Archiv für den Monat: Juni 2013

Bedingter Widerspruch? Zulässig und zu beachten..

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Das Beschlussverfahren nach § 72 OWiG  ist im Grunde einfach durchzuführen: Wenn der Betroffene und die StA dem Verfahren nicht widersprechen, kann es durchgeführt werden. Dabei ist man sich darüber einig, dass der Betroffene sein Einverständnis mit der Entscheidung im Beschlusswege auch unter einer Bedingung erteilen kann. Ein solches Einverständnis hatte in einem beim AG Castrop-Rauxel anhängigen Verfahren der Betroffene abgegeben und sich mit der Verurteilung wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 1.000 € und einem einmonatigen Fahrverbot – unter Gewährung der sog. „Viermonatsfrist“ – einverstanden erklärt. Das AG entscheidet durch Beschluss und verhängt die Rechtsfolgen, verurteilt allerdings wegen einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung.

Und das hat das OLG Hamm im OLG Hamm, Beschl. v. 21.05.2013 – 1 RBs 65/13 – beanstandet:

„…Weiter heißt es dann in der Stellungnahme des Verteidigers des Betroffenen: „Diese Entscheidung kann gem. § 72 OWi-Gesetz durch Beschluss ohne Hauptverhandlung entschieden werden.“ Damit ist die Einwilligung in eine Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss bedingt gewesen. Dies bedeutet, dass ein Widerspruch insoweit vorliegt, als das Gericht von der vom Betroffenen akzeptierten Schuldform oder Rechtsfolge zu seinem Nachteil abweicht.  Die Zulässigkeit der Zustimmung zum Beschluss verfahrenunter einer Bedingung ist jedenfalls für den Fall allgemein anerkannt, dass es – wie hier – ausschließlich in der Hand des Gerichts liegt, der Bedingung zu entsprechen oder nicht (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.10.1992 -5 Ss OWi 332/92 – […]; OLG Hamm NStZ 1982, 388). Der für Rechtsmittel geltende Grundsatz der Bedingungsfeindlichkeit gilt hier nicht, weil es sich bei dem Widerspruch nicht um ein Rechtsmittel, sondern um ein prozessuales Gestaltungsrecht handelt (OLG Düsseldorf a.a.O. m.w.N.). Der Betroffene hat hier nur einer Verurteilung im Beschlusswege wegen einer fahrlässigen Begehung zugestimmt, nicht aber – wie geschehen – wegen einer Vorsatztat. Damit hat das Amtsgericht trotz des für die konkrete Entscheidung vorliegenden Widerspruchs des Betroffenen nach § 72 OWiG entschieden.

Durch diese Entscheidung ist der Betroffene – entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft – auch beschwert. Die Beschwer entfällt nicht deshalb, weil das Gericht lediglich die vom Betroffenen akzeptierten – äußerst milden – Rechtsfolgen festgesetzt hat. Würde die Festsetzung einer von einem Betroffenen bzw. Angeklagten – insbesondere z.B. im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO – akzeptierten Rechtsfolge die Beschwer des Betroffenen bzw. Angeklagten entfallen lassen, so wäre ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung, die exakt der Absprache entspricht, immer unzulässig. Dies entspricht aber nicht dem gesetzlichen Regelungskonzept. Nach § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ist gerade ein Rechtsmittelverzicht unzulässig, wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist. Das zeigt, dass es (zulässige) Rechtsmittel auch gegen eine vom Betroffenen/Angeklagten akzeptierte Rechtsfolge geben muss.

Das Amtsgericht hat in dem angefochtenen Urteil ausdrücklich die Heraufsetzung der Geldbuße von 600 auf 1.000 Euro damit begründet, dass der Betroffene vorsätzlich gehandelt hat. Auch wenn die festgesetzte Rechtsfolgen angesichts der Schwere eines Geschwindigkeitsverstoßes der vorliegenden Größenordnung – auch bei unterstellter fahrlässiger Begehung – mild erscheinen, kann der Senat deshalb letztlich nicht ausschließen, dass das Amtsgericht bei einer Würdigung der Tat als Fahrlässigkeitstat zu einer milderen Bestrafung gekommen wäre. Es kann auch letztlich nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht bei Durchführung der – mangels Zulässigkeit des Vorgehens nach  72 OWiG – erforderlichen Hauptverhandlung zu Erkenntnissen hätte kommen können, die  die Annahme einer fahrlässigen Begehungsweise hätten begründen können (vgl. dazu OLG Hamm, Beschl. v. 18.12.2012 – III – 1 RBs 166/12 – […]).“

Ich vermute mal, dass es Kommentare geben wird mit dem Tenor: Was das soll, denn der Betroffene habe ja erklärt, dass er mit den verhängten Rechtsfolgen einverstanden sei. Richtig, aber es ist immer noch etwas anderes, ob ich wegen vorsätzlicher oder wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt werde. Und: Auf (weiteres) rechtliches Gehör ist eben nur unter eine Bedingung verzichtet worden. Die ist aber nicht eingetreten.

Wiedereinsetzungsgrund Arbeitsüberlastung?

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Nicht aus einem Straf- oder Bußgeldverfahren stammt der BGH, Beschl. v. 08.05.2013 – XII ZB 396/12 -, sondern aus einem familienrechtlichen Verbundverfahren, in dem ein Antrag einer Ehefrau auf nachehelichen Unterhalt und auf Verteilung der Haushaltsgegenstände zurückgewiesen worden ist. Warum also hier ein Hinweis auf die Entscheidung, wird sich der ein oder andere Leser fragen? Kann oder macht Burhoff jetzt auch Familienrecht? Nun, ich kann beruhigen: Kann er nicht und macht er auch nicht. Der Beschluss ist aber m.E. deshalb einen Hinweis wert, weil er sich mit einer Wiedereinsetzungsproblematik befasst. die ggf. auch in Straf- und Bußgeldverfahren mal von Bedeutung werden könnte. Zwar wird in den Bereichen das Verschulden des Verteidigers dem Mandanten i.d.R. nicht zugerechnet, es gibt aber auch Verfahren, in denen zugerechnet wird, so z.B. beim Nebenkläger oder bei der Anhörungsrüge. Dann kann die vom BGH behandelte Problematik also Bedeutung erlangen.

In der vom BGH entschiedenen Sache war es zur Versäumung der Begründung der Beschwerdefrist beim OLG gekommen. Es wurde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, die damit begründet worden ist, dass am letzten Tag der Beschwerdebegründungsfrist aufgrund des unmittelbar bevorstehenden Urlaubsantritts des Verfahrensbevollmächtigten in dessen Kanzlei eine erheblich verstärkte Arbeitsbelastung bestanden habe. Außerdem sei ihm an diesem Vormittag telefonisch mitgeteilt worden, dass sein ehemaliger Sozius verstorben sei. Durch diese Nachricht sei der Verfahrensbevollmächtigte persönlich stark betroffen gewesen, weshalb ihm die Konzentration auf die an diesem Tage ohnehin massenhaft zu erledigenden Arbeiten schwer gefallen sei. Zudem hätten aufgrund des Todes des ehemaligen Sozius in der Kanzlei eine Reihe organisatorischer Maßnahmen besprochen und geregelt werden müssen.

Das OLG hat keine Wiedereinsetzung gewährt, der BGH hat das auf die Rechtsbeschwerde hin nicht beanstandet:

Eine erhebliche Arbeitsüberlastung des Rechtsanwalts kann eine Wiedereinsetzung nur dann ausnahmsweise rechtfertigen, wenn sie plötzlich und unvorhersehbar eingetreten ist und durch sie die Fähigkeit zu konzentrierter Arbeit erheblich eingeschränkt wird (vgl. Senatsbeschluss vom 1. Februar 2012 XII ZB 298/11 FamRZ 2012, 621 Rn. 16 mwN).

b) Auf dieser Grundlage ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Beschwerdegericht eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist abgelehnt hat.

Zwar ist der Rechtsbeschwerde einzuräumen, dass die erhöhte Arbeitsbelastung kurz vor seinem Urlaub und die Nachricht vom plötzlichen Tod seines ehemaligen Sozius für den Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin eine besondere Belastung dargestellt haben dürften. Gleichwohl handelte es sich nicht um eine Situation, die ihn von seiner anwaltlichen Pflicht, die Einhaltung von Rechtsmittelfristen sorgfältig zu überwachen, entbinden konnte. Insbesondere ist der erhöhte Arbeitsanfall an diesem Tag nicht plötzlich und unvorhersehbar eingetreten. Der Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin wollte am nächsten Morgen eine mehrtägige Urlaubsreise antreten. Am letzten Arbeitstag vor einem Urlaub ist es nicht ungewöhnlich, dass ein besonders großer Arbeitsanfall besteht. Die im Rahmen der Fristenüberwachung einzuhaltende Sorgfalt eines Rechtsanwalts hätte es daher erfordert, dass der Verfahrensbevollmächtigte seine Tätigkeit an diesem Tag so organisiert, dass vor seiner Abreise die notwendigen fristwahrenden Maßnahmen getroffen werden, zumal für diesen Tag nur noch die Rechtsmittelbegründungsfrist des vorliegenden Verfahrens in der Fristenliste notiert war. Hinzu kommt, dass nach dem eigenen Vortrag der Antragstellerin die Fristenkontrolle in der Kanzlei des Verfahrensbevollmächtigten so organisiert ist, dass jeder Anwalt eigenverantwortlich Rechtsmittelfristen überwacht. Auch deshalb wäre der Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin verpflichtet gewesen, vor dem Verlassen der Kanzlei an diesem Abend zu prüfen, ob sämtliche Fristsachen erledigt sind.

Im vorliegenden Fall hätte es zur Fristwahrung sogar ausgereicht, beim Beschwerdegericht einen Antrag auf Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist einzureichen, der mit der Arbeitsüberlastung hätte begründet werden können. Bei einem ersten Antrag auf Verlängerung einer Rechtsmittelbegründungsfrist sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine hohen Anforderungen an die erforderliche Darlegung der erheblichen Gründe für die Notwendigkeit der Fristverlängerung zu stellen. Der Anwalt kann vielmehr grundsätzlich erwarten, dass seinem Antrag entsprochen wird, wenn er einen der im Gesetz genannten Gründe vorträgt. Auf diese höchstrichterliche Rechtsprechung darf der Anwalt vertrauen; die unteren Instanzen dürfen aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit nicht zum Nachteil der betroffenen Parteien strengere Maßstäbe anlegen (BGH Beschluss vom 10. Juni 2010 V ZB 42/10 NJW-RR 2011, 285 Rn. 8 mwN).

Von dieser Verpflichtung, beim zuständigen Oberlandesgericht zumindest eine Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist zu beantragen, war der Verfahrensbevollmächtigte vorliegend auch nicht deshalb entbunden, weil er an diesem Tag von dem Tode seines ehemaligen Sozius erfahren hat. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat das Beschwerdegericht diesen Gesichtspunkt auch nicht übergangen. Es hat vielmehr zutreffend darauf hingewiesen, dass der Verfahrensbevollmächtigte trotz dieser Nachricht, die ihn sicherlich persönlich betroffen machte, in der Lage war, bis 23.00 Uhr an diesem Tag zu arbeiten und daher auch nicht soweit in seiner Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt war, dass er keinen Fristverlängerungsantrag mehr stellen konnte.“

Tja, schon ganz schön streng, obwohl man sich letztlich der Argumentation des BGH, dass ja zumindest Fristverlängerung hätte beantragt werden können, nicht verschließen kann. Danach stellt sich dann aber die Frage: Und wie ist mit Verfahren umzugehen, in denen – wie im Straf- und Bußgeldverfahren – eine Fristverlängerung nicht beantragt wird. Wäre mal interessant den BGH dazu zu hören. Würde da dann die Arbeitsüberlastung in Kombination mit dem Tod des Sozius reichen?

Fazit: Den Wiedereinsetzungsgrund Arbeitsüberlastung gibt es also wohl nicht. Darauf wird man sich zur Begründung eines Wiedereinsetzungsgesuchs kaum berufen können.  Und wenn: Im Zweifel wird man so argumentieren, dass eine Revision zumindest mit der allgemeinen Sachrüge hätte begründet werden können und dann ggf. Wiedereinsetzung nur noch wegen einer potentiellen Verfahrensrüge im Raum steht/stand.

Fotokopierkosten des Verteidigers – der Verteidiger ist kein „Aktenblätterer“

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Die Erstattung von Fotokopiekosten (Nr. 7000 VV RVG) ist ein weites Feld und ein Feld, auf dem es immer wieder Ärger mit den Kostenbeamten gibt, die in meinen Augen manchmal (zu) kleinlich über die Ersattungsanträge der Verteidiger entscheiden und u.a. die Anforderungen an den Nachweis zu hoch legen. dass es auch anders geht, ergibt sich m.E. aus unserem Posting Aus dem Rechtspflegerforum: “Kopiekosten per Fax nachgewiesen” – geht das? und: Es folgt auch aus dem LG Zweibrücken, Beschl. v. 29.05.2013 – Qs 37/13. Der befasst sich mit der Frage, welche Kosten nach der Verbindung von Verfahren zu erstatten sind. Dazu das LG:

„Kopierkosten sind dann zu erstatten, wenn sie sich als notwendig erweisen. Insoweit hat das Gericht dem Verteidiger ein Ermessensspielraum einzuräumen (Müller-Rabe in Gerold/Schmitt, RVG, 20. Auflage, VV 7000, Rnr. 20 m.w.N.). Die geltend gemachten Kopierkosten bewegen sich noch im einzuräumenden Ermessensspielraum. Insbesondere kann der Verteidiger nicht darauf verwiesen werden, dass ihm vor der Verbindung bereits die Ermittlungsakte zur Verfügung stand und er sich Kopien hieraus gefertigt hat. Das vorliegende Verfahren besteht aus insgesamt zwölf Bänden und sechs zunächst getrennt geführten Ermittlungsverfahren. Durch Verbindung der Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung wurden die Akten teilweise neu paginiert. Dem Verteidiger ist nicht zuzumuten, Blatt für Blatt zu kontrollieren, ob sich bereits die Seiten in Kopie in seiner Handakte befinden (so schon LG Kiel, JurBüro 1998, 258). Eine solche Tätigkeit ist angesichts des Aktenumfangs von mehr als 2000 Blatt mit einem unverhältnismäßig hohen Zeitaufwand verbunden. Darüber hinaus hätte der Verteidiger im Einzelnen kontrollieren müssen, ob sich die Seitenzahlen durch die Verbindungen geändert haben, weil es für eine sachgerechte Verteidigung notwendig ist, dass der Verteidiger zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung über eine Akte mit übereinstimmenden Paginierung zu dem des Gerichts verfügt. Somit waren die geltend gemachten Kopierkosten in Gänze zu erstatten.“

M.E. zutreffend. Der Verteidiger ist also kein „Aktenblätterer“.

 

Wenn schon (nachgeholte) Verfahrensrüge, denn schon = dann muss es aber auch passen…

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Das Urteil des BVerfG v. 19.03.2013 zur Verständigung (vgl. hier: Da ist die Entscheidung aus Karlsruhe: Die genehmigte Verständigung, der verbotene Deal ) wirft allmählich Wellen in der Rechtsprechung des BGH (vgl. dazu schon hier: Gedanken des BGH nach dem Absprache-Urteil des BVerfG: Der “Sonderstrafrahmen”). Der BGH, Beschl. v. 22.05.2013 – 4 StR 121/13 – behandelt in dem Zusammenhang einen interessanten Nebenaspekt:

Der Verteidiger des u.a. wegen versuchten Mordes verurteilten Angeklagten hatte gegen das Urteil des LG Passau v. 23.11.2012 Revision eingelegt. Über die war bei Erlass des Urteils des BVerfG vom 19.03.2013 noch nicht entschieden. Der Verteidiger hat dann einen Wiedereinsetzungsantrag zur Nachholung einer Verfahrensrüge gestellt, und zwar wollte er die Rüge des fehlenden Negativattestes (§ 273 Abs. 1a Satz 3 StPO) erheben (vgl. dazu das BVerfG, Urteil, a.a.O.).

Das ist beim BGH aus zwei Gründen gescheitert:

Grund 1: Die Rüge scheitert schon aus formalen Gründen, weil sie nicht den strengen Anforderungen des BGH an diese Rügen entsprochen hat. Schon das irritiert im Hinblick auf die erhobene Rüge. Wenn schon, denn schon..

Grund 2: Der vom BGH angeführte Grund 2 irritiert mich noch mehr. Der BGH führt aus:

„2. Auch bei Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bliebe die Rüge ohne Erfolg; denn sie wäre unbegründet. Aus dem Rügevorbringen ergibt sich, dass Verständigungsgespräche zu keinem Zeitpunkt stattgefunden haben (Schriftsatz vom 24. April 2013, S. 5 f.). Es kann somit sicher ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf eine gesetzwidrige „informelle“ Absprache oder diesbezügliche Gesprächsbemühungen zurückgeht (BVerfG, NJW 2013, 1058, 1067).“

Man fragt sich danach schon: Was soll dann mit der Rüge eigentlich  erreicht werden?

Was Amtsgerichte so ohne Pflichtverteidiger verhandeln …

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Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich lese, was bei AG alles ohne (notwendigen) Verteidiger/Pflichtverteidiger verhandelt wird, und ich frage mich: Warum eigentlich? Liegt es ggf. nur daran, dass der Angeklagte keinen Beiordnungsantrag gestellt hat oder hat es auch andere Gründe? Die Frage stellt sich auch, wenn man den OLG Saarbrücken, Beschl. v. 15.03.2013 – Ss 24/13 – liest. Dem liegen folgende Verfahrensumstände zugrunde:

  • Anklage wegen Erschleichens geringwertiger Leistungen in 9 Fällen mit einem Gesamtschaden von 40 €,
  • offen aus einem Gesamtstrafenbeschluss 1 Jahr und 9 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde (Bewährungszeit: 3 Jahre).
  • offen aus einem Urteil eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde (Bewährungszeit: 4 Jahre).
  • offen auch noch aus einem Gesamtstrafenbeschluss eine zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Monaten und 2 Wochen.

Das AG verurteilt den Angeklagten dann zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung, ein Pflichtverteidiger wird nicht beigeordnet. Den (für mich unverständlichen) Verfahrensfehler hat das OLG Saarbrücken repariert. Es hat das amtsgerichtliche Urteil wegen eines Verstoßes gegen § 338 Nr. 5 StPO aufgehoben. Es hat die Tat des Angeklagten als schwer i.S. des § 140 Abs. 2 StPO angesehen und daher einen Pflichtverteidiger für erforderlich gehalten. Und zwar:

„bb) Nach diesen Maßstäben war im vorliegenden Fall unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat die Bestellung eines Verteidigers geboten. Zwar ergab sich aus den dem Angeklagten zur Last gelegten Taten des Erschleichens der Beförderung durch ein Verkehrsmittel („Schwarzfahren“) aufgrund des geringen Werts des nicht entrichteten Entgelts (insgesamt rund 40,– €) auch unter Berücksichtigung der Anzahl der Taten und der Vorstrafensituation des Angeklagten keine erhebliche Straferwartung, sondern lediglich eine solche von deutlich unter einem Jahr (Gesamt-)Freiheitsstrafe. Dem Angeklagten droht jedoch im Falle einer Verurteilung der Widerruf der ihm hinsichtlich mehrerer gegen ihn verhängter Freiheitsstrafen von insgesamt 3 Jahren, 5 Monaten und 2 Wochen gewährten Strafaussetzung (§ 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 StGB). .,,

(2) Der Angeklagte hat daher selbst ohne Hinzurechnung der im vorliegenden Verfahren zu erwartenden Strafe aufgrund des drohenden Widerrufs der Bewährung in den anderen Sachen die Verbüßung mehrjähriger Haftstrafen zu gewärtigen. Das gilt umso mehr, als dem Angeklagten — wie im Übrigen das angefochtene Urteil zeigt — im Hinblick auf seine Vorstrafensituation, die hohe Rückfallgeschwindigkeit und sein mehrfaches Bewährungsversagen im vorliegenden Verfahren, auch wenn die ihm insoweit zur Last gelegten Straftaten dem Bereich der Bagatellkriminalität zuzurechnen sind, die Verhängung einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung droht. In einem solchen Fall ist es regelmäßig — wenn auch nicht zwingend — naheliegend, dass sich das über den Widerruf der Strafaussetzung entscheidende Vollstreckungsgericht der sach- und zeitnäheren Prognose des letzten Tatrichters anschließt (vgl. BVerfG NStZ 1985, 357 und NStZ-RR 2008, 26 f.; OLG Köln StV 1993, 429; OLG Düsseldorf VRS 89, 33, 34; VRS 91, 173; StV 1998, 214, 216; NZV 1998, 163; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 59, 60; Senatsbeschlüsse vom 16.6.2000 — 1 Ws 107/00 —, vom 31.1. 2001 – 1 Ws 13/01 —, vom 21.12.2005 — Ss 47/05 (57/05) — und vom 27.2.2013 — 1 Ws 28/13; Fischer, StGB, 58. Aufl.,, § 56f Rdnr. 8b). Es liegt auch kein trotz dieser drohenden einschneidenden mittelbaren Folgen einer Verurteilung einfach gelagerter Fall vor, der die Mitwirkung eines Verteidigers ausnahmsweise entbehrlich machen könnte (vgl. Senatsbeschluss vom 31.5.2012 — Ss 36/2012 (31/12); Meyer-Goßner, a.a.O., § 140 Rn. 23).“

Darauf hätte man m.E. als Amtsrichter auch selbst kommen können, oder?

Und für alle die, die jetzt fragen: Hat es was gebracht?, die Antwort: Ja, denn der Angeklagte ist nach Auskunft des Kollegen, der mir den OLG-Beschluss geschickt hat, in der neuen Hauptverhandlung dann nur noch zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung verurteilt worden.