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Urteil I: Berichtigung der Urteilsformel, oder: Tatbestandsverwechselung ist kein Verkündungsversehen

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Ich stelle heute dann Entscheidungen rund um das Urteil vor – Urteilverkündung, Urteilsgründe usw.

Und ich beginne den Reigen mit dem schon etwas älteren BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 2 StR 48/20. In dem geht es um die Urteilberichtigung. Das LG hatte die Angeklagte u.a. wegen  falscher Verdächtigung verurteilt. Dagegen die Revision, die Erfolg hatte:

„2. Die Feststellungen tragen einen Schuldspruch wegen falscher Verdächtigung gemäß § 164 Abs. 1 StGB nicht. Es fehlen insoweit hinreichende Feststellungen zur inneren Tatseite, insbesondere zur Absicht der Angeklagten bei ihrer Beschuldigtenvernehmung ein behördliches Verfahren gegen den Geschädigten einzuleiten.

Soweit das Landgericht in den Urteilsgründen – abweichend vom Urteilstenor – ausführt, dass die Verurteilung nicht wegen falscher Verdächtigung, vielmehr wegen Vortäuschens einer Straftat nach § 145d Abs. 1 Nr. 1 StGB erfolgt sei und es sich bei der Formulierung im Tenor um ein „Schreibversehen“ handele, ist dies einer Berichtigung nicht zugänglich.

a) Eine Berichtigung der Urteilsformel nach Abschluss der mündlichen Urteilsverkündung kommt nur bei einem offensichtlichen Schreib- bzw. Verkündungsversehen in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 16. Juni 1953 – 1 StR 508/52, BGHSt 5, 5, 8 f.; Senat, Urteil vom 8. November 2017 – 2 StR 542/16, BGHR StPO § 260 Abs. 1 Urteilstenor 6 Rn. 17 mwN). Bei dieser Prüfung ist ein strenger Maßstab anzulegen, um zu verhindern, dass mit einer solchen Berichtigung eine unzulässige inhaltliche Abänderung des Urteils verbunden ist (vgl. Senat, Urteil vom 14. Januar 2015 – 2 StR 290/14, NStZ-RR 2015, 119, 120). Insbesondere ist in Ansehung der überragenden Bedeutung der Urteilsformel, die – anders als die schriftlichen Urteilsgründe – bei Verkündung schriftlich vorliegen muss, bei einer Berichtigung der Urteilsformel Zurückhaltung geboten (vgl. Senat, Urteil vom 8. November 2017 – 2 StR 542/16, aaO). Ein der Berichtigung zugängliches offensichtliches Verkündungsversehen kann nur angenommen werden, wenn sich der Fehler ohne Weiteres aus solchen Tatsachen ergibt, die für alle Verfahrensbeteiligten – auch ohne Berichtigung – klar zu Tage liegen und der auch nur entfernte Verdacht einer späteren inhaltlichen Änderung des verkündeten Urteils ausgeschlossen ist, die Berichtigung also lediglich dazu dient, die äußere Übereinstimmung der Urteilsformel mit der tatsächlich beschlossenen herzustellen.

b) Gemessen hieran liegt bei einer möglichen Verwechselung des in der Urteilsformel bezeichneten Tatbestandes kein offensichtliches Verkündungsversehen vor (vgl. BGH, Urteil vom 16. Oktober 1952 – 5 StR 480/52, BGHSt 3, 245, 247; Beschluss vom 22. Januar 1981 – 1 StR 642/80, bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1983, 208, 212). Trotz der Ausführungen des Landgerichts in den Urteilsgründen und des Umstands, dass in der Liste der angewendeten Vorschriften § 145d StGB aufgeführt ist, vermag der Senat nicht mit der für ein offensichtliches Verkündungsversehen erforderlichen Sicherheit festzustellen, dass das Auseinanderfallen von Schuldspruch und Urteilsgründen auf einem bloßen Verkündungsversehen beruht.“

OWi III: Urteilsformel bei der Geschwindigkeitsüberschreitung, oder: Keine Überladung

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Und die dritte Entscheidung stammt dann noch einmal vom OLG Düsseldorf. Das hat im OLG Düsseldorf, Beschl. v. 01.10.2020 – 2 RBs 129/20 – zu den Anforderungen an die Urteilsformel Stellung genommen. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Ergänzung der amtsgerichtlichen Urteilsformel beantragt. Das OLG hat den Antrag – nach Zulassung der Rechtsbeschwerde – abgelehnt:

Der Erörterung bedarf lediglich der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Ergänzung der Urteilsformel, dem nicht zu entsprechen ist.

1. Gemäß § 71 Abs. 1 OWiG, § 260 Abs. 4 Satz 1 StPO ist in dem Urteil die rechtliche Bezeichnung der Tat anzugeben. Auch in Bußgeldsachen ist die Tat in der Urteilsformel, sofern nicht gesetzliche Überschriften zu verwenden sind, mit Worten anschaulich und verständlich zu bezeichnen. Die angewendeten Vorschriften sind erst nach der Urteilsformel aufzuführen (vgl. OLG Düsseldorf [1. Senat für Bußgeldsachen] NZV 2000, 382; NZV 2001, 89, 90). Indes ist die Urteilsformel von allem freizuhalten, was nicht unmittelbar der Erfüllung ihrer Aufgaben, nämlich der Mitteilung von Schuldspruch und zu vollstreckendem Rechtsfolgenausspruch, dient (vgl. BGH NStZ 1983, 524; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 260 Rdn. 20).

Vorliegend hat der Betroffene ordnungswidrig gehandelt (§ 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO), indem er entgegen Nr. 49 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO die durch Zeichen 274 angeordnete zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hat. Diese Regelung wird jedenfalls bei einer Herabsetzung (hier: 30 km/h) der allgemein festgelegten Höchstgeschwindigkeit nicht durch § 3 Abs. 3 StVO verdrängt (vgl. BayObLG NZV 1999, 50; OLG Hamm VRS 97, 212, 213; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 3 StVO Rdn. 56). Für die Verwirklichung des auf die Missachtung des Vorschriftzeichens abstellenden Tatbestands („Wer ein Fahrzeug führt, darf nicht schneller als mit der jeweils angegebenen Höchstgeschwindigkeit fahren.“) und damit den Schuldspruch kommt es mangels eines entsprechenden Merkmals nicht darauf an, ob die durch Zeichen 274 angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung innerhalb oder außerhalb geschlossener Ortschaften zu beachten war.

Diese Unterscheidung gehört hier nicht zur rechtlichen Bezeichnung der Tat und hat lediglich Bedeutung für die Zumessung der Rechtsfolgen nach Maßgabe der Regelsätze für Geldbußen und die Anordnung eines Fahrverbots (Tabelle 1, Anhang zu Nr. 11 BKat). Tatmodalitäten, die keinen eigenen Tatbestand beschreiben und lediglich die Zumessung der Rechtsfolgen betreffen, sind indes nicht in die Urteilsformel aufzunehmen (vgl. statt vieler: BGH NStZ 1999, 205; Ott in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019, § 260 Rdn. 31).

Abgesehen davon würde die Urteilsformel selbst mit der beantragten Ergänzung („wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften“) aus sich heraus nicht die Einordnung in eine der Stufen der vorgenannten Regelsatztabelle ermöglichen. Denn dazu müssten auch die Art des Kraftfahrzeugs (Pkw, Lkw, Kraftomnibus etc.) und die Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung in km/h in der Urteilsformel mitgeteilt werden.

2. Die in der Antragsschrift nicht näher begründete Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft, der Zusatz „innerhalb geschlossener Ortschaften“ sei erforderlich, damit das Urteil vollstreckbar und im Fahreignungsregister eintragungsfähig ist, kann nicht nachvollzogen werden.

Die Rechtsfolgen (Geldbuße von 160 Euro und einmonatiges Fahrverbot) sind in der Urteilsformel eindeutig bestimmt. Die Vollstreckbarkeit des Urteils hängt nicht von der beantragten Ergänzung der Urteilsformel ab. Dem Senat ist kein Fall bekannt, in dem ein Urteil nicht hätte vollstreckt werden können, weil der Zusatz „innerhalb geschlossener Ortschaften“ oder „außerhalb geschlossener Ortschaften“ in der Urteilsformel nicht enthalten war. Ein solcher Fall ist in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft auch nicht aufgezeigt worden.

Auch für die Eintragungsfähigkeit im Fahreignungsregister ist nicht erforderlich, dass die Urteilsformel den Zusatz „innerhalb geschlossener Ortschaften“ enthält. Dieses Sachverhaltselement kann bei der Mitteilung an das Kraftfahrt-Bundesamt den Urteilsgründen entnommen werden. Für eine Privilegierung durch Aufnahme in die Urteilsformel besteht gegenüber den weiteren mitzuteilenden Sachverhaltselementen, wozu neben der Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung in km/h (unter Angabe der zulässigen und der nach Toleranzabzug festgestellten Geschwindigkeit in km/h) und der Kraftfahrzeugart auch das Datum der Tat, der Tatort und die Art der Verkehrsbeteiligung gehören, kein Anlass. Erforderlichenfalls kann zur Abklärung der mitzuteilenden Sachverhaltselemente auch auf den Bußgeldbescheid und den sonstigen Akteninhalt zurückgegriffen werden, was beim Absehen von Urteilsgründen (§ 77b OWiG) ohnehin notwendig ist.

In der Literatur (vgl. Fromm, Verteidigung in Straßenverkehrs-OWi-Verfahren, 2. Aufl. 2014, Kapitel 3, A. Geschwindigkeitsüberschreitungen, XII. Tenorierung, abrufbar bei juris) ist zur Frage der Tenorierung etwa vorgeschlagen worden, die Verurteilung „wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit des Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um mehr als 23 km/h“ auszusprechen. Abgesehen davon, dass der zusätzliche Informationswert bei diesem Beispiel gering ist, weil die für die Einordnung in eine der Stufen der Tabelle 1, Anhang zu Nr. 11 BKat, erforderliche Kraftfahrzeugart nicht benannt worden ist und auch die Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung nach oben offen bleibt, hält es der Senat nicht für sachgerecht, die rechtliche Bezeichnung der Tat in der Urteilsformel mit einzelnen Sachverhaltselementen zu überfrachten.

Die Urteilsformel ist nicht der Ort, um dort die für die Eintragung im Fahreignungsregister erforderlichen Sachverhaltselemente zu beschreiben. Bezogen auf die Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung in km/h, die Kraftfahrzeugart, das Datum der Tat, den Tatort und die Art der Verkehrsbeteiligung ist eine Ergänzung der Urteilsformel auch nicht beantragt worden. Es erschließt sich allerdings nicht, weshalb ein bei Missachtung des Zeichens 274 nicht zur rechtlichen Bezeichnung der Tat gehörendes Sachverhaltselement („innerhalb geschlossener Ortschaften“) isoliert in der Urteilsformel hervorgehoben werden sollte. Ein Erkenntnisgewinn ergibt sich daraus nicht.

Die Übermittlungsstandards für das Fahreignungsregister (vgl. BAnz AT vom 11. Juli 2018 B9-B11 und BAnz AT vom 8. Juli 2019 B5-B6) erfordern besondere Kenntnisse der mit den Mitteilungen an das Kraftfahrt-Bundesamt befassten Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft, die dem gerichtlich festgestellten Sachverhalt etwa auch eine Tatbestandsnummer nebst Punktzahl aus dem Bundeseinheitlichen Tatbestandskatalog – dieser stellt als schlichte Verwaltungsvorschrift des Kraftfahrt-Bundesamtes keine eigenständige Rechtsgrundlage dar (vgl. OLG Hamm BeckRS 2016, 18440) – zuzuordnen haben. Bei der Bearbeitung kann auf die Urteilsgründe sowie auf den Bußgeldbescheid und den gesamten Akteninhalt zurückgegriffen werden. Es ist für die Eintragungsfähigkeit ohne Belang, ob die Urteilsformel bei einer Verurteilung wegen (fahrlässiger oder vorsätzlicher) Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit den Zusatz „innerhalb geschlossener Ortschaften“ oder „außerhalb geschlossener Ortschaften“ enthält. Dies gilt umso mehr, als die weiteren mitzuteilenden Sachverhaltselemente ohnehin nicht aus einer solchen geringfügig ergänzten Urteilsformel hervorgehen.

3. Angesichts dessen ist anzumerken, dass ein solcher Zusatz auch dann entbehrlich erscheint, wenn sich die zulässige Höchstgeschwindigkeit aus der allgemeinen Regelung des § 3 Abs. 3 StVO ergibt.

Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Bezeichnungen „innerhalb geschlossener Ortschaften“ und „außerhalb geschlossener Ortschaften“ bei der allgemeinen Festlegung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ausdrücklich Niederschlag im Tatbestand der Norm gefunden haben. Während die zulässige Höchstgeschwindigkeit „innerhalb geschlossener Ortschaften“ für alle Kraftfahrzeuge gleichermaßen 50 km/h beträgt (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO), richtet sich die zulässige Höchstgeschwindigkeit „außerhalb geschlossener Ortschaften“ nach den in § 3 Abs. 3 Nr. 2 lit. a bis c StVO bezeichneten Kraftfahrzeugarten, so dass in diesem Fall der Zusatz „außerhalb geschlossener Ortschaften“ streng genommen noch um die Kraftfahrzeugart zu erweitern wäre, um die Tat rechtlich differenziert zu bezeichnen.

Aus praktischen Erwägungen ist in den verkehrsrechtlichen Massenverfahren demgegenüber zu bevorzugen, in der Urteilsformel allein den Obersatz des § 3 Abs. 3 StVO („zulässige Höchstgeschwindigkeit“) im Sinne einer Überschrift aufzugreifen und den Tenor nicht weiter zu fassen als bei einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit unter Missachtung des Zeichens 274. Für die rechtliche Bezeichnung des konkreten Unterfalls genügt – wie bei der Verwendung einer vorhandenen Überschrift – die Angabe der entsprechenden Norm in der Liste der angewendeten Vorschriften (z.B. § 3 Abs. 3 Nr. 2 lit. c StVO).“

Strafzumessung I: Die Urteilsformel und die Gründe passen nicht zueinander, oder: Durcheinander

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Heute dann ein Strafzumessungstag.

Die erste Entscheidung, die ich vorstelle, der BGH, Beschl. v. 15.07.2020 – 4 StR 242/20 – hängt schon etwas länger in meinem Blogordner und war dort gekennzeichnet mit: „Strafzumessung-Durcheinander“. Und in der Tat, da ist bei der Strafkammer einiges durcheiandergegangen.

Das LG hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine Revision hatte hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg.

„2. Der Strafausspruch hat keinen Bestand, weil die Urteilsgründe den tenorierten Strafausspruch nicht tragen.

a) Nach der Urteilsformel im schriftlichen Urteil beträgt die verhängte Freiheitsstrafe drei Jahre und sechs Monate, nach den Urteilsgründen hingegen nur drei Jahre und drei Monate. Am 27. März 2020 hat das Landgericht einen Berichtigungsbeschluss dahingehend erlassen, dass es in den Urteilsgründen bei den Ausführungen zur Strafzumessung „Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten“ heißen müsse. Zur Begründung führt die Strafkammer an, es handele sich angesichts des Tenors und der verkündeten Strafe um ein offensichtliches Schreibversehen.

b) Die in der Urteilsformel genannte Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wird von den Erwägungen zur Strafzumessung in den Urteilsgründen nicht getragen, weil diese eine andere Strafe ausweisen. Worauf dieser Widerspruch beruht, lässt sich dem Urteil selbst nicht entnehmen. Denn es liegt keine Fallgestaltung vor, bei der ohne Weiteres deutlich wird, dass der Tatrichter seine – für sich genommen rechtsfehlerfreien – Ausführungen zur Strafzumessung in Wirklichkeit nicht auf die in den Urteilsgründen, sondern auf die in der Urteilsformel bezeichnete Strafe bezogen hat und dass diese Strafe trotz der anderslautenden Urteilsgründe dem Beratungsergebnis entspricht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Februar 2012 – 2 StR 544/11; vom 8. Juni 2011 – 4 StR 196/11; vom 1. September 2010 – 5 StR 262/10).

c) Der hierzu ergangene Berichtigungsbeschluss ist unwirksam, weil das vom Landgericht angeführte Schreibversehen nicht offensichtlich ist. Enthalten die Urteilsgründe – wie hier – rechtlich einwandfreie Strafzumessungserwägungen, kann ein die Strafhöhe betreffender Widerspruch zwischen der Urteilsformel sowie den Gründen des schriftlichen Urteils nicht als offenkundiges, für alle klar zu Tage tretendes Fassungsversehen aufgefasst werden (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2011 – 1 StR 336/11; Beschluss vom 25. Juni 1992 – 1 StR 631/91; Beschluss vom 18. Juli 1989 – 5 StR 232/89, BGHR StPO § 260 Abs. 1 Urteilstenor 2). Denn es fehlt an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass die dort bezeichnete niedrigere Freiheitsstrafe ohne jeden vernünftigen Zweifel vom Landgericht so nicht verhängt werden sollte.

3. Der Tatrichter muss die Strafe neu festsetzen. Auf der Grundlage des Urteils lässt sich weder ausschließen, dass das Landgericht die in der Urteilsformel genannte Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten hat verhängen wollen, noch dass es die in den Urteilsgründen bezeichnete Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten für angemessen gehalten hat. Die Feststellungen zur Strafzumessung sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen; sie bleiben deshalb bestehen.“

StPO II: Urteilsformel „Wir machen das jetzt so: Freispruch“

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Die zweite Entscheidung kommt vom OLG Köln. Das hat im OLG Köln, Beschl. v. 31.03.2020 -III 1 Rvs 58/20  über einen in meinen Augen „leicht atypischen“ Sachverhalt entschieden, und zwar.

Am 15.01.2020 hat vor dem AG Köln – Schöffengericht – die Hauptverhandlung gegen die drei An­geklagten stattgefunden; verfahrensgegenständlich sind Taten vom 13.10.2018, die die Staatsanwaltschaft gemäß Anklage vom 04.06.2019 als Raub und Freiheitsberaubung angeklagt hat. Das Hauptverhandlungsprotokoll vom 15.01.2020 weist folgenden Eintrag auf:

„Die Schöffen signalisieren nach Blickkontakt mit dem Richter ihre Zustimmung. Der Vorsitzende Richter erklärt sodann: Dann machen wir das so: Freispruch.“

Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Ausspruch ein Rechtsmittel eingelegt, das am 16.01.2020 beim AG eingegangen ist. Der Vorsitzende des Schöffengerichts ist ausweislich seines Aktenvermerks vom 03.02.2020 der Ansicht, es sei kein rechtswirksames Urteil ergangen; er beabsichtigt, einen neuen Hauptverhandlungstermin zu bestimmen. Diesen Aktenvermerk hat er der Staatsanwaltschaft „U.m.A. unter Hinweis auf obigen Vermerk zur Kenntnis und ggf. Stellungnahme“ übersandt. Wann die Akte bei der Staatsanwaltschaft eingegangen ist, ist nicht aktenkundig. Mit Verfügung vom 18.02.2020 hat die Staatsanwaltschaft um Absetzung des Urteils gebeten und Ausführungen dazu gemacht, dass nach ihrer Auffassung das Gericht ein (freisprechendes) Urteil verkündet habe. Mit Verfügung vom 05.03.2020 hat der Vorsitzende an seiner Rechtsauffassung festgehalten, bei der Staatsanwaltschaft „angefragt“ ob an dem Rechtsmittel festgehalten wird und um Spezifizierung als Berufung oder Revision gebeten. Ein schriftliches Urteil ist bislang nicht abgesetzt worden. Mit Verfügung vom 10.03.2020 hat die Staatsanwaltschaft das Rechtsmittel als Revision bezeichnet. Der Vorsitzende des Schöffengerichts hat die Akte im Hinblick darauf (unmittelbar) dem Senat vorgelegt.

Das OLG hat die Akten zurückgegeben und meint:

„Eine Entscheidung des Senats ist nicht veranlasst.

Zwar hat das Amtsgericht in der Hauptverhandlung vom 15. Januar 2020 ein rechtswirksames Urteil verkündet, gegen das die Staatsanwaltschaft fristgerecht „Rechtsmittel“ eingelegt hat. Da das Urteil aber bisher nicht wirksam zugestellt wurde, wurde auch die Revisionsbegründungsfrist, innerhalb derer eine Spezifizierung des Rechtsmittels erfolgen kann, nicht in Gang gesetzt. Die Akte ist daher an das Amtsgericht zurückzugeben, damit die Zustellung bewirkt werden kann.

1. Das freisprechende Erkenntnis des Amtsgerichts vom 15. Januar 2020 stellt ein rechtwirksames Urteil dar, gegen das ein Rechtsmittel statthaft ist.

Wesentlicher Teil der Urteilsverkündung ist die Verlesung der Urteilsformel; fehlt sie, so liegt kein Urteil im Rechtssinne vor (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage, § 268 Rn. 5 m.w.N.). Demnach enthält die Urteilsformel den eigentlichen Urteilsausspruch. § 173 Abs. 1 GVG bezeichnet sie sogar als das „Urteil“. Ist die Formel nicht verkündet, so liegt deshalb kein Urteil im Rechtssinne vor (vgl. BGHSt 8, 41 ff, zitiert nach juris, Rn. 8).

Ausweislich des Sitzungsprotokolls, welchem nach § 274 StPO formelle Beweiskraft zukommt, hat der Vorsitzende des Schöffengerichts in der Hauptverhandlung eine Urteilsformel verkündet. Zwar verstieß die Verfahrensweise des Tatrichters gegen die Verfahrensvorschrift des § 268 Abs. 2 S 1 StPO, weil – wie sich aus dem von ihm selbst niedergelegten Aktenvermerk vom 3. Februar 2020 ergibt – der Tenor nicht zuvor schriftlich niedergelegt und nicht durch Verlesung verkündet wurde.  Eine verkündete Urteilsformel begründet jedoch auch dann ein rechtswirksames und damit rechtsmittelfähiges Urteil, wenn eine Urteilsformel verkündet wird, die zuvor nicht oder nicht vollständig schriftlich niedergelegt wurde (vgl. so wohl in der Tendenz auch Beck-OK-Peglau, § 268 Rn. 4: „fraglich“). Der Sinn und Zweck des Erfordernisses, die Urteilsformel zunächst zu verschriftlichen und sodann zu verlesen, besteht darin, die Übereinstimmung zwischen der verkündeten Urteilsformel und der protokollierten und in das schriftliche Urteil übergehenden Formulierung zu sichern (vgl. RGSt 16, 347, 349). Diese Sicherungs- und Beweiszwecke führen aber nach Auffassung des Senats nicht dazu, dieses in der Prozessordnung vorgesehene Erfordernis als konstitutiv für die Rechtswirksamkeit eines Urteils anzusehen. Denn das Gericht hat, indem es einen Tenor verkündet hat, eine Entscheidung über den Anklagegenstand treffen wollen und tatsächlich getroffen, eine solche Entscheidung ausgesprochen und schließlich protokolliert. Einen Grund, darin gleichwohl ein „Nichts“, mithin eine „nichtige“ richterliche Entscheidung zu sehen, ist nicht erkennbar. Gegen ein konstitutives Erfordernis in diesem Sinne spricht – im Sinne einer Kontrollüberlegung – im Übrigen auch, dass die Strafprozessordung keinerlei Regelungen enthält oder Vorgaben dazu macht, an welcher Stelle eine Verschriftlichung vor Verlesung zu erfolgen hat bzw. dass eine solche etwa zum Gegenstand der Akte gemacht werden müsste.

Auch wenn die von dem Vorsitzenden des Schöffengerichts verkündete Urteilsformel „Wir machen das jetzt so: Freispruch“ einen umgangssprachlichen und von üblichen Tenorformulierungen deutlich abweichenden Wortlaut hat, war für alle Verfahrensbeteiligten – die im Übrigen auch zuvor übereinstimmend „Freispruch“ beantragt hatten – der verkündete Ausspruch in seinem Sinngehalt eindeutig. Die Angeklagten sind damit in erster Instanz rechtswirksam freigesprochen worden.

2. Das hiergegen gerichtete „Rechtsmittel“ der Staatsanwaltschaft ist unter dem 16. Januar 2020 rechtzeitig eingelegt worden. Eine Behandlung als (Sprung)Revision und Entscheidung hierüber durch den Senat als Revisionsgericht kann aber derzeit nicht erfolgen, weil die Frist zur Begründung einer Revision mangels Zustellung des Urteils noch nicht in Gang gesetzt worden ist und damit auch nicht abgelaufen sein kann.

Solange sich der Beschwerdeführer nicht endgültig und verbindlich für die Wahl der Revision entscheidet, ist das von ihm eingelegte Rechtsmittel eine Berufung (BGHSt 33, 183, 189 = NJW 1985, 2960, 2961; SenE v. 15.10.1991 – Ss 481/91 – = NStZ 1992, 204, 205; OLG Köln 3. StrS MDR 1980, 690 = VRS 59, 436). Die endgültige Wahl zwischen Berufung und Revision muss bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO getroffen werden (BGHSt 40, 398; Meyer-Goßner, a.a.O., § 335 Rn. 3). Dies setzt denknotwendig voraus, dass eine Revisionsbegründungsfrist überhaupt in Gang gesetzt wurde.

Die Frist zur Begründung der Revision, die auch maßgeblich ist für die Spezifizierung eines zunächst unbenannt eingelegten Rechtsmittels, ergibt sich aus § 345 Abs. 1 StPO.  Danach beginnt die Monatsfrist regelmäßig mit der Zustellung des schriftlichen Urteils. Nach § 275 Abs. 1 StPO ist das schriftliche Urteil, sofern es nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen ist, unverzüglich zu den Akten zu bringen. Dies muss spätestens fünf Wochen nach der Verkündung geschehen. Nach Ablauf der Frist dürfen die Urteilgründe nicht mehr geändert werden. Dementsprechend genügt für den Fristbeginn die Zustellung der Urteilsformel, wenn Gründe nicht vorhanden sind oder wenn Gründe verloren gegangen sind, die nicht wiederhergestellt werden können (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 345 Rn. 5).

Der – ungewöhnliche und von der Prozessordnung nicht vorgesehene – Fall, dass es keine Urteilsgründe gibt (und nach Ablauf von fünf Wochen nach Verkündung auch nicht mehr geben kann), weil der Vorsitzende rechtsirrig die Auffassung vertritt, er habe gar kein Urteil gesprochen und daher davon absieht, schriftliche Urteilsgründe zur Akte zu bringen, ist nach Auffassung des Senats mit Blick auf den Beginn der Revisionsbegründungsfrist entsprechend zu behandeln, d.h. maßgeblich ist die Zustellung der Urteilsformel. Auch eine solche ist aber bisher nicht erfolgt. Zwar hat der Vorsitzende des Schöffengerichts unter dem 3. Februar 2020 die Übersendung der Hauptakte „zur Kenntnis- und Stellungnahme“ an die Staatsanwaltschaft verfügt, dies jedoch formlos und nicht unter Hinweis auf und nach Maßgabe des insoweit einschlägigen § 41 StPO. Darin vermag der Senat schon deswegen keine förmliche Zustellung zu erkennen, weil  entgegen § 41 Abs. 1 S 2 StPO der „Tag der Vorlegung“ von der Staatsanwaltschaft nicht auf der Urschrift vermerkt wurde, so dass sich der Tag des Fristbeginns auch nicht feststellen lässt.

Ist die Revisionsbegründungfrist nicht in Gang gesetzt, konnte das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft durch die nachfolgende Verfügung vom 10. März 2020 – deren Eingang bei Gericht sich ebenfalls nicht aus der Akte ergibt – auch nicht verbindlich und rechtswirksam zur Revision bestimmt werden. Damit wirkt es sich nicht aus, dass der Senat den Zuschriften der Staatsanwaltschaft bis heute keine zulässige Revisionsbegründung in Gestalt einer zulässig erhobenen Verfahrens- oder Sachrüge entnehmen kann.

3. Der Senat gibt die Sache daher an das Amtsgericht zur Bewirkung einer förmlichen Zustellung der Urteilsformel zurück.

Für die weitere Verfahrensweise regt der Senat an, den Übergang zur Sprungrevision zu überdenken. Würde das Rechtsmittel fristgerecht zur Revision bestimmt und würde die Staatsanwaltschaft – was bisher nicht erfolgt ist – die Revision nach Maßgabe des § 344 Abs. 2 StPO zulässig begründen, würde dies nach den Regelungen des § 349 StPO die Durchführung einer mit erheblichen Kosten verbundenen Revisionshauptverhandlung erforderlich machen, die nach derzeitigem Sachstand ohne Sachprüfung schon deshalb zur Urteilsaufhebung führen könnte, weil das Urteil keine schriftlichen Gründe hat. Auch um weitere zeitliche Verzögerungen zu vermeiden, erscheint es daher sachgerechter, das Rechtsmittel in der Tatsacheninstanz als Berufung durchzuführen.“

Wenn Urteilsformel und Protokoll nicht übereinstimmen, oder: Protokollrüge

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Und die zweite Entscheidung des Tages hat auch etwas mit dem Protokoll der Hauptverhandlung zu tun, allerdings nur mittelbar. Denn es geht um die sog. Protokollrüge im Rahmen der Revision, ein häufiger Fehler. So stellt es auch der BGH im BGH, Beschl. v. 03.05.2019 – 3 StR 462/18 – fest:

„Ergänzend bemerkt der Senat:

1. Die Rüge, dass der Angeklagte nach der Urteilsformel zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt worden sei, wohingegen sich aus dem Protokoll die Verhängung einer lediglich sechsjährigen Gesamtfreiheitsstrafe ergebe, erweist sich als unzulässig.

Zwar ist die Beanstandung, mit der vorgetragen wird, dass das Protokoll eine von der schriftlichen Fassung abweichende Urteilsformel enthalte, trotz der missverständlichen Überschrift “Verletzung materiellen Rechts“ als Verfahrensrüge auszulegen. Doch legt die Revision einen Verfahrensfehler begründende Tatsachen nicht dar (§ 344 Abs. 2 StPO). Sie trägt lediglich vor, dass der Angeklagte “ausweislich des Protokolls“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden sei. Zwar kann eine solche Formulierung auch als ein Hinweis auf das geeignete Beweismittel zu verstehen sein, ohne dass dadurch die Ernsthaftigkeit der Tatsachenbehauptung selbst in Frage gestellt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 17. September 1981 – 4 StR 496/81, StV 1982, 4, 5). Hier leitet die Revision die Fehlerhaftigkeit des Verfahrens jedoch ausdrücklich nur aus dem Protokoll ab, während sie zum tatsächlichen Geschehen keine Angaben macht. Die Behauptung, dass das verkündete Urteil tatsächlich auf eine sechsjährige Gesamtfreiheitsstrafe lautete, enthält das Revisionsvorbringen – auch sinngemäß – nicht.

Da die Rüge somit schon unzulässig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2011 – 4 StR 181/11, StV 2012, 73), kommt es nicht darauf an, dass eine Protokollberichtigung, die der Rüge den Boden entzogen hätte (zu den Anforderungen vgl. BGH, Beschluss vom 23. April 2007, GSt 1/06, BGHSt 51, 298, 316 f.) bisher nicht vorliegt.