige Lektüre ihrer früheren polizeilichen Aussagen zu schmälern“, erscheint vor diesem Hintergrund nachvollziehbar; obschon – insoweit ist dem Beschwerdeführer zuzustimmen – die Einhaltung einer diesbezüglichen Zusage ebenso wenig erzwungen wie ein Verstoß sanktioniert werden könnte. Zu der Frage, ob/welche Akteninhalte zu ihrer Kenntnis gelangt sind, kann das Tatgericht zudem jedenfalls die Nebenklägerin in ihrer zeugenschaftlichen Vernehmung befragen; sie ist insoweit als Zeugin zur Wahrheit verpflichtet und muss für den Fall einer Lüge mit einer empfindlichen Strafe rechnen. Auch zur möglichen Weitergabe von Informationen an die Zeugin Y, die sich ihrerseits bisher weder der öffentlichen Klage als Nebenklägerin angeschlossen hat noch anwaltlich vertreten ist, könnte die Zeugin X entsprechend befragt werden. Die mögliche Aktenkenntnis beider Zeuginnen kann hiernach bei der Beweiswürdigung – soweit erforderlich – berücksichtigt werden (vgl. BGH NJW 2005, 1519; s. auch BGH NStZ 2016, 367 [Erörterungspflicht nur im Einzelfall wie etwa bei einer konkreten Falschaussagemotivation des Zeugen oder Besonderheiten in seinen Aussagen]). Dabei dürfte es sich im Ergebnis eher zu Gunsten als zu Lasten des Angeschuldigten auswirken, wenn eine festgestellte Konstanz in der Aussage der Nebenklägerin wegen einer vorherigen Akteneinsicht an Wert für die Beurteilung ihrer Angaben als richtig verliert.

Schließlich gilt es nach Auffassung des Senats in den Blick zu nehmen, dass Rechtsanwältin P. der polizeilichen Vernehmung ihrer Mandantin – der Nebenklägerin – zeitweise, wenn auch nicht vollständig beigewohnt hat. In Teilen sind ihr deren bisherige Angaben hiernach ohnehin bekannt – möglicherweise existieren sogar Mitschriften, wie auch sonst bei der Vernehmung von Zeugen durch das Tatgericht stets zu vergegenwärtigen ist, dass Surrogate zum polizeilichen Vernehmungsprotokoll (insbesondere eigene Notizen) zur Verfügung stehen könnten, auf die in Vorbereitung der späteren Aussage in der Hauptverhandlung zurückgegriffen wurde….“

OWI III: Verfahrenseinstellung nach Verstoß gegen das PAuswG, oder: Kleines Schmankerl

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Und als dritte OWi-Entscheidung dann der AG Schleswig, Beschl. v. 19.11.2018 – 53 OWi 24000/18, den mir der Kollege Baur aus Flensburg übersandt hat. Es handelt sich um ein kleiner Schmankerl, nämlich Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG, weil die Verwaltungsbehörde gegen die Vorschriften des PAuswG verstoßen hat. Begründung:

„Das Verfahren ist aus Opportunitätsgründen einzustellen, da vorliegend ein erheblicher Verstoß der Bußgeldbehörde gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen vorliegt. Dieser führt zwar nicht zu einem Verfahrenshindernis oder einem Beweisverwertungsverbot und lässt auch nicht den staatlichen Strafanspruch entfallen, allerdings führt die Umgehung der Vorgaben des PAuswG dazu, dass die Sanktionierung mit einem Fahrverbot und einem Bußgeld mit der Rechtsordnung unvereinbar wäre (so auch AG Landstuhl Beschluss vom 26.10.2015 – 2 Owi 4286 Js 7129/15).

Der Betroffene überschritt am pp. um pp. in Sieverstedt, A7 KM 21,750 in Richtung Hamburg mit dem auf die pp. (Flensburg) zugelassenen PKW pp. die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 25 km/h (nach Toleranzabzug). Die Bußgeldstelle richtete daraufhin an die pp. einen Zeugenbefragungsbogen. Dieser war unter Angabe des Namens und der pp. des Betroffenen rückläufig. An diese Anschrift ging dann ein entsprechender Anhörungsbogen und später ein Bußgeldbescheid. Nachdem der Betroffene durch seinen Verteidiger Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt hatte forderte die Bußgeldstelle eine vergrößerte Kopie des Fotos aus dem Personalausweis- oder Passregister der Stadt Flensburg an. Wegen der Einzelheiten wird auf die Akte Bezug genommen (BI. 20 d.A.). Anderweitige Ermittlungsmaßnahmen, insbesondere eine Halterfeststellung durch die Polizei wurden nicht betrieben. Ebenso erfolgte kein Abgleich mit dem Foto des Betroffenen auf der Homepage der

Durch dieses Vorgehen hat die Bußgeldbehörde die Vorgaben der §§ 22 Abs. 2 PassG, 24 Abs. 2 PAuswG umgangen. Die Personalausweisbehörde darf die Daten aus dem Pass- bzw. Personalausweisregister nur unter den einschränkenden Vorgaben des § 24 Abs. 2 Nr. 1-3 PAuswG übermitteln. Das ist insbesondere nur dann der Fall, wenn die ihr obliegenden Aufgaben nicht anders erfüllen kann und den Betroffenen nicht anders ohne unverhältnismäßigen Aufwand zu ermitteln (Ziff.3). Vorliegend ist in keiner Weise ersichtlich, dass die Ermittlung der Person des Betroffenen nicht auch anderweitig möglich gewesen. Erfolgversprechend wäre mit großer Sicherheit die Ermittlung des Betroffenen an der Kanzleianschrift durch die Polizei gewesen. Für einen Freispruch des Betroffenen bleibt vorliegend aber kein Raum, da der staatliche Strafanspruch gegenüber dem Betroffenen vor Abgabe des Verfahrens nicht verwirkt war, denn es wäre möglich gewesen die Maßnahme nachträglich zu legalisieren. Da bereits der Verstoß der Behörde gegen interne Richtlinien eine Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG rechtfertigen kann, muss dies erst Recht gelten, wenn die Behörde gegen Vorgaben des PAuswG verstößt. Denn diese sind Ausdruck des verfassungsrechtlich garantierten Anspruches der Bürger auf informationelle Selbstbestimmung. Eine vorherige Zustimmung der Staatsanwaltschaft war vorliegend gemäß § 47 Abs. 2 OWiG nicht notwendig, da das Bußgeld geringer als 100,00 EUR ausgefallen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 464, 467 Abs. 1 und 4 StPO, 46 Abs. 1 OWiG. Es erscheint vorliegend angemessen, dass der Betroffene seine Auslagen selbst trägt. Denn vorliegend liegt lediglich ein einzelner Verstoß gegen das PAuswG vor, sodass nicht von einer systematischen Umgehung des PAuswG auszugehen ist.“

Die Kostentragungspflicht wird der Betroffene verschmerzen können 🙂 .

OWi II: Einsicht in Messunterlagen – Rechtsmittel, oder: Licht und Schatten

Der zweite Beitrag des Tages befasst sich auch mit der Einsicht in Messunterlagen, allerdings geht es nun um Rechtsmittel. Und da habe ich drei Entscheidungen, auf die ich hinweisen will (zum teil hat auch schon der Kollege Gratz dazu berichtet):

  • LG Würzburg, Beschl. v. 24.09.2018 – 1 Qs 155/18, der wenn ein Antrag auf Einsichtnahme in die Messunterlagen pp. erstmals im gerichtlichen Verfahren gestellt wird, die Beschwerde gegen eine ablehnende Entscheidung zwar als zulässig, aber als unbegründet ansieht, weil ein Einsichtsrecht in Messdaten nicht bestehen soll.
  • LG Hanau, Beschl. v. 07.01.2019 – 4b Qs 114/18, der die Beschwerde gegen eine im gerichtlichen Bußgeldverfahren ergangene ablehnende Entscheidung des AG bezüglich Einsicht in Messunterlagen ebenfalls für zulässig ansieht und zugleich auch die Herausgabe von Messreihe, Statistikdatei und Geräteakte anordnet.
  • Und dann noch der das KG zu den  Anforderungen an die Verfahrensrüge verweigerter Akteneinsicht im KG, Beschl. v. 20.12.2018 – 3 Ws (B) 303/18 – mit den leider bekannten Leitsätzen/Forderungen:

1. Rügt der Betroffene die rechtswidrige Ablehnung eines Akteneinsichtsantrags, muss die Rechtsbeschwerdebegründung eine konkret-kausale Beziehung zwischen dem behaupteten Verfahrensfehler und einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt dartun.

2. Hierzu bedarf es substantiierten Vortrags, welche Tatsachen sich aus welchen genau bezeichneten Stellen der Akten ergeben hätten und welche Konsequenzen die Verteidigung daraus gezogen hätte.

3. Soweit eine konkrete Benennung mangels Zugriffs auf die Unterlagen nicht möglich ist, muss sich der Verteidiger bis zum Ablauf der Frist zur Erhebung der Verfahrensrüge weiter um die Einsicht bemüht haben und die entsprechenden Anstrengungen gegenüber dem Rechtsbeschwerdegericht dartun.

Also auch hier: Licht und Schatten. Zur Entscheidung des KG muss man m.E. nichts mehr sagen. Das ist die sattsam bekannte Auffassung des KG und anderer OLG, die m.E. falsch ist. Aber, wen interessiert es …..