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Fahrerlaubnis I: Entziehung der FE nach „Unfallflucht“, oder: Wertgrenze für den „bedeutenden Schaden“

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Den Tag heute widme 🙂 ich dann Entscheidungen zur Fahrerlaubnis/zum Fahrverbot.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 05.04.2022 – 5 RVs 31/22. Ergangen in einer Verkehrsstrafsache, in der das LG in der Berufung betreffend eine Verurteilung wegen „Verkehrsunfallflucht“, die Fahrerlaubnis entzogen und zugleich eine Sperre für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis von sechs Monaten angeordnet hat. Hinsichtlich des Entzugs der Fahrerlaubnis ist das Landgericht davon ausgegangen, dass das Regelbeispiel des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB erfüllt sei, da an dem geschädigten Fahrzeug ein Schaden von bedeutendem Wert entstanden sei. Diesbezüglich hat das LG festgestellt, dass sich der vordere Stoßfänger des Fahrzeugs des Angeklagten und das Heck des Geschädigtenfahrzeugs beim Ausrangieren aus einer Parklücke ineinander verhakten und sich der Sachschaden an dem zuvor unbeschädigten Fahrzeug eines Zeugen A auf 1.768,86 EUR belaufe. Seine Überzeugungsbildung hat das LG auf den in der Hauptverhandlung verlesenen Kostenvoranschlag gestützt.

Das OLG hat den Rechtsfolgenausspruch aufgehoben:

„2. Der Rechtsfolgenausspruch kann bezüglich des unerlaubten Entfernens vom Unfallort hingegen insgesamt keinen Bestand haben, da die Urteilsfeststellungen zur Schadenshöhe an einem Darlegungsmangel leiden.

Gemäß § 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 StGB liegt ein Regelfall der Fahrerlaubnisentziehung wegen charakterlicher Ungeeignetheit vor, wenn der Täter eines unerlaubten Entfernens vom Unfallort im Sinne von § 142 StGB weiß oder wissen kann, dass durch den Unfall an fremden Sachen bedeutender Schaden entstanden ist.

a) Ob ein bedeutender Schaden vorliegt, beurteilt sich nach der Höhe des Betrages, um den das Vermögen des Geschädigten als direkte Folge des Unfalls vermindert wird (KG Berlin, Beschluss vom 03.08.2021 – (3) 121 Ss 60/21 (32/21) -, Rn. 22 – 24, juris m.w.N.). Da bei der Bemessung dieser Schadensgrenze nur diejenigen Schadenspositionen berücksichtigungsfähig sind, die zivilrechtlich erstattungsfähig sind, muss das Tatgericht jedenfalls bei Unfallgeschehen, bei denen – wie hier – nicht bereits von vornherein ersichtlich ist, dass ein bedeutender Schaden entstanden ist (KG Berlin, Beschluss vom 03.08.2021 – (3) 121 Ss 60/21 (32/21) -, Rn. 22 – 24, juris m.w.N.), nicht nur mitteilen, welche unfallbedingten Fremdschäden entstanden sind, sondern auch, wie diese wertmäßig zu beziffern sind. Dies kann regelmäßig etwa durch (gedrängte) Wiedergabe eines entsprechenden schriftlichen Kfz-Sachverständigengutachtens geschehen (KG Berlin, Beschluss vom 03.08.2021 – (3) 121 Ss 60/21 (32/21) -, Rn. 22 – 24, juris m.w.N.).

Den vorbeschriebenen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Landgericht teilt lediglich mit, dass sich das Fahrzeug des Angeklagten im Bereich des vorderen Stoßfängers mit dem Heck des geschädigten Fahrzeugs verhakte und hierdurch ein Sachschaden in Höhe von 1.768,85 EUR entstand. Diese Schadenssumme liegt nur geringfügig über der für den Schadensbetrag maßgeblichen Grenze, die im Hinblick auf die allgemeine Preissteigerung jedenfalls nicht unter 1.500 EUR anzusetzen ist (im Jahr 2014 noch für 1.300 EUR: OLG Hamm Beschluss vom 6.11.2014 – 5 RVs 98/14, BeckRS 2015, 921 Rn. 21, beck-online). Da sich bei einem derartigen Unfallgeschehen ein bedeutender Fremdschaden nicht aufdrängt, hätte es daher einer (gedrängten) Darstellung der in Ansatz gebrachten Kostenpositionen zumindest auf Basis eines aussagekräftigen Kostenvoranschlags bedurft, um den Senat in die Lage zu versetzen, die Erstattungsfähigkeit der Kosten bzw. ihre Berücksichtigungsfähigkeit im Rahmen der Bewertung des bedeutenden Schadens (also z.B. nicht: Mietwagenkosten, vgl. Fischer, 69. Aufl. 2022, § 69 StGB Rn.27) zu überprüfen.“

Verkehrsrecht II: Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, oder: 260 m von Unfallstelle entfernt nicht „Unfallort“

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Author Harald Wolfgang Schmidt at de.wikipedia

Die zweite Entscheidung grieft noch einmal eine Problematik der „Unfallflucht“ auf, nämlich Die Frage: War das (noch) der „Unfallort“, von dem sich der Beschuldigte entfernt hat. Dazu der LG Lübeck, Beschl. v. 07.09.2021 – 4 Qs 164/21, den mir der Kollege T. Frings aus Itzehoe geschickt hat:

„Aus den bisherigen Ermittlungen ergibt sich, dass die Beschuldigte pp. am pp. 2021 ein Fahrzeuggespann, bestehend aus einem Audi Q7 und einem Anhänger, der Platz für zwei hintereinander stehende Pkw bot, führte. Sie befuhr die Kolberger Straße in Lübeck und wollte nach links in die Stargardstraße einbiegen. Sie musste warten, da dichter Verkehr herrschte. Der Fahrer eines ihr entgegenkommenden Taxis bremste ab, um ihr das Abbiegen zu ermöglichen. Bei dem Abbiegevorgang streifte ihr Anhänger einen gegenüber des Einmündungsbereiches der Stargardstraße geparkten Pkw Fiat Panda und verursachte daran auf einer Länge von 190 cm starke Schrammen, starke Dellen und Schmutzrückstände. Der Anhänger selbst wurde dabei nicht beschädigt. Die Beschuldigte setzte ihre Fahrt in die Stargardstraße fort. Der Taxifahrer sowie die Fahrerin des Fahrzeuges, das sich hinter der Beschuldigten auf der Kolberger Straße befand, hatten den Unfall wahrgenommen und sprachen darüber. Der Taxifahrer bog sodann ebenfalls in die Stargardstraße ein, wo er auf die Beschuldigte und ihren Beifahrer pp. traf und sie auf den Unfall ansprach. Zudem informierte er die Polizei.

Bei dem Taxifahrer handelt es sich um den Zeugen pp. Er hat bekundet, er sei durch das Geräusch und die weitere Zeugin auf den Unfall aufmerksam geworden. Die Beschuldigte sei etwa 100 Meter in die Stargardstraße hineingefahren. Er habe ihr und ihrem Begleiter gesagt, dass sie einen Unfall verursacht hätten. Diese hätten geantwortet, dass sie sich darum kümmern würden.

Mit Beschluss vom 14.06.2021 hat das Amtsgericht Lübeck der Beschuldigten pp. gemäß §§ 111a StPO, 69 StGB vorläufig die Fahrerlaubnis entzogen und ihren Führerschein beschlagnahmt. ….

Hiergegen hat die Beschuldigte mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 1.8.06.2021 Beschwerde eingelegt. Sie hat sich dahingehend eingelassen, den Unfall nicht bemerkt zu haben. Sie sei die Stargardstraße bis zum Ende durchgefahren, habe gewendet und einige Meter vor dem Parkplatz in Höhe der Hausnummer 3 angehalten. Auf dem Parkplatz habe sie ein Fahrzeug gekauft und auf ihren Anhänger geladen. Etwa 20 Minuten nach dem Einbiegen in die Stargardstaße sei der Taxifahrer erschienen und habe sie über den Unfall informiert. Er habe gesagt, dass er bereits die Polizei informiert habe und sie sich um nichts weiter kümmern müsse. Mit ihrem Einverständnis habe er den Anhänger fotografiert. Sie und ihr Begleiter hätten in der Folgezeit den Einmündungsbereich Stargardstraße/Kolbergerstraße aufgesucht, wo sich jedoch keine Personen befunden hätten. Daraufhin hätten sie ihre Fahrt fortgesetzt.

Die Beschuldigte hat ein von pp. unterzeichnetes Schriftstück vorgelegt. Darin heißt es, die Beschuldigte habe das andere Fahrzeug unbemerkt gestreift. Das Ziel ihrer Fahrt habe sich etwa 500 Meter von der Unfallstelle befunden. Nach etwa 15 Minuten sei der Taxifahrer erschienen und habe sie über den Unfall informiert. Er habe Fotos von den Kennzeichen des Zugfahrzeuges und des Anhängers gemacht und gesagt, dass Zeugen den Unfall schon bei der Polizei gemeldet hätten. Einige Minuten später sei die Beschuldigte mit ihm zur Unfallstelle gefahren, wo weder der Halter des beschädigten Fahrzeuges noch Zeugen gewesen seien. Etwa zehn Minuten später seien sie nach Hause gefahren.

II.

Die Beschwerde der Beschuldigten ist zulässig und begründet.

Aus Sicht der Kammer besteht kein dringender Tatverdacht dahingehend, dass die Beschuldigte pp. den Unfall unmittelbar wahrnahm. Es erscheint nachvollziehbar, dass sie inmitten des starken Verkehrs und mit einem Beifahrer im Fahrzeug nicht bemerkt haben könnte, dass ihr sehr langer Anhänger ein geparktes Fahrzeug streifte. Auch wenn der Fahrer des ihr entgegenkommenden Taxis ein Geräusch wahrnahm, muss dies nicht auch auf die Beschuldigte zutreffen. So könnte der Taxifahrer mit offenem Fenster gefahren sein, die Beschuldigte aber nicht.

Soweit die Beschuldigte von dem Zeugen pp. auf den Unfall angesprochen wurde, kann dies geschehen sein, nachdem sie sich bereits vom Unfallort entfernt hatte. Das Entfernen nicht vom Unfallort selbst, sondern von einem anderen Ort, an welchem der Täter erstmals von dem Unfall erfuhr, erfüllt nicht den Tatbestand des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB (BGH NStZ 2011, 209). Wenn die Beschuldigte, ihrer Einlassung entsprechend, die Stargardstraße bis zum Ende fuhr, um dort zu wenden, entfernte sie sich laut „Google Maps“ rund 260 Meter von der Unfallstelle, wobei sie sich infolge einer Kurve auch nicht mehr in Sichtweite befand. Hier bestand kein unmittelbarer räumlicher Bezug zu dem Unfallgeschehen mehr. Für feststellungsbereite Personen wäre sie hier nicht als warte- und auskunftspflichtig zu erkennen gewesen. „

Verkehrsrecht II: War der Feldweg öffentlich?, oder: Trunkenheitsfahrt/Unfallflucht und „Zäsurwirkung“

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Im zweiten Posting stelle ich zwei Entscheidungen vor, die Fragen behandeln, die immer wieder im Verkehrsrecht eine Rolle spielen.

Zunächst geht es um den BGH, Beschl. v. 01.12.2020 – 4 StR 519/19 – zur Frage der „Öffentlichkeit“, und zwar betreffend einen Feldweg:

„a) Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen hantierte der Angeklagte, ein Landwirt, hinter einem am Rand eines Feldweges abgestellten Gespann aus Traktor und Anhänger mit einer Schaufel. Dabei bewegte er die Schaufel in die Wegbreite hinein, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, ob der Weg frei war. Der Nebenkläger, der in diesem Moment mit seinem Geländemotorrad das Gespann passierte, prallte mit seinem Helm gegen das Schaufelblatt, stürzte und verletzte sich erheblich. Ein nachfolgender Begleiter des Nebenklägers stürzte ebenfalls, als er dem Nebenkläger auswich, blieb aber unverletzt.

b) Diese Feststellungen tragen nicht nur die vom Landgericht ausgeurteilte fahrlässige Körperverletzung. Tateinheitlich verwirklicht ist außerdem der Tatbestand des fahrlässigen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 5 StGB, indem der Angeklagte fahrlässig ein Hindernis bereitete und dadurch ebenfalls fahrlässig die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigte.

Insbesondere war der Feldweg, auf dem sich die Tat ereignete, dem öffentlichen Verkehrsraum zuzurechnen. Nach st. Rspr. ist ein Verkehrsraum dann öffentlich, wenn er entweder ausdrücklich oder mit stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten für jedermann oder aber zumindest für eine allgemein bestimmte größere Personengruppe zur Benutzung zugelassen ist und auch so benutzt wird (BGH, Urteil vom 4. März 2004 – 4 StR 377/03, BGHSt 49, 128 mwN). Nach den Feststellungen traf dies zu, da der Weg jedenfalls durch Fahrradfahrer und Fußgänger genutzt werden durfte und auch tatsächlich „durch berechtigte als auch durch unberechtigte Kradfahrer“ genutzt wurde. Ob der Nebenkläger berechtigt war, den Weg als Motorradfahrer zu nutzen, ist demgegenüber ohne Bedeutung. Die Voraussetzungen der subjektiven Tatseite hat das Landgericht rechtsfehlerfrei festgestellt.“

Und in der zweiten Entscheidung, dem KG, Beschl. v. 12.02.2021 – 3 Ss 5/21 – hat das KG (noch einmal) zu den Anforderungen an die Feststellung relativer Fahrunsicherheit Stellung genommen – insoweit verweise ich auf den Volltext – und zur Verhältnis: fahrlässige Trunkenheit/unerlaubtes Entfernen/Weiterfahren. Dazu das KG:

„2. Die Feststellungen rechtfertigen auch die Verurteilung wegen zunächst fahrlässig und hiernach tatmehrheitlich (§ 53 StGB) verwirklichter vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr. Die durch BGHSt 21, 203 entwickelte und seither gefestigte Rechtsprechung ist auch hier anwendbar. Danach endet die Dauerstraftat der Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) regelmäßig, wenn sich der Täter nach einem von ihm verursachten Unfall zur Flucht entschließt, so dass die im Zustand der Fahrunsicherheit erfolgende Weiterfahrt eine rechtlich selbstständige Handlung darstellt.

Zwar bildete das vom Angeklagten alkoholbedingt herbeigeführte Unfallgeschehen hier keinen Unfall im Rechtssinne; hierzu fehlte es am wirtschaftlichen Schaden. Der tiefere Grund der gefestigten Rechtsprechung liegt aber nicht im wirtschaftlichen, sondern im kognitiven und im normativen Bereich: Die Erkenntnis, einen relevanten Fahrfehler begangen zu haben, lässt den Normappell neu wirken und begründet einen neuen Tatentschluss. Dass sich der Täter „nunmehr sowohl im äußeren Geschehen wie in seiner geistig-seelischen Verfassung vor eine neue Lage gestellt“ sieht (vgl. BGHSt 21, 203), gilt sowohl für den Unfall im Rechtssinne (mit nicht nur völlig belanglosem Schaden) als auch für jeden Fahrfehler, der dem zunächst fahrlässig Fahrunsicheren nunmehr die Erkenntnis verleiht, infolge des Alkoholkonsums nicht mehr fahren zu können und zu dürfen. So lag der Fall hier, als der angetrunkene Angeklagte einer Kurve nicht folgen konnte und gegen einen auf der Gegenfahrbahn abgeparkten Anhänger stieß. Die Verurteilung wegen zweier tatmehrheitlicher Vergehen nach § 316 Abs. 1 und § 316 Abs. 2 StGB ist daher frei von Rechtsfehlern.“

Verkehrsrecht I: Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, oder: Schadensgrenze bei 1.800 EUR (?)

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Heute stelle ich drei Entscheidungen mit verkehrsrechtlichem Bezug vor.

Ich starte mit dem AG Duisburg, Beschl. v. 27.10.2020 – 204 Gs 146/20, der zur Höhe des sog. bedeutenden Fremdschadens i.S. von § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB Stellung nimmt. Und: das AG setzt die Grenze höher als die derzeit h.M. in der Rechtsprechung:

„Dabei kann derzeit offenbleiben, ob der Beschuldigte eines unerlaubten Entfernens vom Unfallort nach § 142 StGB dringend verdächtig ist. Jedenfalls fehlt es derzeit an dringenden Anhaltspunkten für das Vorliegen eines bedeutenden, an fremden Sachen entstandenen Schadens und damit für das Vorliegen eines Regelbeispiels des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB.
3Bei der Prüfung der Frage, ob die Höhe des eingetretenen Fremdschadens i. S. des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB als bedeutend anzusehen ist, können nur solche Schadenspositionen herangezogen werden, die zivilrechtlich erstattungsfähig sind (OLG Hamm, Beschluss vom 30. September 2010 – III-3 RVs 72/10 -, Rn. 10, juris). Daher kann mangels Nachweis einer tatsächlich durchgeführten Reparatur nur auf den Nettoschaden abgestellt werden, der ausweislich einer Mitteilung des geschädigten Zeugen Mi. vom 22.10.2020 entgegen der anfänglichen polizeilichen Schätzung lediglich 1.500,00 € beträgt. Hierbei handelt es sich indessen nicht um einen „bedeutenden“ Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB.

Seit dem Jahre 2002 wird für die Frage, ob ein Sachschaden „bedeutend“ im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist, vielfach auf eine Wertgrenze von 1.300,00 € abgestellt (vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 142, Rn. 29 mwN). In neuerer Zeit werden jedoch verbreitet auch Wertgrenzen von 1.400,00 € oder 1.500,00 €, in einzelnen Fällen auch von 1.600,00 € oder 1.800,00 € für angemessen erachtet (ausführlich zur aktuellen Rechtsprechung: BayObLG, Beschluss vom 17.12.2019 – 204 StRR 1940/19, BeckRS 2019, 38522, Rn. 17ff., beck-online).

Mit dem BayObLG ist das Gericht der Auffassung, dass bei der Bemessung der Wertgrenze nicht nur, aber eben auch auf den jährlich vom Statistischen Bundesamt berechneten und veröffentlichten Verbraucherpreisindex abgestellt werden kann; hiernach sind die Verbraucherpreise allein von 2002 bis 2018 um über 25% gestiegen (vgl. zur Berechnung LG Hanau, Beschluss vom 26. März 2019 – 4b Qs 26/19 -, Rn. 7, juris); hinzu kommt die seit dem Jahre 2018 eingetretene Preissteigerung. Allein dies würde es rechtfertigen, aktuell eine Wertgrenze von mindestens 1.650,00 € anzunehmen.

Zudem sind die Verbraucherpreise für die Wartung und Reparatur von Fahrzeugen allein in den Jahren von 2010 bis 2016 um 11,6% angestiegen. Auch im Bereich der Bergungs- und Abschleppkosten ist es zu deutlichen Preissteigerungen gekommen. So sind beispielsweise die Preise für ein Standard-Bergungsfahrzeug zum Abtransport von liegen gebliebenen PKWs bis 7,49 t zwischen den Jahren 2006 und 2016 um 35,5% angestiegen (vgl. LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 05. Dezember 2019 – 5 Qs 73/19 -, Rn. 7, juris, mit entsprechenden Quellen).

Darüber hinaus darf auch die allgemeine Einkommensentwicklung nicht außer Acht gelassen werden; die Nettolöhne sind von 2002 bis 2019 (ohne Berücksichtigung der Inflation) um etwa 40% gestiegen (Quelle: https://www.deutschlandinzahlen.de/tab/deutschland/volkswirtschaft/einkommen/einkommen-aus-lohn-und-gehalt-je-arbeitnehmer-und-monat).

Weiter ist bei der Festsetzung der Grenze des bedeutenden Schadens auch die Relation innerhalb der Regelbeispiele des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB zu berücksichtigen. Selbst Bagatellschäden wie Lackkratzer oder -abschürfungen erfordern aufgrund der heute üblichen Fahrzeugkonstruktionen vergleichsweise erhebliche finanzielle Aufwendungen, etwa aufgrund der notwendigen Lackierungsarbeiten. Beträge von 1.000,00 bis 2.000,00 € werden bereits bei völlig alltäglichen und (jedenfalls äußerlich) minimalen Schäden fällig. Solche Schäden jedoch sind mit der Tötung oder nicht unerheblichen Verletzung eines Menschen, für die § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ebenfalls regelmäßig eine Entziehung der Fahrerlaubnis vorsieht, nicht einmal ansatzweise zu vergleichen; es erscheint unangemessen, die Tötung oder erhebliche Verletzung eines Menschen auf eine Stufe mit solchen Bagatellschäden zu setzen.

Nach alledem tendiert das Gericht dazu, die Wertgrenze des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB nicht nur bei 1.650,00 €, sondern sogar bei (zumindest) 1.800,00 € anzusetzen. Das bedarf jedoch hier keiner Entscheidung, denn nach alledem erfüllt ein Schadensbetrag von (nur) 1.500,00 € nicht die Voraussetzungen eines „bedeutenden“ Schadens im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB.“

Entfernen vom Unfallort, oder: Arglistige Obliegenheitsverletzung im Sinne des VVG

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Die zweite Entscheidung, das LG Osnabrück, Urt. v. 26.03.2020 – 9 S 166/19 – ist auch schon nicht mehr „ganz jung“. Es hängt schon etwas länger in meinem Blogordner, Heute dann aber endlich 🙂 .

Das LG hat sich zu den Voraussetzungen einer arglistigen Obliegenheitsverletzung i.S. von § 28 Abs. 3 Satz 2 VVG bei unerlaubtem Entfernen vom Unfallort geäußert..

Gestritten worden ist über das Bestehen eines Zahlungsanspruches aus einer Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung. Für das Fahrzeug des Beklagten bestand bei derm eine Haftpflichtversicherung. Dem Versicherungsverhältnis liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung zugrunde. Der Beklagte war mit dem vorbenannten Fahrzeug am 25.10.2017 in O. in einen Verkehrsunfall verwickelt. Bei diesem Verkehrsunfall wurde ein weiteres Fahrzeug der Marke Toyota,  welches von Herrn P. geführt wurde, beschädigt. Herr P. zeigte gegen Mittag des 25. 10.2017 den Vorfall bei der Polizei an. Gegen Spätnachmittag/ Abend nahm die Polizei Kontakt mit dem Beklagten auf. Der Beklagte wurde am 26.03.2018 vom AG Osnabrück  wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort sowie einer Verkehrsordnungswidrigkeit zu einer Geldzahlung verurteilt.

Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Beklagte eine Obliegenheitsverletzung begangen hat, da er sich unerlaubt vom Unfallort entfernte und erst 11 Stunden nach dem Unfall als Täter ermittelt werden konnte. Das AG hat die Klage nach Anhörung des Beklagten sowie Vernehmung der Zeugen P., M., J. und S. abgewiesen. Es hat ausgeführt, dass der Beklagte nicht zu ihrer Überzeugung eine Obliegenheitsverletzung arglistig begangen habe. Dem Beklagten sei der Kausalitätsgegenbeweis gelungen. Die Obliegenheitsverletzung habe die Regulierung nicht nachteilig beeinflusst.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Die hatte beim LG Erfolg:.

„Der Beklagte haftet dem Kläger aus § 116 Abs. 1 S. 2 VVG in Verbindung mit Ziffern E.1.2, E.7.1, E.7.2, E.7.3 AKB, § 28 Abs. 3 VVG auf Rückzahlung von 2.162,26 €. Die Forderungshöhe ist von dem Beklagten nicht in Abrede gestellt worden.

Gemäß § 28 Abs. 3 VVG ist der Versicherer, auch wenn die Obliegenheit weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistung des Versicherers ursächlich ist, nicht zu Leistung verpflichtet, wenn der Versicherungsnehmer die Obliegenheit arglistig verletzt hat.

Das Amtsgericht hat zu Unrecht angenommen, der Kläger habe nicht den Nachweis erbracht, dass der Beklagte arglistig die Obliegenheit verletzt habe.

Der Vorwurf der Arglist setzt keine Bereicherungsabsicht des Versicherungsnehmers voraus. Vielmehr genügt bereits das Bestreben, Schwierigkeiten bei der Durchsetzung berechtigter Deckungsansprüche zu beseitigen. Arglistig handelt der Versicherungsnehmer schon dann, wenn er die Obliegenheit bewusst begeht und dabei billigend in Kauf nimmt, dass sein Verhalten den Versicherer bei der Schadensregulierung möglicherweise beeinflussen kann, vgl. BGH VersR 2011, 1121.

Die Kammer teilt die Auffassung, welche in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertreten wird, wonach nicht jedes unerlaubte Entfernen vom Unfallort pauschal als Arglist im Sinne der versicherungsrechtlichen Regelung zur Obliegenheit angesehen werden kann. Es sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls entscheidend, vgl. BGH, r + s 2013, 61.

Für das Vorliegen von Arglist ist der Versicherer, mithin der Kläger, beweispflichtig.

Ein Beweis ist gemäß § 286 ZPO erbracht, wenn das Gericht nach Durchführung der mündlichen Verhandlung und der Beweisaufnahme von der Richtigkeit der Tatsachenbehauptung überzeugt ist. Dies erfordert keinen absoluten Grad an Gewissheit. Vielmehr ist ein solcher Grad an Gewissheit ausreichend, der Zweifeln Schweigen gebietet, vgl. Greger in Zöller, 33. Auflage 2020, § 286, Rdnr. 19.

Das Berufungsgericht ist zwar gemäß § 529 ZPO grundsätzlich an die Feststellungen des Amtsgerichts gebunden, es sei denn, es bestehen konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an deren Richtigkeit und Vollständigkeit. Vorliegend hat das Amtsgericht die Angaben des Beklagten nicht hinreichend gewürdigt und hinterfragt.

Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts Osnabrück spricht für ein arglistiges Verhalten des Beklagten sein Verhalten gegenüber den strafrechtlichen Ermittlungsbehörden. Nachdem er zunächst am Unfalltag den Unfall und dessen Bemerken gegenüber den Polizeibeamten eingeräumt hat, hat er im Rahmen einer anschließenden Aussage vor der Polizei den Vorfall hingegen in Abrede gestellt. Im Rahmen des Strafverfahrens hat der Beklagte zunächst angegeben, dass ihm nichts aufgefallen sei und er seine Fahrt fortgesetzt habe. Erst nach einer Unterbrechung des Verfahrens hat der Beklagte eingeräumt, dass er nervös geworden sei und deswegen weitergefahren sei. Ihm tue sein Fehlverhalten leid. Er habe gemerkt, dass etwas geschürft habe.

Ebenfalls berücksichtigt die Kammer den Fahrweg, den der Kläger nach dem Unfall zur Schule genommen hat. Wie die Kammer im Rahmen des Termins zur mündlichen Verhandlung über die Berufung nach Anhörung des Klägers mitgeteilt hat, ist ein solcher Streckenverlauf nicht plausibel nachvollziehbar. Nach Ansicht der Kammer belegt die Fahrstrecke vielmehr, dass der Kläger beabsichtigte, seinen Verfolger, den geschädigten Herrn P., abzuhängen. Im Unterschied zur Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 28. Februar 2018, 20 U 188/17, ist auch nicht ersichtlich, dass der Unfall von einem Dritten bemerkt worden ist und daher eine Verzögerung nicht zu befürchten ist. Darüber hinaus hat der Kläger sich auch nicht unmittelbar nach Schulschluss darum bemüht, seine Beteiligung am Unfallgeschehen gegenüber den Ermittlungsbehörden aus eigenem Antrieb kundzutun.

Schließlich hat der Kläger im Rahmen seiner persönlichen Anhörung angegeben, dass er Kontakt mit einem Rechtsanwalt aufgenommen hat. Er war sich mithin seiner Verpflichtung, gegenüber den Strafermittlungsbehörden seine Beteiligung anzugeben, bewusst. Der ihm erteilte Rat, sich nicht zu melden, vermag dieses Fehlverhalten nicht zu entschuldigen.

In einer solchen Situation ist nach Ansicht der Kammer von einer vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung auszugehen. Nach Ansicht der Kammer hat der Beklagte auch billigend in Kauf genommen, dass sein Verhalten die Schadensregulierung möglicherweise beeinflussen kann. Hierbei berücksichtigt die Kammer, dass der Kläger nicht Eigentümer des Fahrzeuges ist. Wie sich aus der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft O. ergibt, ist Eigentümerin des Fahrzeuges die Großmutter des Beklagten

Der Kläger hat mithin den Nachweis einer arglistigen Obliegenheitsverletzung erbracht.“