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BVerfG II: Rechtliches Gehör/effektiver Rechtsschutz, oder: Wirksamkeit der Zustellung und Pflichtverteidiger

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In der zweiten Entscheidung des Tages behandelt das BVerfG noch einmal den Anspruch auf rechtliches Gehör und effektiver Rechtsschutz. Zugrunde liegt dem BVerfG, Beschl. v. 05.10.2020 – 2 BvR 554/20 – ein Strafbefehlsverfahren. Das AG hat den Einspruch des Beschuldigten als unzulässig, weil verspätet verworfen. Das beanstandet das BVerFG ebenso wie die nicht erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers. Hintergrund/Grundlage der Entscheidung: Es bestanden erhebliche Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Zustellung:

„….dd) Hieran gemessen kann den angegriffenen Entscheidungen nicht entnommen werden, dass sich die Fachgerichte eine ausreichende Überzeugung von der Wirksamkeit der Zustellung verschafft haben. Die Zustellung des Strafbefehls an den Beschwerdeführer erfolgte am 21. September 2019 durch Einlegen in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten, weshalb zwar keine Zweifel am Zugang des Schriftstücks als solchem bestanden. Allerdings hätten sich für die Fachgerichte hier infolge des Vortrags des Betreuers und des Verteidigers des Beschwerdeführers sowie aufgrund der Sachverständigengutachten Bedenken an der Wirksamkeit der Zustellung aufdrängen und zu einer Auseinandersetzung hiermit führen müssen.

(1) Das Amtsgericht hat im angegriffenen Beschluss zur Frage der Zustellung lediglich darauf hingewiesen, der Beschwerdeführer habe erst ab dem 16. Oktober 2019 unter Betreuung gestanden. Es hat damit erkennbar ausschließlich darauf abgestellt, dass die Zustellung an den Beschwerdeführer persönlich gerichtet werden konnte, da die Betreuung erst zu einem späteren Zeitpunkt eingerichtet wurde. Mit dem Vorbringen des Verteidigers im Schriftsatz vom 19. November 2019, der Beschwerdeführer sei infolge seiner Erkrankung „nicht prozessfähig“, hat sich das Amtsgericht indes nicht befasst. Der Umstand, dass die Betreuung zwar angeregt, aber durch das Betreuungsgericht noch nicht umgesetzt worden war, war jedenfalls ungeeignet, eine Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Zustellung zu belegen.

Eine Prüfung, ob der Beschwerdeführer am 21. September 2019 in der Lage war, eine selbstverantwortliche Entscheidung über grundlegende Fragen seiner Verteidigung zu treffen und die von ihm persönlich auszuübenden Verfahrensrechte sachgerecht wahrzunehmen, hat das Amtsgericht Augsburg in seinem Beschluss vom 22. Januar 2020 nicht vorgenommen. Die Schilderung des Verteidigers im Einspruchsschriftsatz und im Sachverständigengutachten vom 4. September 2019, wonach der Beschwerdeführer bei der Exploration für ein Betreuungsverfahren Ende August 2019 in hochgradig psychotischem Zustand infolge einer unbehandelten Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis angetroffen worden sei und sich in einem die Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung befunden habe, hätte das Amtsgericht veranlassen müssen, die Verhandlungsfähigkeit im Zeitpunkt der nur drei Wochen später erfolgten Zustellung zu überprüfen. Hierfür bestand umso mehr Anlass, als der Zustand des Beschwerdeführers Mitte Oktober 2019 nicht nur zur Einrichtung einer Betreuung, sondern auch zu seiner geschlossenen Unterbringung führte. Auch das Sachverständigengutachten stellt plastisch dar, in welchem Zustand sich der Beschwerdeführer in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Zustellungstermin befand. Er war hiernach nicht in der Lage, seine Lebensgrundlagen zu sichern oder auch nur Tätigkeiten wie die Entgegennahme und das Öffnen der Post selbst zu erledigen. Dass der unbehandelte und krankheitsuneinsichtige Beschwerdeführer im September 2019 in der Lage gewesen sein soll, die Bedeutung der Zustellung und des Strafbefehlsverfahrens zu erfassen, Konsequenzen hieraus zu ziehen und – gegebenenfalls unter Rückgriff auf Hilfspersonen – zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen, erscheint hiernach unwahrscheinlich. Die geistigen und psychischen Einschränkungen des Beschwerdeführers waren in diesem Zeitpunkt auch nicht durch die Inanspruchnahme verfahrensrechtlicher Hilfen ausgeglichen. Der Beschwerdeführer lebte Ende September 2019 unbetreut in seiner Wohnung. Anwaltlich beraten war er nicht. Daher lagen im vorliegenden Verfahren wesentliche Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Beschwerdeführer die zur Verteidigung erforderlichen Fähigkeiten fehlten, er verhandlungsunfähig und die Zustellung des Strafbefehls damit unwirksam war, sodass die Einspruchsfrist nicht in Gang gesetzt werden konnte.

Für eine Verwerfung des Einspruchs als unzulässig, weil verspätet, war hiernach kein Raum. Die vom Amtsgericht getroffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer insofern in seinen grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs.1 sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Der angegriffene Beschluss beruht auf diesen Verfassungsverstößen.

(2) Das Landgericht Augsburg hat die Verfassungsverstöße des Amtsgerichts durch seine Beschwerdeentscheidung fortgesetzt. Es hat die Bedeutung der Verhandlungsfähigkeit für die Wirksamkeit der Zustellung verkannt. Das Landgericht hat sich zur Begründung seiner Entscheidung die Ausführungen des Amtsgerichts Augsburg zur Verwerfung des Strafbefehls in seinem Beschluss vom 25. Februar 2020 – ohne weitere Erwägungen – zu eigen gemacht. Auch im Beschluss über die Anhörungsrüge und Gegenvorstellung wird die Wirksamkeit der Zustellung vom Gericht nicht aufgegriffen. Soweit sich das Gericht mit dem Begriff der Verhandlungsfähigkeit befasst, geschieht dies ausschließlich mit Blick auf die für den Wiedereinsetzungsantrag erforderliche unverschuldete Fristversäumung. Eine konkrete Erörterung der individuellen Situation des Beschwerdeführers, die durch das zur Strafakte gelangte psychiatrische Betreuungsgutachten vom 4. September 2019 belegt und im fachgerichtlichen Verfahren vom Verteidiger vorgetragen wurde, hat auch das Landgericht nicht vorgenommen. Die pauschale Einschätzung des Gerichts, wonach der Beschwerdeführer nicht verhandlungsunfähig gewesen sei, erweist sich deshalb als nicht tragfähig und wird den Grundrechten des Beschwerdeführers nicht gerecht.

2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich auch im Hinblick auf die Ablehnung der Bestellung eines Pflichtverteidigers als begründet. Die Entscheidungen der Fachgerichte, mit denen eine Bestellung des Bevollmächtigten zum Pflichtverteidiger abgelehnt wurde, verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes). Die Gerichte waren hier von Verfassung wegen verpflichtet, dem Beschwerdeführer für das fachgerichtliche Verfahren einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers (§§ 140 ff. StPO) stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar. Die Verfassung selbst will sicherstellen, dass der Beschuldigte auf den Gang und das Ergebnis des gegen ihn geführten Strafverfahrens Einfluss nehmen kann. Ihm ist von Verfassung wegen jedenfalls dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn es nach der konkreten Fallgestaltung, insbesondere bei Besonderheiten und Schwierigkeiten im persönlichen Bereich, als evident erscheint, dass er sich angesichts seiner Erkrankung nicht selbst verteidigen kann (vgl. hierzu BVerfGE 63, 380 <391>; 70, 297 <323>). Dass diese Voraussetzungen im Fall des Beschwerdeführers vorlagen, bedarf nach dem Vorstehenden keiner näheren Erläuterung. Der Beschwerdeführer war infolge seiner Erkrankung im fachgerichtlichen Verfahren ersichtlich nicht in der Lage, die Besonderheiten des Sachverhalts und des Verfahrensgangs zu erfassen und durch geeignetes Vorbringen zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen.“

OWi II: Zustellung des Bußgeldbescheides, oder: Erschütterung der Beweiskraft der ZU

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt mit dem OLG Oldenburg, Beschl. v. 08.09.2020 – 2 Ss (OWi) 195/20 – aus dem hohen Norden. Es geht um die Beweiskraft einer/der Zustellungsurkunde und zu den Anforderungen an deren Erschütterung bzw. Widerlegung. Eine Frage, die ja nicht nur im Bußgeldverfahren, sondern auch im Strafverfahren von Bedeutung ist.

Das OLG hat die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen seine Veurteilung wegen eines Abstandsverstoßes verworfen:

„Die Nachprüfung des Urteils lässt keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Betroffenen erkennen. Insbesondere greift der Verjährungseinwand nicht durch.

II.

Zugrunde liegt folgender Geschehensablauf:

Der Betroffenen wird eine am TT.MM.2019 begangene Abstandsunterschreitung vorgeworfen. Unter dem Datum vom 09.08.2019 ist sie hierzu angehört worden.

Mit Schreiben vom 14.08.2019 hat das Verteidigerbüro CC und DD die Interessenvertretung der Betroffenen angezeigt. Beigefügt war eine Vollmacht dieses Datums, u.a. ausgestellt auf Rechtsanwalt BB, nicht aber auf Rechtsanwalt CC.

Die Zustellung des Bußgeldbescheides vom 01.10.2019 sollte an Rechtsanwalt BB erfolgen.

In der Zustellungsurkunde vom 04.10.2019 ist angekreuzt, dass das Schriftstück unter der Zustellungsanschrift an Frau DD -eine im Verteidigerbüro tätige Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte- übergeben worden sei, weil der Zusteller den Adressaten in den Geschäftsräumen nicht erreicht habe.

Unter dem Datum vom 18.10.2019 legte Rechtsanwalt CC Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Als Anlage zu Protokoll der Hauptverhandlung vom 22.05.2020 findet sich eine am 18.10.2019 u.a. auf Rechtsanwalt CC ausgestellte Vollmacht.

Mit Schriftsatz vom 02.03.2020 erhob Rechtsanwalt BB, der auch an der Hauptverhandlung teilgenommen hat, die Verjährungseinrede. Er machte geltend, dass die Zustellung nicht an den in der Kanzlei anwesenden Verteidiger – Rechtsanwalt BB- sondern an die Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte erfolgt sei. Nachgereicht wurde hierzu ein Aktenvermerk vom 04.10.2019, wonach am Freitag 04.10.2019 gegen 10:00 Uhr der Postbote mit einer förmlichen Zustellung für Rechtsanwalt BB in die Geschäftsräume der Rechtsanwaltskanzlei gekommen sei. Dieser habe sich ebenfalls „im Gebäude“ befunden. Auf Nachfrage, ob Rechtsanwalt BB „dieses“ gegenzeichnen solle, habe der Postbote das verneint und nur den Namen der Angestellten erfragt, diesen aufgeschrieben und das Gebäude wieder verlassen.

Der Aktenvermerk weist als Ausstellerin die Angestellte DD aus, ist aber nicht unterschrieben.

III.

Bei dieser Sachlage bedarf es der Aufklärung über den Hergang der Zustellung des Bußgeldbescheides nicht.

1. Es ist nämlich bereits von einer wirksamen Zustellung des Bußgeldbescheides auszugehen:

Die Beweiskraft der Zustellungsurkunde erstreckt sich darauf, dass der Postbedienstete den Adressaten (und bei der -hier nicht erfolgten- Niederlegung: auch eine zur Entgegennahme einer Ersatzzustellung in Betracht kommende Person) nicht angetroffen hat (vgl. nur BFH GmbHR 2015, 776).

Derjenige, der sich auf die Unwirksamkeit der Zustellung beruft, muss den Nachweis eines anderen Geschehensablaufes erbringen (BFH a.a.O.).

Der Betroffene hat über seinen Verteidiger lediglich den oben wiedergegebenen Aktenvermerk der Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten DD vorgelegt.

Zum einen ist durch die Frage, ob Rechtsanwalt BB „gegenzeichnen soll“, schon nicht gesagt, dass auch dem Zusteller die Anwesenheit von Rechtsanwalt BB zum Zustellungszeitpunkt und insbesondere auch dessen Möglichkeit und Bereitschaft, gerade zu diesem Zeitpunkt die Zustellung entgegenzunehmen, mitgeteilt worden ist. In der widerspruchslosen Entgegennahme durch eine in den Geschäftsräumen beschäftigte Person, liegt nämlich vielmehr zugleich die (konkludente) Erklärung, der Zustellungsadressat sei abwesend bzw. an der Entgegennahme verhindert (BGH NJW-RR 2015, 702). Zu einer Nachfrage war der Zusteller nicht verpflichtet. Es reicht aus, dass er den Zustellungsadressaten in dem Geschäftsraum, in dem sich der Publikumsverkehr abspielt, nicht antrifft (BGH a.a.O.).

Damit fehlt es schon an einem ausreichend schlüssigen Vortrag, der die Beweiskraft der Zustellungsurkunde erschüttern könnte. Erforderlich ist nämlich „insoweit jedoch eine vollständige Beweisführung, insbesondere eine substantiierte Darlegung und der Nachweis des Gegenteils (Zöller/Stöber § 182 Rn. 15; Meyer-Goßner StPO 54. Aufl. § 37 Rn. 27; KK/Maul StPO 6. Aufl. § 37 Rn. 26; HK/Gercke StPO 4. Auf. § 37 Rn. 28; Radtke/Hohmann-Rappert StPO § 37 Rn. 35, jeweils m.w.N.). Im Falle des § 180 ZPO ist der volle Beweis eines anderen als des beurkundeten Geschehens, der notwendig ein Fehlverhalten des Zustellers und eine objektive Falschbeurkundung belegt, in der Weise erforderlich, dass die Beweiswirkung der Zustellungsurkunde vollständig entkräftet und jede Möglichkeit der Richtigkeit der in ihr niedergelegten Tatsachen ausgeschlossen ist (Zöller/Geimer §418 Rn. 3 a.E. a.E.; vgl. aus der Rspr. insbesondere BGH NJW 2006, 150 ff. = DAR 2006, 91 ff.; ferner OLG Düsseldorf JurBüro 1995, 41 = OLGSt StPO §45 Nr. 11; BFH NJW 1997, 3264 und zuletzt OLG Frankfurt NStZ-RR 2011, 147 f.).“ (OLG Bamberg, Beschluss vom 22. Februar 2012 – 3 Ss OWi 100/12 –, Rn. 8, juris).

Darüber hinaus ist der Vortrag auch nicht nur nicht glaubhaft gemacht worden, sondern der Aktenvermerk ist noch nicht einmal von der Mitarbeiterin, von der er zu stammen scheint, unterschrieben worden.

2. Im Übrigen wäre durch den vom Amtsgericht unwidersprochen gebliebenen tatsächlichen Zugang des Bußgeldbescheides am 18.10.2019 bei Rechtsanwalt CC und Erteilung der Vollmacht, Heilung eingetreten (vgl. BGH NJW 1989, 1154; NJW-RR 2011, 417 zu § 187 ZPO aF bzw. § 189 ZPO).“

StPO II: Urteilsformel „Wir machen das jetzt so: Freispruch“

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Die zweite Entscheidung kommt vom OLG Köln. Das hat im OLG Köln, Beschl. v. 31.03.2020 -III 1 Rvs 58/20  über einen in meinen Augen „leicht atypischen“ Sachverhalt entschieden, und zwar.

Am 15.01.2020 hat vor dem AG Köln – Schöffengericht – die Hauptverhandlung gegen die drei An­geklagten stattgefunden; verfahrensgegenständlich sind Taten vom 13.10.2018, die die Staatsanwaltschaft gemäß Anklage vom 04.06.2019 als Raub und Freiheitsberaubung angeklagt hat. Das Hauptverhandlungsprotokoll vom 15.01.2020 weist folgenden Eintrag auf:

„Die Schöffen signalisieren nach Blickkontakt mit dem Richter ihre Zustimmung. Der Vorsitzende Richter erklärt sodann: Dann machen wir das so: Freispruch.“

Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Ausspruch ein Rechtsmittel eingelegt, das am 16.01.2020 beim AG eingegangen ist. Der Vorsitzende des Schöffengerichts ist ausweislich seines Aktenvermerks vom 03.02.2020 der Ansicht, es sei kein rechtswirksames Urteil ergangen; er beabsichtigt, einen neuen Hauptverhandlungstermin zu bestimmen. Diesen Aktenvermerk hat er der Staatsanwaltschaft „U.m.A. unter Hinweis auf obigen Vermerk zur Kenntnis und ggf. Stellungnahme“ übersandt. Wann die Akte bei der Staatsanwaltschaft eingegangen ist, ist nicht aktenkundig. Mit Verfügung vom 18.02.2020 hat die Staatsanwaltschaft um Absetzung des Urteils gebeten und Ausführungen dazu gemacht, dass nach ihrer Auffassung das Gericht ein (freisprechendes) Urteil verkündet habe. Mit Verfügung vom 05.03.2020 hat der Vorsitzende an seiner Rechtsauffassung festgehalten, bei der Staatsanwaltschaft „angefragt“ ob an dem Rechtsmittel festgehalten wird und um Spezifizierung als Berufung oder Revision gebeten. Ein schriftliches Urteil ist bislang nicht abgesetzt worden. Mit Verfügung vom 10.03.2020 hat die Staatsanwaltschaft das Rechtsmittel als Revision bezeichnet. Der Vorsitzende des Schöffengerichts hat die Akte im Hinblick darauf (unmittelbar) dem Senat vorgelegt.

Das OLG hat die Akten zurückgegeben und meint:

„Eine Entscheidung des Senats ist nicht veranlasst.

Zwar hat das Amtsgericht in der Hauptverhandlung vom 15. Januar 2020 ein rechtswirksames Urteil verkündet, gegen das die Staatsanwaltschaft fristgerecht „Rechtsmittel“ eingelegt hat. Da das Urteil aber bisher nicht wirksam zugestellt wurde, wurde auch die Revisionsbegründungsfrist, innerhalb derer eine Spezifizierung des Rechtsmittels erfolgen kann, nicht in Gang gesetzt. Die Akte ist daher an das Amtsgericht zurückzugeben, damit die Zustellung bewirkt werden kann.

1. Das freisprechende Erkenntnis des Amtsgerichts vom 15. Januar 2020 stellt ein rechtwirksames Urteil dar, gegen das ein Rechtsmittel statthaft ist.

Wesentlicher Teil der Urteilsverkündung ist die Verlesung der Urteilsformel; fehlt sie, so liegt kein Urteil im Rechtssinne vor (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage, § 268 Rn. 5 m.w.N.). Demnach enthält die Urteilsformel den eigentlichen Urteilsausspruch. § 173 Abs. 1 GVG bezeichnet sie sogar als das „Urteil“. Ist die Formel nicht verkündet, so liegt deshalb kein Urteil im Rechtssinne vor (vgl. BGHSt 8, 41 ff, zitiert nach juris, Rn. 8).

Ausweislich des Sitzungsprotokolls, welchem nach § 274 StPO formelle Beweiskraft zukommt, hat der Vorsitzende des Schöffengerichts in der Hauptverhandlung eine Urteilsformel verkündet. Zwar verstieß die Verfahrensweise des Tatrichters gegen die Verfahrensvorschrift des § 268 Abs. 2 S 1 StPO, weil – wie sich aus dem von ihm selbst niedergelegten Aktenvermerk vom 3. Februar 2020 ergibt – der Tenor nicht zuvor schriftlich niedergelegt und nicht durch Verlesung verkündet wurde.  Eine verkündete Urteilsformel begründet jedoch auch dann ein rechtswirksames und damit rechtsmittelfähiges Urteil, wenn eine Urteilsformel verkündet wird, die zuvor nicht oder nicht vollständig schriftlich niedergelegt wurde (vgl. so wohl in der Tendenz auch Beck-OK-Peglau, § 268 Rn. 4: „fraglich“). Der Sinn und Zweck des Erfordernisses, die Urteilsformel zunächst zu verschriftlichen und sodann zu verlesen, besteht darin, die Übereinstimmung zwischen der verkündeten Urteilsformel und der protokollierten und in das schriftliche Urteil übergehenden Formulierung zu sichern (vgl. RGSt 16, 347, 349). Diese Sicherungs- und Beweiszwecke führen aber nach Auffassung des Senats nicht dazu, dieses in der Prozessordnung vorgesehene Erfordernis als konstitutiv für die Rechtswirksamkeit eines Urteils anzusehen. Denn das Gericht hat, indem es einen Tenor verkündet hat, eine Entscheidung über den Anklagegenstand treffen wollen und tatsächlich getroffen, eine solche Entscheidung ausgesprochen und schließlich protokolliert. Einen Grund, darin gleichwohl ein „Nichts“, mithin eine „nichtige“ richterliche Entscheidung zu sehen, ist nicht erkennbar. Gegen ein konstitutives Erfordernis in diesem Sinne spricht – im Sinne einer Kontrollüberlegung – im Übrigen auch, dass die Strafprozessordung keinerlei Regelungen enthält oder Vorgaben dazu macht, an welcher Stelle eine Verschriftlichung vor Verlesung zu erfolgen hat bzw. dass eine solche etwa zum Gegenstand der Akte gemacht werden müsste.

Auch wenn die von dem Vorsitzenden des Schöffengerichts verkündete Urteilsformel „Wir machen das jetzt so: Freispruch“ einen umgangssprachlichen und von üblichen Tenorformulierungen deutlich abweichenden Wortlaut hat, war für alle Verfahrensbeteiligten – die im Übrigen auch zuvor übereinstimmend „Freispruch“ beantragt hatten – der verkündete Ausspruch in seinem Sinngehalt eindeutig. Die Angeklagten sind damit in erster Instanz rechtswirksam freigesprochen worden.

2. Das hiergegen gerichtete „Rechtsmittel“ der Staatsanwaltschaft ist unter dem 16. Januar 2020 rechtzeitig eingelegt worden. Eine Behandlung als (Sprung)Revision und Entscheidung hierüber durch den Senat als Revisionsgericht kann aber derzeit nicht erfolgen, weil die Frist zur Begründung einer Revision mangels Zustellung des Urteils noch nicht in Gang gesetzt worden ist und damit auch nicht abgelaufen sein kann.

Solange sich der Beschwerdeführer nicht endgültig und verbindlich für die Wahl der Revision entscheidet, ist das von ihm eingelegte Rechtsmittel eine Berufung (BGHSt 33, 183, 189 = NJW 1985, 2960, 2961; SenE v. 15.10.1991 – Ss 481/91 – = NStZ 1992, 204, 205; OLG Köln 3. StrS MDR 1980, 690 = VRS 59, 436). Die endgültige Wahl zwischen Berufung und Revision muss bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO getroffen werden (BGHSt 40, 398; Meyer-Goßner, a.a.O., § 335 Rn. 3). Dies setzt denknotwendig voraus, dass eine Revisionsbegründungsfrist überhaupt in Gang gesetzt wurde.

Die Frist zur Begründung der Revision, die auch maßgeblich ist für die Spezifizierung eines zunächst unbenannt eingelegten Rechtsmittels, ergibt sich aus § 345 Abs. 1 StPO.  Danach beginnt die Monatsfrist regelmäßig mit der Zustellung des schriftlichen Urteils. Nach § 275 Abs. 1 StPO ist das schriftliche Urteil, sofern es nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen ist, unverzüglich zu den Akten zu bringen. Dies muss spätestens fünf Wochen nach der Verkündung geschehen. Nach Ablauf der Frist dürfen die Urteilgründe nicht mehr geändert werden. Dementsprechend genügt für den Fristbeginn die Zustellung der Urteilsformel, wenn Gründe nicht vorhanden sind oder wenn Gründe verloren gegangen sind, die nicht wiederhergestellt werden können (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 345 Rn. 5).

Der – ungewöhnliche und von der Prozessordnung nicht vorgesehene – Fall, dass es keine Urteilsgründe gibt (und nach Ablauf von fünf Wochen nach Verkündung auch nicht mehr geben kann), weil der Vorsitzende rechtsirrig die Auffassung vertritt, er habe gar kein Urteil gesprochen und daher davon absieht, schriftliche Urteilsgründe zur Akte zu bringen, ist nach Auffassung des Senats mit Blick auf den Beginn der Revisionsbegründungsfrist entsprechend zu behandeln, d.h. maßgeblich ist die Zustellung der Urteilsformel. Auch eine solche ist aber bisher nicht erfolgt. Zwar hat der Vorsitzende des Schöffengerichts unter dem 3. Februar 2020 die Übersendung der Hauptakte „zur Kenntnis- und Stellungnahme“ an die Staatsanwaltschaft verfügt, dies jedoch formlos und nicht unter Hinweis auf und nach Maßgabe des insoweit einschlägigen § 41 StPO. Darin vermag der Senat schon deswegen keine förmliche Zustellung zu erkennen, weil  entgegen § 41 Abs. 1 S 2 StPO der „Tag der Vorlegung“ von der Staatsanwaltschaft nicht auf der Urschrift vermerkt wurde, so dass sich der Tag des Fristbeginns auch nicht feststellen lässt.

Ist die Revisionsbegründungfrist nicht in Gang gesetzt, konnte das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft durch die nachfolgende Verfügung vom 10. März 2020 – deren Eingang bei Gericht sich ebenfalls nicht aus der Akte ergibt – auch nicht verbindlich und rechtswirksam zur Revision bestimmt werden. Damit wirkt es sich nicht aus, dass der Senat den Zuschriften der Staatsanwaltschaft bis heute keine zulässige Revisionsbegründung in Gestalt einer zulässig erhobenen Verfahrens- oder Sachrüge entnehmen kann.

3. Der Senat gibt die Sache daher an das Amtsgericht zur Bewirkung einer förmlichen Zustellung der Urteilsformel zurück.

Für die weitere Verfahrensweise regt der Senat an, den Übergang zur Sprungrevision zu überdenken. Würde das Rechtsmittel fristgerecht zur Revision bestimmt und würde die Staatsanwaltschaft – was bisher nicht erfolgt ist – die Revision nach Maßgabe des § 344 Abs. 2 StPO zulässig begründen, würde dies nach den Regelungen des § 349 StPO die Durchführung einer mit erheblichen Kosten verbundenen Revisionshauptverhandlung erforderlich machen, die nach derzeitigem Sachstand ohne Sachprüfung schon deshalb zur Urteilsaufhebung führen könnte, weil das Urteil keine schriftlichen Gründe hat. Auch um weitere zeitliche Verzögerungen zu vermeiden, erscheint es daher sachgerechter, das Rechtsmittel in der Tatsacheninstanz als Berufung durchzuführen.“

Beratungshilfe auch noch nach Zustellung der Anklage, oder: Ja, das geht

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Auch in Corona-Zeiten gibt es am Freitag  RVG-Entscheidungen. Denn es gibt ja auch eine Zeit nach Corona 🙂 .

Und heute beginne ich die Reihe mit dem AG Bad Segeberg, Beschl. v. 03.03.2020 – 18 UR II 808/19. In ihm geht es um die Frage: Kann Beratungshilfe auch noch nach Zustellung der Anklageschrift bewilligt werden? Das AG sagt: Ja:

Die Erinnerung ist auch begründet, weil dem Antragsteller Beratungshilfe zu bewilligen war. Dies deshalb, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des § 1 BerhG vorliegen. Der Antragsteller ist zunächst als Bezieher sog. Grundsicherung bedürftig und kann die erforderlichen Mittel der Rechtsberatung nicht aufbringen. Andere Möglichkeiten als die Inanspruchnahme eines Rechtsanwaltes stehen dem Betroffenen nicht zur Verfügung, auch ist sein Begehren nicht mutwillig.

Die Voraussetzung der Bewilligung von Beratungshilfe liegen auch trotz des Umstandes vor, dass zum Zeitpunkt der Mandatierung eines Rechtsanwaltes durch den Antragsteller ihm die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel bereits zugestellt worden war. Denn der in § 1 Abs. 1 BerHG genannte Tatbestand des Ausschlusses der Beratungshilfe infolge eines „gerichtlichen Verfahrens“ liegt in der vorliegenden Konstellation zur Überzeugung des Gerichtes nicht vor.

Die Frage, wann in Strafsachen in zeitlicher Hinsicht für eine Beratung des Beschuldigten bzw. Angeklagten Beratungshilfe gewährt werden kann, wird nicht einheitlich beantwortet. In der Literatur wird einerseits vertreten, dass die Zustellung der Anklageschrift bzw. des Strafbefehls den Endpunkt der Bewilligungsmöglichkeit darstellen soll (PollerHärtl/Köpf-Köpf, Gesamtes Kostenhilferecht, § 1 BerHG, Rz. 40, inhaltlich identisch Köpf, Beratungshilfegesetz, § 1, Rz. 40). Auf der anderen Seite besteht auch die Auffassung, dass in entsprechenden Verfahren die Bewilligung der Beratungshilfe so lange möglich sein soll, wie kein Pflichtverteidiger bestellt worden ist (Burhoff/Volpert-Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen Rz. 290). Die Rechtsprechung vertritt, soweit erkennbar, einhellig die letztgenannte Auffassung (AG Augsburg v. 9.9.1988 -1 UR II 1058, iuris; AG Köln v. 13.2.1984 -662 UR II 1514/82, iuris). Diese ist inhaltlich zutreffend. Die in § 1 Abs. 1 BerHG aufgenommenen Schranke der Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch den Passus „außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens“ ist inhaltlich konsequent vor dem Hintergrund, dass in zivil- und familiengerichtlichen Verfahren vor den Gerichten zwei verschiedene Möglichkeiten der Prozess- bzw. Verfahrensführung für bedürftige Personen durch die Institute der Prozesskosten- und Verfahrenskostenhilfe bestehen. Insofern besteht die aus dem Sozialstaatsprinzip abzuleitende Zugangsmöglichkeit bedürftiger Verfahrensbeteiligter zu den Gerichten in nahtloser Abfolge von Beratungs-, Prozesskosten- und Verfahrenskostenhilfe. Diese Systematik besteht für den Beschuldigten bzw. Angeklagten im Strafverfahren nicht. Hier gibt es zwar das Institut der Pflichtverteidigung aus § 141 StPO, welches auf die Regelung zur notwendigen Verteidigung aus § 140 StPO aufbaut. Bei ihm finden allerdings die Kriterien der Bedürftigkeit, des Erfolges der beabsichtigten Rechtsverfolgung sowie der fehlenden Mutwilligkeit keinerlei Berücksichtigung. Ausschlaggebend ist vielmehr allein der Gesichtspunkt der Fürsorge des Staates, wie er auch bei der Verfahrenspflegerbestellung bzw. des Verfahrensbeistandes im Rahmen des Gesetzes zur Regelung des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit aufzufinden ist. Aus diesem Grunde ist die Pflichtverteidigerbestellung auch nicht abhängig von einer willentlichen Handlung seitens des Beschuldigten oder Angeklagten in Gestalt eines Antrages oder der Darlegung von persönlichen bzw. objektiven Voraussetzungen, sondern allein von der rechtlichen Einschätzung des Gerichtes. Damit aber greift der maßgebliche Gesichtspunkt, der zur Aufnahme des in § 1 Abs. 1 BerHG genannten Ausschlusses der Beratungshilfe infolge eines „gerichtlichen Verfahrens“ geführt hat, nicht ein. Denn dieser besteht ja nicht darin, Hilfe generell zu versagen, sondern nur darin, die zugrunde liegenden Systeme der antragsabhängigen Hilfebewilligung zeitlich randscharf abzugrenzen. Und dieser Gesichtspunkt greift in Strafverfahren nicht. Dort besteht gerade kein nahtloser Übergang verschiedener Möglichkeiten bedürftiger Personen, rechtliche Beratung außerhalb oder während eines gerichtlichen Verfahrens in Anspruch zu nehmen. Wollte man nun die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Beratungshilfe nach Zustellung der Anklageschrift oder des Strafbefehles versagen, so würde einem wirtschaftlich Bedürftigen, gegen den die öffentliche Klage erhoben wird und der vom Gericht keinen Pflichtverteidiger bestellt bekommt, gleichsam von einem Tag auf den anderen die Möglichkeit genommen, sich in der rechtlich höchst prekären Situation einer konkreten Strafverfolgung rechtlich kompetenten Rat in Anspruch zu nehmen. Hierfür allerdings besteht durchaus ein Bedürfnis, da die Fragen der Folgen eines Strafverfahrens, einer etwaigen Einlassung in der Hauptverhandlung, des Ablaufes des Gerichtstermines an sich pp. wegen der einschneidenden Folgen eines Strafverfahrens nicht durch anderweitige Erkenntnisquellen mit der notwendigen Sicherheit beantwortet werden können. Diese Folgen aber können nicht in der Intention des aus dem Sozialstaatsgebot ausfließenden Beratungshilfegesetzes gelegen haben.“

Und hier – weil im Beschluss zitiert – mal wieder der Hinweis auf „Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 5. Aufl.,“ den man – auch in Corona-Zeiten hier bestellen kann – für die Zeiten nach Corona 🙂 .

Keine wirksame Zustellung am Flughafen durch die Polizei, oder/aber: Heilung durch Übergabe einer Kopie

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Heute dann mal ein „Zustellungstag“ bzw. ein Tag mit Entscheidungen, die mit Zustellungsfragen und Fristen zusammenhängen.

Und da kommt zunächst der LG Aachen, Beschl. v. 29.10.2019 – 86 Qs 16/19. Es geht um die Wirksamkeit der Zustellung eines Strafbefehls durch die Polizei. Die Entscheidung hatte folgenden Sachverhalt:

„Das Amtsgericht Aachen hat gegen die Angeklagte am 22.08.2018 einen Strafbefehl erlassen. Mehrere Zustellversuche an der Wohnanschrift der Angeklagten in Kelmis/Belgien scheiterten.

Daraufhin regte die Staatsanwaltschaft Aachen mit Verfügung vom 11.06.2019 beim Amtsgericht Aachen an, die polizeiliche Zustellung des Strafbefehls vom 22.08.2018 nach Hinterlegung beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen anzuordnen. Der zuständige Richter beim Amtsgericht verfügte antragsgemäß mit folgendem Wortlaut:

„Die polizeiliche Zustellung nach Hinterlegung des Strafbefehls vom 22.08.2018, Az.: 454 Cs 240/18 beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen wird gemäß § 36 StPO angeordnet.“

Am 16.07.2019 teilte die Bundespolizeiinspektion Flughafen Köln-Bonn mit, der Angeklagten sei im Rahmen einer Ausreisekontrolle des Fluges PC7492 nach Izmir gerade der Strafbefehl gegen Empfangsbestätigung ausgehändigt worden.

Mit Schriftsatz vom 02.08.2019, eingegangen bei Gericht am selben Tag, hat dann der Verteidiger Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt und beantragt, der Angeklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Angeklagte sei nach der Übergabe des Strafbefehls am Flughafen bis zum 02.08.2019 in den Urlaub geflogen. Man habe ihr bei der Übergabe am Flughafen erklärt, dass sie zunächst in den Urlaub fahren könne. Sie habe die Rechtsbehelfsbelehrung:daher erst nach dem Urlaub zur Kenntnis genommen.

Das AG hat den Einspruch gegen den Strafbefehl verworfen und den Wiedereinsetzungsantrag abgelehnt, da der vorgetragene Wiedereinsetzungsgrund nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden sei. Dagegen die Beschwerde, die beim LG keinen Erfolg hatte:

„1. Das Amtsgericht geht in seiner Entscheidung im Ansatz zutreffend davon aus, dass die Einspruchsfrist zum Zeitpunkt der Einlegung des Einspruchs bereits abgelaufen war. Es ist zwar nicht von einer ordnungsgemäßen Zustellung des Einspruchs auszugehen. Der Fehler in der Zustellung wurde jedoch nach §§ 37 Abs. 1 StPO, 189 ZPO durch Übergabe der Kopie des Strafbefehls am 16.07.2019 geheilt.

a) Das Amtsgericht hat die polizeiliche Zustellung des Strafbefehls nach Hinterlegung beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen verfügt, da weder eine postalische noch eine diplomatische Zustellung bei der Angeklagten zu bewirken war.

Die dementsprechend verfügte Zustellung durch eine andere Behörde als die Post oder einen Justizbediensteten kann nach §§ 37 Abs. 1 StPO, 168 Abs. 2 ZPO mittels Beauftragung durch den Vorsitzenden des Prozessgerichts erfolgen, wenn eine Zustellung nach §§ 37 Abs. 1 StPO, 168 Abs. 1 ZPO keinen Erfolg verspricht. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Die Ausführung des so erfolgten Zustellauftrages an eine andere Behörde, worunter die ausführende (Bundes-)Polizei fällt, richtet sich nach §§ 37 Abs. 1 StPO, 176 Abs. 1 ZPO. Danach übergibt die Geschäftsstelle das zuzustellende Schriftstück in einem verschlossenen Umschlag sowie ein vorbereitetes Formular einer Zustellungsurkunde. Dieses Erfordernis des verschlossenen Umschlags dient dem Schutz der Persönlichkeitssphäre des Adressaten (vgl. Häublein in Münchener Kommentar zur ZPO, § 176 Rn. 4). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ist die Zustellung unwirksam (vgl. Häublein in Münchener Kommentar zur ZPO, § 176 Rn. 4).

Der Akte lässt sich nicht entnehmen, dass der Strafbefehl den vorgenannten Anforderungen an eine ordnungsgemäße Zustellung entsprechend in einem verschlossenen Umschlag übergeben wurde. Es auch nicht davon auszugehen, dass der übergebene Strafbefehl die Anforderungen des §§ 37 Abs. 1 StPO, 169 Abs. 2 ZPO erfüllt. Danach ist das zuzustellende Schriftstück von der Geschäftsstelle zu beglaubigen. Angesichts der Durchführung der hier gewählten „Zustellart“ der polizeilichen Zustellung nach Hinterlegung beim Landeskriminalamt ist nicht davon auszugehen, dass diese gesetzlichen Anforderungen gewahrt sind. Der seitens der Bundespolizeiinspektion Flughafen Köln-Bonn übermittelte Vermerk legt vielmehr nahe, dass der Strafbefehl im dortigen System hinterlegt und entsprechend am Flughafen als einfache Kopie ausgedruckt und übergeben wurde. Eine andere Vorgehensweise erscheint kaum praktikabel.

Diese Vorgehensweise verstößt jedoch gegen die vorgenannten zwingenden Zustellvorschriften. Es ist daher von der Unwirksamkeit der gewählten „Zustellung“ auszugehen.

b) Gleichwohl hat die Angeklagte tatsächlich Kenntnis von dem Strafbefehl durch Übergabe der einfachen Kopie am 16.07.2019 erlangt. Die oben ausgeführte Verletzung der zwingenden Zustellungsvorschriften ist daher nach §§ 37 Abs. 1 StPO, 189 ZPO geheilt.

Danach wird eine wirksame Zustellung fingiert, wenn wegen des tatsächlichen Zugangs des Dokuments der Zweck der Zustellung erreicht ist.

Die für eine solche Heilung erforderliche Zustellabsicht dergestalt, dass die mit der Zustellung verbundene Rechtsfolge gewollt sein muss, liegt vor. Dies ergibt sich aus der Verfügung des zuständigen Richters vom 11.06.2019. Zwar wurde eine in der konkreten Ausführung unwirksame Zustellung verfügt. Gleichwohl ergibt sich aus der oben unter Ziffer I ausgeführten Formulierung, dass nicht bloß eine formlose Übersendung des Strafbefehls beabsichtigt war.

Weitere Voraussetzung einer Heilung ist der tatsächliche Zugang des Dokuments beim Zustellungsadressaten. Dies ist durch die Übergabe am Flughafen am 16.07.2019 erfolgt. Durch die Aushändigung der Kopie hatte die Angeklagte die Möglichkeit, vom Inhalt des Strafbefehls Kenntnis zu nehmen. Für eine Heilung ist es nicht erforderlich, dass das zuzustellende Schriftstück (hier: eine beglaubigte Abschrift des Strafbefehls) tatsächlich zugeht. Vielmehr genügt eine einfache Kopie (vgl. BGH, Teilversäumnis- und Schlussurteil vom 22.12.2015 – VI ZR 79/15, NJW 2016, 1517; OLG Braunschweig, Beschluss vom 07.09.1995 – 2 U 42/92, NJW-RR 1996, 380). Denn dadurch wird der Zweck der Heilung von Zustellungsmängeln, nämlich die tatsächliche Kenntnis vom Inhalt des zuzustellenden Schriftstücks, gleichermaßen erreicht.

Demzufolge begann die zweiwöchige Einspruchsfrist mit der Übergabe der Kopie des Strafbefehls am 16.07.2019 zu laufen und war zum Zeitpunkt der Einspruchseinlegung am 02.08.2019 bereits abgelaufen.

2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand konnte nicht gewährt werden. Der Wiedereinsetzungsantrag ist unzulässig.

Unabhängig davon, ob das Vorbringen des Verteidigers den inhaltlichen Voraussetzungen der §§ 44, 45 StPO genügt und die vorgebrachten Gründe ausreichend sind für die Begründung eines fehlenden Verschuldens, sind diese nicht hinreichend glaubhaft gemacht.

Die Angeklagte behauptet, ihr sei bei der Übergabe des Strafbefehls erklärt worden, dass sie zunächst in den Urlaub fahren könne. Eine Glaubhaftmachung dieser Behauptung ist dem Wiedereinsetzungsantrag vom 02.08.2019 nicht zu entnehmen. Im Beschwerdeverfahren hat die Angeklagte mit Schriftsatz vom 09.09.2019 eine eidesstattliche Versicherung vom 05.09.2019 eingereicht und ihre Tochter als Zeugin benannt.

Die Tatsachen zur Begründung eines Wiedereinsetzungsantrags sind gemäß § 45 Abs. 2 S. 1 StPO bei der Antragsstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Als Mittel der Glaubhaftmachung kommen alle Mittel, die geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit des Vorbringens darzutun, in Betracht. Hierzu zählen etwa eidesstattliche Versicherungen von Zeugen, amtliche Bescheinigungen, ärztliche Zeugnisse oder anwaltliche Versicherungen. Schlichte Erklärungen und eidesstattliche Versicherungen des Antragsstellers selbst reichen grundsätzlich nicht zur Glaubhaftmachung aus (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Auflage 2018, § 45 Rn. 8 f., m.w.N.). Ausnahmsweise kann die eigene Erklärung des Antragstellers dann genügen, wenn ihm eine anderweitige Glaubhaftmachung ohne eigenes Verschulden nicht möglich ist (BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 14.02.1995 – 2 BvR 1950/94, NJW 1995, 2545; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 06.09.1989 – 3 Ws 608/89, NStZ 1990, 149; OLG Koblenz, Beschluss vom 11.03.2014 – 2 Ws 100/14 -, juris).

Für Letzteres bestehen vorliegend indes keinerlei Anhaltspunkte. Insbesondere wäre die Vorlage eidesstattlicher Versicherungen von Zeugen, so der Tochter der Angeklagten, denkbar gewesen. Dies ist jedoch unterblieben. Allein die Benennung eines Zeugen reicht zur Glaubhaftmachung jedenfalls dann nicht aus, wenn nicht gleichzeitig dargetan wird, dieser habe eine schriftliche Bestätigung verweigert, er sei nicht unverzüglich erreichbar oder es handele sich um einen für die Säumnis verantwortlichen Beamten (BGH, Beschluss vom 05.08.2010 – 3 StR 269/10 -, Rn. 4, NStZ-RR 2010, 378; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, Rn. 8). Auch dies ist vorliegend unterblieben.“