Archiv für den Monat: September 2014

Für BtM-Verfahren: Nicht zu schnell mit dem ESA-Schnelltest

entnommen wikimedia.org Urheber H. Zell

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In vielen BtM-Verfahren spielt der sog. ESA-Schnelltest ein Rolle, in einem Verfahren beim AG/LG Hannover war er für die Verurteilung entscheidedend. Der Angeklagte ist dort wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln – Kocain – zu einer Geldstrafe verurteilt worden. AG/LG haben festgestellt, dass der Angeklagte am Tatabend in einer Spielothek wissentlich und willentlich eine in ein Papiertuch eingewickelte Konsumeinheit Kokain mit einem Nettogewicht von 0,19 g und einem geschätzten Wirkstoffgehalt von nicht unter 30 % bei sich hatte. Das hatte das LG auf einen ein durchgeführten ESA-Schnelltest gestützt, der zu einer schlagartig auftretenden intensiven Blauverfärbung der Substanz geführt habe, obwohl die Konsumeinheit nur ein Gesamtgewicht von 0,19 g aufgewiesen habe. Der Angeklagte hat Revision eingelegt. Das OLG Celle im OLG Celle, Beschl. v. 25.06.2014 – 32 Ss 94/14 – hat aufgehoben. Ihm ging es zu schnell mit dem ESA-Schnelltest:

„Die Strafkammer hat die Feststellung, dass es sich bei der sichergestellten, in den Urteilsgründen jedoch nicht näher beschriebenen Substanz überhaupt um Kokain handelt, ausschließlich auf das Ergebnis des durchgeführten ESA-Schnelltests gestützt. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein in der Praxis als zuverlässig anerkanntes Standardtestverfahren (vgl. OLG Hamm, StV 1999, 420; OLG Thüringen, StV 2006, 530), so dass allein darauf, dass es sich bei der Substanz um Rauschgift handelte, nicht gestützt werden kann.

Diese Frage wird unter Hinzuziehung eines Sachverständigen aufzuklären sein, der sich ggf.  auch zu der Frage äußern sollte, ob es anhand des Reaktionsverlaufs eines ESA-Tests möglich ist, zuverlässig Schlüsse auf den Wirkstoffgehalt der getesteten Substanz zu ziehen. Gegebenenfalls wird die bei dem Angeklagten gefundene Substanz sachverständig zu untersuchen sein.“

Nicht schon wieder!!! Doch, immer wieder die Nebenklägerrevision

© J.J.Brown - Fotolia.com

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Ich weiß gar nicht, wie oft ich hier schon auf Entscheidungen des BGH zur Nebenklägerrevision hingewiesen habe. Wenn man jeden Beschluss des BGH dazu vorstellen würde, wäre die Berichterstattung sicherlich sehr kopflastig. Denn es gibt kaum ein Thema, zu dem der BGH auf seiner Homepage so viele Entscheidungen veröffentlicht. So zuletzt den BGH, Beschl. v. 14.08.2014 – 4 StR 163/14, in dem mal wieder eine Nebenklägerrevision als unzulässig verworfen worden ist:

„Ergänzend bemerkt der Senat:

Der Umstand, dass eine Begründung der Sachrüge nicht vorgeschrieben ist, entbindet den Nebenkläger nicht von der Verpflichtung, einen genauen Antrag zu stellen oder wenigstens eine Begründung anzubringen, die deutlich macht, dass eine Änderung des Schuldspruchs hinsichtlich eines Nebenklagedelikts angestrebt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 2012 – 3 StR 221/12, Rn. 2 mwN). Dafür reicht die unausgeführte allgemeine Sachrüge grundsätzlich nicht aus (BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2008 – 3 StR 459/08, NStZ-RR 2009, 57; Meyer-Goßner, StPO, 57. Aufl., § 400 Rn. 6 mwN).“

Ich frage mich bei den Verfahren immer – aber auch sonst bei unzulässigen Revisionen: Warum setzt man sich als Vertreter des Nebenklägers, wenn man denn schon Revision eingelegt hat, eigentlich nicht mit den Zulässigkeitesvoraussetzungen auseinander? Wenn man es tuen würde, würde man nämlich sehr schnell überall lesen, welche Grundvoraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Revision zulässig ist. Das ist nun wirklich kein Revisionsrecht am Hochreck, sondern ganz einfache „Grundübungen am Boden“. 🙂

Lieber weitersuchen nach einem freien Parkplatz, sonst kann es teuer werden

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Scheint dann doch wohl häufiger vorzukommen, als man denkt: Das Parken auf einem mit Zeichen 314 nebst Zusatzzeichen mit Rollstuhlfahrersinnbild gekennzeichneten Parkplatz, also einem Parkplatz für Schwerbehinderte. Jedenfalls im Zuständigkeitsbereich des VG Düsseldorf. Denn nach dem VG Düsseldorf, Urt. v. 11.03.2014 – 14 K 7129/13 (vgl. dazu Auch ein “Feiertag” ist ein “Wochentag” – und ein “Spezialparkverbot” gilt) bin ich auf eine weitere VG Düsseldorf Entscheidung gestoßen, die sich mit dem zeichen 314 befasst. Nämlich das VG Düsseldorf, Urt. v. 16?.?06?.?2014? – 14 K ?8019?/?13?. In dem Verfahren aber keine Besonderheiten, die den Parkverstoß noch „nachvollziehbar“ machen könnten, wie etwa die Frage: Gilt das Spezialparkverbot überhaupt an dem Wochen)Tag, da es sich um einen Feiertag handelt (vgl. dazu VG Düsseldorf, Urt. v. 11.03.2014 – 14 K 7129/13). Nein ein ganz „normaler“ Fall, in dem der spätere Kläger seinen Pkw auf einen Platz abgestellte hatte, der durch Zeichen 314 (Parken) nebst Zusatzzeichen mit Rollstuhlfahrersinnbild Personen mit einem Sonderparkausweis für schwerbehinderte Menschen gekennzeichnet war. Unter dem Zeichen 314 (Parken) mit Zusatzzeichen befand sich ein weiteres Zusatzzeichen mit Bild 318 (Parkscheibe) und der Aufschrift „2 Std.“ sowie darunter ein Zusatzzeichen mit der Aufschrift „Mo – Fr 8 – 18 h“. Einen Sonderparkausweis für schwerbehinderte Menschen lag im Fahrzeug des Klägers nicht aus. Auf Veranlassung eines Mitarbeiters der beklagten Gemeinde wurde dann ein Abschleppfahrzeug angefordert, welches das Kraftfahrzeug des Klägers in Sichtweite um fünf Meter nach hinten auf einen freigehaltenen Parkplatz versetzte. Und um die dadurch entstandenen Kosten ging es dann beim VG. Das VG hat zugesprochen und das – letztlich – nur knapp begründet, denn viel einzuwenden gab es da grundsätzlich nicht:

In materieller Hinsicht sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der vorgenannten Ermächtigungsgrundlage erfüllt. Hiernach hat der für eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit verantwortliche Störer die durch eine rechtmäßige Ersatzvornahme ohne vorausgehenden Verwaltungsakt entstandenen Kosten zu tragen. Die insoweit vorausgesetzte gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestand vorliegend. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne ist bei einer Beeinträchtigung von Individualrechtsgütern, bei einem Verstoß gegen die objektive Rechtsordnung – mithin bei einer Zuwiderhandlung gegen formelle und materielle Gesetze – sowie bei einer Beeinträchtigung des Bestandes und der Veranstaltungen des Staates gegeben.

Vorliegend war eine Zuwiderhandlung gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften gegeben. Im Zeitpunkt des Einschreitens der Beklagten lag ein Verstoß gegen § 42 Abs. 2 Straßenverkehrsordnung (StVO) i.V.m. lfd. Nr. 7 der Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO vor. In Straßenabschnitten auf denen das Zeichen 314 (Parken) durch ein Zusatzzeichen mit Rollstuhlfahrersinnbild ergänzt wird, ist die Parkberechtigung ausschließlich auf schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung, beidseitiger Amelie oder Phokomelie oder mit vergleichbaren Funktionseinschränkungen sowie auf blinde Menschen beschränkt. Die Parkerlaubnis gilt – auch für den berechtigten Personenkreis – nur, wenn ein entsprechender Parkausweis gut lesbar im Fahrzeug ausgelegt oder angebracht ist. Fahrzeugführern, die nicht an einer Schwerbehinderung im vorgenannten Sinne leiden, ist das Parken auf derartigen Straßenabschnitten ausnahmslos verboten. Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 11.03.2014 – 14 K 7129/13 -, Rn. 27, […].

Also: Lieber weitersuchen nach einem freien Parkplatz, sonst kann es teuer werden.

 

Übersetzung der Anklageschrift erforderlich – ja, aber letztlich dann doch offen

© Corgarashu – Fotolia.com

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Durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 02.07.2013 (BGBl. I, S. 1938) – basierend auf der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren ist § 187 GVG geändert worden. Nach dem neuen § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG ist jetzt in der Regel die schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nicht rechtskräftigen Urteilen für die Ausübung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten erforderlich. Die Vorschrift/Neuregelung kommt allmählich auch in der Rechtsprechung der Obergerichte an. Es gibt einige OLG, die sich mit der Vorschrift befassen mussten, und nun eben auch der BGH. Der hat zur Neuregelung im BGH, Beschl. v. 10.07.2014 – 3 StR 262/14 – Stellung genommen und dazu ausgeführt:

a) Die Beanstandung, die Strafkammer habe gegen die §§ 200, 201 StPO sowie gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen, weil sie dem Angeklagten am zweiten Hauptverhandlungstag keine Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache (Roma) überlassen, sondern ihn auf die mündliche Übersetzung der Anklageschrift verwiesen und zu-dem einen Antrag, ihm eine in die Sprache Roma übersetzte Anklageschrift auszuhändigen sowie das Verfahren bis zur Übergabe der übersetzten Anklage auszusetzen, unter Hinweis auf eine mehrere Stunden dauernde Unterbrechung zurückgewiesen habe, ist jedenfalls unbegründet.

Allerdings hatte der Angeklagte nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) MRK das Recht, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden. Dieses Recht beinhaltet für den der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten grundsätzlich die Übersendung einer Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache; dies hat in aller Regel schon vor der Hauptverhandlung zu geschehen. Auch die Überlassung der in die serbische Sprache übersetzten Anklageschrift war deshalb – ungeachtet des Umstands, dass der Angeklagte diese Sprache ebenfalls nicht beherrschte – grundsätzlich zu spät. Die mündliche Übersetzung genügt nur in Ausnahmefällen, namentlich dann, wenn der Verfahrensgegenstand tatsächlich und rechtlich einfach zu überschauen ist (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 18 mwN). Durch Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2. Juli 2013 (BGBl. I, S. 1938) ist zudem zur Umsetzung der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren § 187 GVG geändert worden. Die in Art. 3 der Richtlinie enthaltene inhaltliche Konkretisierung des Anspruches eines der Sprache des Strafverfahrens nicht mächtigen Beschuldigten auf schriftliche Übersetzung aller für seine Verteidigung und zur Gewähr-leistung eines fairen Verfahrens wesentlichen Unterlagen findet danach nun-mehr in § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG dahin ihren Niederschlag, dass in der Regel die schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nicht rechtskräftigen Urteilen für die Aus-übung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten erforderlich ist. An die Stelle der schriftlichen Übersetzung kann nach § 187 Abs. 2 Satz 4 GVG zwar eine mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung treten, wenn dadurch die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt wer-den, was nach § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG regelmäßig der Fall sein soll, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat (kritisch zu dieser Regelung Eisenberg, JR 2013, 442, 445). Insoweit hatte der Gesetzgeber indes vor allem die Übersetzung von Urteilen im Blick; die Verpflichtung zur schriftlichen Urteilsübersetzung sollte in der Regel dann nicht greifen, wenn eine effektive Verteidigung des nicht ausreichend sprachkundigen Angeklagten dadurch ausreichend gewährleistet wird, dass der von Gesetzes wegen für die Revisionsbegründung verantwortliche Rechtsanwalt das schriftliche Urteil kennt (BT-Drucks. 17/12578, S. 12 mwN). Geht es um die Übersetzung der Anklageschrift, ist die Verfahrenslage aber eine andere, weil durch die Mitteilung der Anklageschrift gerade die durch Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) MRK gewährleistete Information des Beschuldigten über den Tatvorwurf „in allen Einzelheiten“ bewirkt werden soll. Auch die Erklärungsrechte des § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO werden möglicher-weise beschnitten, wenn der Angeschuldigte über den Anklagevorwurf nicht umfassend und zeitnah unterrichtet wird. „

M.E. recht deutlich, wohin für den 3. Strafsenat die Reise gehen soll. Ja, mehr als das Reiseziel hat der Senat nicht vorgegeben bzw. vorgeben müssen. Denn er konnte bzw. wollte die Frage noch offen lassen aufgrund der verfahrensrechtlichen Besonderheiten:

„Es kann im Ergebnis indes offen bleiben, ob das Vorgehen des Vorsitzenden der Strafkammer gemessen an diesen Maßstäben rechtsfehlerfrei war. Denn der Senat kann jedenfalls ausschließen, dass das Urteil, das nach 23 weiteren Hauptverhandlungstagen ergangen ist, in denen zu den Tatvorwürfen umfassend Beweis erhoben, der Sachverhalt somit umfassend aufgeklärt worden ist und der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Taten am letzten Hauptverhandlungstag auf Drängen seiner Verteidigung gestanden hat, auf einem etwaigen Informationsdefizit am zweiten Hauptverhandlungstag beruht, das durch die Ablehnung der Anträge der Verteidigung aufgetreten sein könnte.“

Argumentations- und Auslegungshilfe bringt die Entscheidung aber schon mal.

 

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Rücknahme des StA-Rechtsmittels – Verfahrensgebühr beim Verteidiger?

© haru_natsu_kobo - Fotolia.com

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Ich erinnere an unsere „Freitagsfrage“: Ich habe da mal eine Frage: Rücknahme des StA-Rechtsmittels – Verfahrensgebühr beim Verteidiger?. Es ging um die Problematik der Verfahrensgebühr für das Rechtsmittelverfahren, wenn die Staatsanwaltschaft ein von ihr eingelegtes Rechtsmittel – Berufung, Revision, Rechtsbeschwerde – vor dessen Begründung zurückgenommen hat.

Der Verteidiger hatte nach dem Entstehen der Gebühr gefragt. Nun die Frage ist eindeutig zu bejahen. Denn die Verfahrensgebühr für das Rechtsmittelverfahren entsteht durch jede Tätigkeit, die der Rechtsanwlt/Verrteidiger nach Einlegung des Rechtsmittels erbringt. Das kann die Beratung des Mandanten über das Rechtsmittel und das Rechtsmittelverfahren sein aber auch – wie in der Fragestellung – das Gespräch mit dem Vorsitzenden über die Berufung bzw. deren Durchführung.

Strend davon zu trennen/unterscheiden ist die Frage, ob der Rechtsanwalt die Verfahrensgebühr Nr. 4124 VV RVG bzw. Nr. 4139 VV RVG in diesen Fällen auch aus der Staatskasse erstattet bekommt. Und das verneint die h.M. der OLG, die da einiges mit dem Entstehen der Gebühr vermischt – mit der Begründung: Nutzlose Tätigkeit. M.E. ist die Begründung falsch, was ich hier aber nicht näher darlegen will, dazu mehr im RVG-Kommentar bzw. demnächst im RVGreport. In der Diskussion gibt es aber auch immer wieder „Aufreißer“-Entscheidungen. Und eine solche habe ich der vergangenen Woche übersandt bekommen, nämlich den LG München I, Beschl. v. 29.08.2014 – 22 Qs 55/14. Das hat die Verfahrensgebühr für das Berufungsverfahren erstattet, und zwar mit der m.E. richtigen Begründung:

Die Frage der Notwendigkeit der Tätigkeit eines Verteidigers in der Berufungsinstanz in Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft ihre Berufung vor einer Begründung zurücknimmt, ist in der Rechtsprechung umstritten (vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 464 a, Rdnr. 10 m.w.N). Die ablehnenden Entscheidungen (zuletzt soweit ersichtlich KG Berlin, Beschluss vom 19.5.2011, Az. 1 Ws 168/10, zitiert nach juris) stützen sich darauf, dass vor Begründung der Berufung alle Erörterungen ohne objektiven Wert seien, solange Umfang und Zielrichtung der Berufung nicht bekannt seien.

Die Kammer folgt im vorliegenden Fall jedoch der Auffassung, welche eine Erstattung der Verfahrensgebühr auch in den Fällen annimmt, in denen die Staatsanwaltschaft die Berufung vor ihrer Begründung zurückgenommen hat.

Es ist mit den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht vereinbar, dass Informations- und Beratungsbedürfnis eines Angeklagten nach Eingang eines Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft stets, als ,,überflüssig“ anzusehen, solange er dessen Zielrichtung und Umfang nicht kennt. Im vorliegenden Fall hatte der Pflichtverteidiger durch die Mitteilung des Amtsgerichts München Kenntnis von der (noch nicht begründeten) Berufung der Staatsanwaltschaft. Auch in diesem Verfahrensstadium kommen seitens des Angeklagten und seines Verteidigers aber durchaus zweckwichtigere Maßnahmen in Betracht, welche die Rechtslage klären oder die weitere Verteidigung vorbereiten. Dies gilt insbesondere dann, wenn wie hier die Zielrichtung des staatsanwaltschaftlichen Rechtsmittelangriffs nach Sachlage aus Sicht der Verteidigung nicht zweifelhaft war, da die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht eine unbedingte Freiheitsstrafe beantragt hatte.

Eine andere Entscheidung ist auch schwerlich mit dem Grundsatz der Chancengleichheit im Strafverfahren vereinbar: Wenn die Staatsanwaltschaft nur vorsorglich ein Rechtsmittel einlegt, so muss es dem Angeklagten unbenommen sein, ebenso vorsorglich vorbereitende Maßnahmen zur Verteidigung gegen dieses Rechtsmittels zu treffen, zumal er mit der Möglichkeit der Durchführung des Rechtsmittels rechnen muss (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 28.4.1993- Az. 1 Ws 110/93, zitiert nach juris).

Hinzukommt, dass – anders als für die Revision (§§ 344, 346 Abs. 1 StPO) – für die Berufung keine gesetzliche Begründungspflicht besteht. Eine fehlende Begründung wäre zwar ein Verstoß gegen § 156 Abs. 1 RiStBV, würde die Berufung jedoch nicht unzulässig machen.“

Vor allem das Argument mit der „Chancengleichheit“ ist schön.

Also: Ich habe dem Kollegen die Entscheidungen als Argumentationshilfe geschickt und ihm zugleich auch noch geraten, doch mal die Nr. 4141 VV RVG zu diskutieren – nämlich Mitwirkung bei der Rücknahme der Berufung der Staatsanwaltschaft. Er wird berichten. Ich bin gespannt was.