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Keine wirksame Zustellung des Bußgeldbescheides, oder: Die Vollmacht gehört nicht in die (Gerichts)Akte

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Als zweite Entscheidung des Tages dann eine weitere AG-Entscheidung, und zwar der AG Paderborn, Beschl. v. 22.07.2019 – 76 OW1-31 Js 846/19-117/19, den mir der Kollege T.Hein aus  Bad Vilbel geschickt hat.

Das Verfahren gegen seinen Mandanten ist wegen Verjährung eingestellt worden. Begründung des AG:

„Gegen die Betroffene ist am 19.03.201.9 ein Bußgeldbescheid erlassen worden, gegen den sie rechtzeitig Einspruch eingelegt hat.

Die weitere Verfolgung der Ordnungswidrigkeit ist ausgeschlossen, weil inzwischen Verjährung eingetreten ist. Die letzte Verfolgungsverjährung unterbrechende
– Handlung – ist die Abgabe der Sache durch die Staatsanwaltschaft an die
Verwaltungsbehörde, § 33 Abs. 1 Nr. 8 ZPO am 11.03.2019, (BI. 26 d.A.).

Der Bußgeldbescheid ist nicht ordnungsgemäß zugestellt worden, sodass es hier nicht zu einer erneuten Unterbrechung der Verjährung kommen konnte. Gemäß § 51 Abs. 3 S. 1 OWiG gilt der gewählte Verteidiger, dessen Vollmacht sich bei den Akten befindet, als zustellungsbevollmächtigt. Eine solche Vollmacht befand sich zum Zeitpunkt der Zustellung nicht bei der Akte, die anwaltliche Versicherung der Beauftragung der Verteidigung genügt als Nachweis der Zustellungsvollmacht nicht.

Eine wirksame Zustellung an die Betroffene selbst lässt sich der Akte nicht entnehmen.

Was lernen wir mal wieder daraus: Die Vollmacht gehört nicht in die (Gerichts)Akte. Die bleibt zuhause.

Offen ist dann aber noch die Frage der „notwendigen Auslagen“. Das AG hat „nur“ „auf Kosten der Staatskasse eingestellt“.

Und nochmals: Keine Vollmacht vorlegen, oder: LG Kleve beweist (noch einmal), warum das wichtig ist!!

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Das zweite Posting am heutigen Montag betrifft den LG Kleve, Beschl. v. 19.03.2019 – 111 Qs-309 Js-OWi 481/18­7/19. Er entscheidet über die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die diese gegen den AG Kleve, Beschl. v. 14.02.2019 – 11 OWi-309 Js 481/18-217/18 eingelegt hatte. Über den AG-Beschluss hatte ich ja schon berichtet (vgl. OWi I: Keine Vollmacht vorlegen, oder: Dieser Beschluss zeigt/beweist noch einmal, warum!).

Im Verfahren geht es um die Frage der Wirksamkeit der Zustellung des Bußgeldbescheides an den Verteidiger, der eine schriftliche Vollmacht nicht vorgelegt hatte. Das AG war von der Unwirksamkeit der dennoch an den Verteidiger erfolgten Zustellung und damit vom Verjährungseintritt ausgegangen. Und das LG Kleve hat – ebenso wie das AG in seinem Beschluss – Verjährung angenommen bzw. die Auffassung des AG bestätigt:

„Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist gemäß § 46 Abs. 1 OWiG, §§ 206a Abs. 2, 311 StPO zulässig, aber unbegründet.

Es liegt ein Verfahrenshindernis im Sinne des § 206a StPO vor, es ist Verfolgungsverjährung nach § 31 OWiG, § 26 Abs. 3 StVG eingetreten.

Nach § 26 Abs. 3 StVG beträgt die Frist der Verfolgungsverjährung bei Ordnungswidrigkeiten nach § 24 StVG drei Monate, solange wegen der Handlung weder ein Bußgeldbescheid ergangen noch öffentliche Klage erhoben ist, danach sechs Monate.

Diese Frist ist hinsichtlich der vorliegenden Verkehrsordnungswidrigkeit drei Monate nach Unterbrechung der Verfolgungsverjährung durch Anhörung mit Schreiben vorn 04.06.2018 abgelaufen, vgl. § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 3 S. 1 OWiG.

Der Bußgeldbescheid vom 22.08.2018 hat nicht zu einer Unterbrechung der Verfolgungsverjährung nach § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 OWiG geführt, da er nicht binnen zwei Wochen nach Erlass bzw. innerhalb der Verjährungsfrist zugestellt worden ist.

Eine Zustellung an den Betroffenen selbst ist nicht erfolgt. Auch eine Heilung nach § 51 Abs. 1 S. 1 OWiG, § 8 LZG NRW durch nachweislichem Zugang beim Betroffenen ist nicht eingetreten.

Letztlich ist auch keine wirksame Zustellung des Bußgeldbescheides an den Verteidiger des Betroffenen erfolgt. Es befand sich keine Urkunde über seine Bevollmächtigung bei den Akten, § 51 Abs. 3 S. 1 OWiG. Zudem bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Verteidiger eine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht erteilt worden ist. Wie bereits dargetan, befindet sich keine etwas derartiges regelnde Vollmacht bei den Akten. Auch aus der Gesamtheit der erkennbaren Umstände sowie dem Auftreten des Verteidigers im Verfahren ergibt sich nicht das Vorliegen einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht. Die Schriftsätze des Verteidigers vom 13.06.2018, 03.09.2018 und 10.09.2018 enthalten lediglich eine Vertretungsanzeige sowie eine anwaltliche Versicherung der ordnungsgemäßen Bevollmächtigung. Daraus folgt jedoch nicht eine Bevollmächtigung auch zur Entgegennahme von Zustellungen. Ebenso wenig folgt eine solche aus der Einlassung des Verteidigers für den Betroffenen im Rahmen des Schreibens vom 02.11.2018.

Der Eingang der Akten beim Amtsgericht Kleve am 25.10.2018 führte nicht zu einer Unterbrechung der Verfolgungsverjährung nach § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 10 OWiG, da zu diesem Zeitpunkt bereits Verjährung eingetreten war.“

Also: Es bleibt dabei: Keine Vollmacht vorlegen, so wie es der Kollege Allesch aus Essen, der mir die beiden Beschlüsse gesandt hat, gemacht hat.

OWi I: Keine Vollmacht vorlegen, oder: Dieser Beschluss zeigt/beweist noch einmal, warum!

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Wer kennt ihn nicht den Satz: Keine Vollmacht vorlegen. Der AG Kleve, Beschl. v. 14.02.2019 – 11 OWi-309 Js 481/18-217/18 – beweist, warum dieser Satz gilt bzw. richtig ist.

Das Bußgeldverfahren gegen den Betroffenen ist nämlich wegen Verjährung eingestellt worden:

„Die Verfolgung der Ordnungswidrigkeit ist ausgeschlossen, weil am 04.09.2018 Verfolgungsverjährung eingetreten ist, welche nicht durch Zustellung des Bußgeldbescheids unterbrochen wurde.

Die letzte die Verfolgungsverjährung unterbrechende Handlung ist das an den Betroffenen gerichtete Anhörungsschreiben vom 04.06.2018.

Innerhalb der damit erneut in Gang gesetzten Verjährungsfrist von 3 Monaten ist keine weitere verjährungsunterbrechende Handlung vorgenommen worden.

Eine Zustellung des Bußgeldbescheides an den Betroffenen selbst war nicht erfolgreich. Alleine der Erlass des Bußgeldbescheids ist nicht verjährungsunterbrechend, soweit nicht innerhalb von 2 Wochen zugestellt wird (§ 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG).

Die Zustellung des Bußgeldbescheides an den Verteidiger hat ebenfalls nicht zu einer Unterbrechung der Verjährung geführt. Insoweit ist keine wirksame Zustellung des Bußgeldbescheides erfolgt. An den gewählten Verteidiger kann nur dann wirksam zugestellt werden, wenn sich gemäß § 51 Abs: •3 Satz 1 OWiG eine Urkunde über seine Bevollmächtigung bei den Akten befindet. Diese Voraussetzung war nicht gegeben. Eine Vollmacht ist bis heute nicht zu den Akten gelangt.

Dem Verteidiger war auch keine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht erteilt worden. Hierfür lassen sich aus der Akte keine Anhaltspunkte entnehmen. Der Schriftsatz des Verteidigers, mit dem dieser sich bestellt hat, enthält eine Vertretungsanzeige. Der Anwalt versichert, zur Vertretung seiner Mandantschaft bevollmächtigt zu sein. Nicht hingegen kann aus dem Halbsatz „…, eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung wird anwaltlich versichert“ geschlossen werden, dem Verteidiger sei eine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht erteilt worden. Der Halbsatz bezieht sich eindeutig auf die Vertretungsanzeige. Auch enthält der Bestellungsschriftsatz nicht die sonst übliche Bitte, Korrespondenz ausschließlich über den Verteidiger zu führen, was möglicherweise als Anzeige einer rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht ausreichen könnte, hier aber auch nicht entschieden werden braucht.

Das Einspruchsschreiben ist nicht anders formuliert als der Bestellungsschriftsatz, so dass sich hieraus keine anderweitige Beurteilung ergibt.

Die Verjährung ist daher durch den Bußgeldbescheid nicht gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG unterbrochen worden.

Dass Verjährung von dem Verteidiger nicht „gerügt“ wurde, steht dem entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht entgegen. Die Verfolgungsverjährung ist durch das Gericht von Amts wegen zu beachten.“

Alles richtig gemacht vom Verteidiger. Na ja, fast alles, denn die ordnungsgemäße Versicherung einer anwaltlichen Bevollmächtigung ist nicht gatnz ungefährlich, wie man sieht.

„Niedlich“ der Rettungsversuch der Staatsanwaltschaft. Hallo. Wir befinden uns im Bußgeld- und nicht in einem Zivilverfahren.

OWi I: Nachträgliche Heilung der Zustellung, oder: Vorsicht mit der Vollmacht

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Heute ist an vielen Orten wahrscheinlich der letzte Tag, an dem vor Weihnachten noch „richtig“ gearbeitet wird. So auch hier im Blog mit drei Entscheiudungen, bevor es dann morgen noch Gebührenrecht gibt, dem am Samstag der „Kessel Buntes“ folgt. Und ich eröffne heute mit dem KG, Beschl. v. 08.11.2018 – 3 Ws (B) 249/18 – zur Frage der Heilung eines Zustellungsmangels durch nachträgliche Ausstellung der Verteidigervollmacht.

Der Verteidiger hattemit der Rechtsbeschwerde u.a. das Verfahrenshindernis der Verjährung geltend gemacht. Dazu hatte er vorgetragen, dass er sei zum Zeitpunkt der Zustellung des Bußgeldbescheids vom 22.01.2018 nicht Verteidiger und mithin nicht zustellungsbevollmächtigt gewesen sei. Die mit Schriftsatz vom 07.12.2017 zu den Akten gereichte Vollmacht habe sich lediglich auf die beantragte Akteneinsicht bezogen. Die Entgegennahme von Zustellungen sei hierin jedoch ausdrücklich ausgeschlossen worden. Die dennoch am 25.01.2018 mittels Einwurf in den Kanzleibriefkasten erfolgte Zustellung sei daher unwirksam. Empfangsberechtigt sei er vielmehr erst mit der am 28.01.2018 erteilten Verteidigervollmacht geworden. Die Verjährung sei mithin nicht wirksam durch Erlass des Bußgeldbescheids unterbrochen worden.

Das KG hat das . mit dem AG Tiergarten – anders gesehen:

„b) Die auf die ordnungsgemäß erhobene Sachrüge von Amts wegen veranlasste Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen ergibt, dass die festgestellte Ordnungswidrigkeit – entgegen der Ansicht des Rechtsbeschwerdeführers – nicht verjährt ist.

(1) Gemäß § 26 Abs. 3 StVG beträgt die Frist der Verfolgungsverjährung für Ordnungswidrigkeiten nach § 24 StVG bis zum Erlass des Bußgeldbescheides drei Monaten, danach sechs Monate.

Die Verjährungsfrist des § 26 Abs. 3 StVG der am 8. November 2017 begangenen Ordnungswidrigkeit ist zunächst durch die Übermittlung des Anhörungsbogens am 28. November 2017 an den Betroffenen gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG unterbrochen worden.

(2) In der Folge ist die Verjährung durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 22. Januar 2018 gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG unterbrochen worden. Die Zustellung des Bußgeldbescheids ist spätestens am 28. Januar 2018 gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 und 2 OWiG i.V.m. § 7 des Gesetzes über das Verfahren der Berliner Verwaltung i.V.m. § 8 VwZG fingiert. Der Bußgeldbescheid ist mithin innerhalb von zwei Wochen nach dessen Erlass zugestellt. Zugleich wurde die Verjährungsfrist nach § 26 Abs. 3 StVG auf sechs Monate verlängert.

Der Senat kann es im Ergebnis offen lassen, ob Rechtsanwalt K. zum Zeitpunkt der Zustellung aus den im amtsgerichtlichen Urteil aufgeführten Gründen nach § 51 Abs. 3 Satz 1 OWiG ermächtigt war, Zustellungen entgegenzunehmen oder zumindest – wovon die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme ausgeht – aufgrund einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht, die neben der gesetzlichen nach § 51 Abs. 3 Satz 1 OWiG bestehen kann, zustellungsbevollmächtigt war (vgl. hierzu KG NStZ-RR 2016, 289). Denn jedenfalls wäre ein etwaiger Zustellungsmangel geheilt.

Gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG gelten im Zustellungsverfahren die landesrechtlichen Vorschriften zur Zustellung. Nach § 7 des Gesetzes über das Verfahren der Berliner Verwaltung gilt das Verwaltungszustellungsgesetz. Dementsprechend findet § 8 VwZG Anwendung, nach dem ein Schriftstück, dessen formgerechte Zustellung sich nicht nachweisen lässt oder das unter Verletzung von zwingenden Zustellungsvorschriften zugegangen ist, als in dem Zeitpunkt zugestellt gilt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat.

Das Rechtsbeschwerdevorbringen und damit eine (zunächst) fehlende Empfangsvollmacht des Rechtsanwalts K. unterstellt, hätte der Bußgeldbescheid dem Betroffenen zugestellt werden müssen. Wegen dieses Verstoßes gegen zwingende Zustellungsvorschriften ist der Anwendungsbereich des § 8 VwZG eröffnet.

Die Heilung ist dadurch eingetreten, dass der Beschwerdeführer dem Rechtsanwalt am 28. Januar 2018 eine Verteidigervollmacht erteilt hat und seit diesem Tag gemäß § 51 Abs. 3 Satz 1 OWiG kraft Gesetzes empfangsberechtigt war.

Ohne Belang für die Heilung nach § 8 VwZG ist hierbei, dass dem Rechtsanwalt der Bußgeldbescheid zugegangen ist, bevor er empfangsberechtigt wurde. Nach allgemeiner Auffassung erfordern es nämlich Sinn und Zweck der Heilungsvorschriften diese auch dann anzuwenden, wenn ein Rechtsanwalt erst durch spätere Bevollmächtigung zum Verfahrensbeteiligten wird und er bereits vorher in den Besitz eines zuzustellenden Schriftstücks gelangt ist. Hat er zu diesem Zeitpunkt das Schriftstück noch im Besitz, dann hat er es mit der Bevollmächtigung gemäß § 8 VwZG erhalten, so dass es als zugestellt gilt (BVerwG NVwZ 1999, 178; OLG Düsseldorf NJW 2008, 2727).

Nach dem Rechtsbeschwerdevorbringen ist der Bußgeldbescheid – wie auch aus der Postzustellungsurkunde ersichtlich – dem Rechtsanwalt am 25. Januar 2018 tatsächlich zugegangen. Da bereits drei Tage nach Zustellung die Verteidigervollmacht erteilt wurde, ist – auch mangels gegenteiligen Anhaltspunkte – davon auszugehen, dass der Rechtanwalt zu diesem Zeitpunkt noch immer im Besitz des Bußgeldbescheids war. Der Betroffene hat nach der Bußgeldakte eine Ablichtung des Bescheids erhalten, so dass auch kein erkennbares Bedürfnis für eine eventuelle vorherige Weitergabe des Bescheids an den Betroffenen durch den Rechtsanwalt besteht. Im Übrigen wäre auch in diesem Fall eine Heilung nach § 8 VwZG zu prüfen (vgl. hierzu OLG Hamm DAR 2017, 642).

Die Bußgeldbehörde hatte auch den von den Heilungsvorschriften vorausgesetzten Zustellungswillen.

Dieser erfordert, dass die Behörde eine förmliche Zustellung tatsächlich vornehmen wollte, was schon immer dann anzunehmen ist, wenn die Behörde – wie hier – das zuzustellende Schriftstück dem Empfänger zuleitet. Es kommt nicht darauf an, dass der behördliche Wille auch auf die Einhaltung der für die Zustellungsart erforderlichen Förmlichkeiten gerichtet ist (BVerwG a.a.O; Smollich in Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 1. Aufl. 2014 VwZG § 8 Rn.2).

Mithin ist der Verstoß gegen die Zustellungsvorschriften geheilt worden.“

Also wie immer in Vollmachtsfragen: Vorsicht!!

Wohnung in der „Wärmestube“?, oder: Vielleicht hätte der Verteidiger besser geschwiegen…

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Bei der zweiten Entscheidung, auf die ich heute eingehe, handelt es sich – noch einmal – um den OLG Köln, Beschl. v. 12.06.2018 – 1 RVs 107/18, über den ich ja schon berichtet habe. Das Posting vom vergangenen Donnerstag bezog sich auf die Vollmachtsproblematik, die der Beschluss (auch) behandelt (vgl. hier Vollmacht II: Erlöschen der Vertretungsvollmacht, oder: Verteidiger aufgepasst.). Heute geht es um die im Beschluss auch angesprochenen Zustellungsfragen. Der Beschluss behandelt zwar eine Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO – also Strafverfahren, was ja an sich nicht in den „Kessel Buntes“ gehört. Die in dem Zusammenhang mit der Frage, ob dem Angeklagten die Ladung zum HV-Termin ordnungsgemäß zugestellt worden ist, er also, was Voraussetzung für die Berufungsverwerfung ist, ordnungsgemäß geladen war, angesprochenen Zustellungsfragen, haben aber über das Strafverfahren hinaus Bedeutung und passen also deshalb ganz gut in die samstägliche Berichterstattung.

Die Zustellung der Ladung zum Hauptverhandlungstermin ist nach den Gründen des OLG Beschlusses folgendermaßen erfolgt.

„a) Diese ist dem Angeklagten unter der im Rubrum angegebenen Anschrift in der Weise zugestellt worden, dass die Ladung selbst in einer Postfiliale hinterlegt und eine Benachrichtigung hierüber in den zu der Anschrift gehörenden Briefkasten eingelegt worden ist. Unter der Anschrift „H 1 – 3“ betreibt der X e. V., ein Verein zur Unterstützung von Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten, eine sog. „Wärmestube“, die als Anlaufstelle für ansonsten obdachlose Männer und Frauen vormittags Aufenthaltsmöglichkeiten, die Möglichkeit der Nahrungsaufnahme, Gesundheitsvorsorge, die Verwahrung von Wertsachen und namentlich auch die Erreichbarkeit durch Einrichtung einer Postadresse anbietet.

Dem zuvor obdachlosen Angeklagten, der am 30. März 2017 – ausschließlich, um eine im Vollzug nicht mögliche medizinische Anschlussbehandlung nach einem Herzinfarkt durchführen lassen zu können – aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, war im Haftverschonungsbeschluss aufgegeben worden, sich unverzüglich um eine Wohnung zu bemühen, entsprechende Bemühungen dem Gericht unaufgefordert nachzuweisen und die Adresse seiner gefundenen Wohnung mitzuteilen. Unter dem 10. April 2017 richtete der Abteilungsrichter an den Verteidiger die Anfrage, ob von dort die neue Anschrift des Beschuldigten mitgeteilt werden könne und versah diese Anfrage mit dem Zusatz: „Auf Ziffer a des Außervollzugsetzungsbeschlusses vom 28.03.2017 wird Bezug genommen“. Hiermit bezog er sich auf die vorstehend dargelegte Auflage. Mit Schriftsatz vom 21. April 2017 teilte der Verteidiger die „neue Anschrift“ wie im Rubrum angegeben mit. Freibeweisliche Ermittlungen der Berufungsstrafkammer im Hauptverhandlungstermin ergaben, dass der Angeklagte vom 10. April bis 28. Juli 2017 unter der angegebenen Anschrift eine Postadresse besaß.“

Das OLG sieht die Zustellung der Terminsladung als wirksam an. Es geht den Weg über § 37 Abs. 1 StPO i.V.m.§§ 178 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO, 181 Abs. 1 ZPO, § 181 Abs.1 S. 4 ZPO, also über die Gemeinschaftseinrichtung:

aa) Bei der Wärmestube der X e.V. handelt es sich zunächst um eine vom Gesetz gemeinte Gemeinschaftseinrichtung, hierzu zählen grundsätzlich auch Obdachlosenunterkünfte (MüKo-StPO-Valerius, § 37 Rz. 27; SSW-StPO-Mosbacher/Claus, 3. Auflage 2018, § 37 Rz. 35).

bb) Der Angeklagte hat unter der Anschrift der Wärmestube auch im Zeitpunkt der Zustellung im Sinne der Zustellungsvorschriften „gewohnt“.

Der Begriff der Wohnung im Sinne des Zustellungsrechts ist geprägt durch das Interesse des Zustellungsveranlassers an zeitnaher Kenntnisnahme des Inhalts des zuzustellenden Schriftstücks durch den Zustellungsempfänger bei gleichzeitiger Wahrung der Belage des Adressaten. Diese gebieten es, im Ausgangspunkt auf die tatsächlichen Verhältnisse, d. h. dessen räumlichen Lebensmittelpunkt abzustellen. Nicht maßgebend ist daher der Wohnsitzbegriff des § 7 BGB oder die polizeiliche Meldung. Anknüpfungspunkt ist vielmehr die tatsächliche Benutzung einer Wohnungweil damit grundsätzlich auch die Möglichkeit einhergeht, in zumutbarer Weise von zugestellten Sendungen Kenntnis zu nehmen (so insgesamt MüKo-ZPO-Häublein, 5. Auflage 2016, § 178 Rz. 5 m N.; Wieczorek/Schütze-Rohe, ZPO, 4. Auflage 2013, § 178 Rz. 22). Für die Erfüllung des Begriffs „Wohnen“ ist es zwar typisch, nicht aber unabdingbar, dass der Zustellungsempfänger an der angegebenen Anschrift auch übernachtet (Stein/Jonas-Roth, ZPO, 23. Auflage 2016, § 178 Rz. 6; MüKo-ZPO-Häublein a.a.O.). Sieht – wie hier – die Gemeinschaftseinrichtung eine Übernachtungsmöglichkeit nicht vor, kann der Zustellungsadressat nach Auffassung des Senats daher dort gleichwohl seinen Lebensmittelpunkt im vorstehend gekennzeichneten Sinne haben.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist hier zunächst von Bedeutung, dass die Wärmestube postalische Erreichbarkeit als eine ihrer Leistungen anbietet. Der Angeklagte selbst hatte – über seinen Verteidiger – ohne jegliche Einschränkung seine „neue Anschrift“ mit der aus dem Rubrum ersichtlichen Adresse mitgeteilt (vgl. a. SSW-StPO-Mosbacher/Claus, a.a.O., § 37 Rz. 29). Dabei war umso mehr von einem „Wohnen“ auszugehen, als die entsprechende gerichtliche Anfrage auch ausdrücklich auf die auf die Wohnsitznahme abstellende Auflage aus dem Verschonungsbeschluss Bezug nahm. Entsprechend war denn auch die postalische Erreichbarkeit des Angeklagten bis Ende Juli 2017 – also auch im Zustellungszeitpunkt – unter dieser Anschrift gegeben, eine anderweitige Erreichbarkeit hingegen – namentlich auch angesichts der Obdachlosigkeit vor seiner Festnahme – nicht bekannt.

Dieser Befund wird nicht durch die weiteren mit der Revisionsbegründung vorgetragenen Umstände infrage gestellt. Dass der Angeklagte um den Zustellungszeitpunkt herum den Kontakt mit seiner Bewährungshelferin abbrach und auch der polizeilichen Meldeauflage nicht mehr nachkam, nötigt angesichts der noch bis Ende Juli 2017 bestehenden Postadresse nicht zu der Schlussfolgerung, dass er ab diesem Zeitpunkt auch seinen – im obigen Sinne gekennzeichneten – Lebensmittelpunkt nicht mehr unter der im Rubrum angegebenen Anschrift hatte. Zutreffend weist nämlich die Generalstaatsanwaltschaft darauf hin, dass dann mit einer früheren Auflösung der Postanschrift zu rechnen gewesen wäre.

Wollte man in dieser Frage anders entscheiden und davon ausgehen, der Angeklagte habe unter der Anschrift „H 1 – 3“ nicht im Sinne der Zustellungsvorschriften gewohnt, wäre zu bedenken, dass er in diesem Falle – das Vorliegen der Voraussetzungen Übrigen unterstellt – durch öffentliche Zustellung zur Berufungshauptverhandlung hätte geladen werden können und müssen. Den oben erwähnten Belangen des Zustellungsadressaten wird in höherem Maße Rechnung getragen, nimmt man demgegenüber an, der Angeklagte habe unter der angegebenen Anschrift gewohnt, bietet die Zustellung durch Niederlegung doch jedenfalls die Chance, dass ihn das zuzustellende Schriftstück auch tatsächlich erreicht……“

Fazit: Vielleicht hätte der Verteidiger auf die Anfrage besser geschwiegen. Dann wäre dem OLG die Argumentation mit: Über den Verteidiger selbst neue Anschrift mitgeteilt, nicht möglich gewesen. Ob es im Ergebnis etwas gebracht hätte, ist eine andere Frage, aber es hätte zumindest die Argumentation erschwert.