Schlagwort-Archive: Sicherungsverteidiger

Pflichti III: „Wahlpflichtverteidiger“ fehlt in der HV, oder: Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts?

© vege- Fotolia.com

Und zum Schluss der heutigen „Pflichtverteidigungsreihe“ dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 16. 02. 2021 – III – 5 RVs 3/21. Thematik: Rechtsmittelverzicht in Abwesenheit des „Wahlpflichtverteidigers“.

Das AG hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt. In der Hauptverhandlung war der vom Angeklagten gewählte Pflichtverteidiger nicht anwesend. Das AG  hat daher – gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Angeklagten – diesem einen Sicherungsverteidiger beigeordnet. Nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung erklärt der Angeklagte dann, dass er auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Urteil verzichtet. Später dann die Sprungrevision, die Erfolg hatte:

„1. Die form- und fristgerecht erhobene Revision des Angeklagten ist trotz des von ihm erklärten Rechtsmittelverzichts (§ 302 Abs. 1 StPO) zulässig, da dieser wegen der Art und Weise seines Zustandekommens unwirksam ist. .

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Rechtsmittelverzicht wegen der Art und Weise seines Zustandekommens unwirksam, wenn er auf einer vom Gericht zu verantwortenden unzulässigen Einwirkung mit: solchen Beeinflussungsmitteln beruht, die nicht von § 136a StPO verboten sind (BGH, Beschluss vom 24.07.2019 – 3 StR 214/19, Rn. 22, 23, juris; BGH, Urteil vorn 21.04.1999 – 5 StR 714/98, juris). Eine derartige Einwirkung kommt insbesondere, dann in Betracht, wenn dem Angeklagten vom Gericht, eine Erklärung über den Rechtsmittelverzicht abverlangt wird, ohne ihm zunächst Gelegenheit zu geben, sich dazu erst nach einer Beratung mit -seinem Verteidiger zu äußern, der Rechtsmittelverzicht mithin praktisch unter Umgehung oder Ausschaltung des Verteidigers erwirkt wird (BGH, Beschluss vom 24.07.2019 – 3-StR 214/19 -,Rn. 30 – 31, juris; BGH, Urteil vom 17:09.1963 – 1 StR 301/63,.juris).

Ausgehend von diesem Maßstab ist vorliegend eine unzulässige Beeinflussung seitens des Gerichts anzunehmen. Ausweislich der dienstlichen Stellungnahme des erstinstanzlichen Richters ist der Angeklagte nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung ausdrücklich von ihm danach befragt worden, ob er auf Rechtsmittel verzichten wollte. Gelegenheit, diese Fragestellung vor Abgabe der betreffenden Erklärung mit, dem von ihm gewählten, und im Hauptverhandlungstermin nicht anwesenden Pflichtverteidiger zu erörtern, ist ihm hierbei nicht eingeräumt worden. Der Angeklagte konnte vielmehr ausschließlich Rücksprache, mit dem weiteren Verteidiger nehmen. Diese Beratungsmöglichkeit ist indes nicht ausreichend, da die Bestellung von pp. zum sogenannten Sicherungsverteidiger (§ 144 StPO) nicht nur gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Angeklagten; sondern auch verfahrensfehlerhaft erfolgte. Bleibt – wie vorliegend – der Verteidiger im Falle der notwendigen Verteidigung in der Hauptverhandlung aus, ist dem Angeklagten vor der Bestellung eines neuen Verteidigers Gelegenheit zu geben, einen Vorschlag zu unterbreiten. Dieses Vorschlagsrecht dient dem Recht des Angeklagten auf den Verteidiger seines Vertrauens-sowie der effektiven Verteidigung und gilt-unabhängig davon, ob – wie vorliegend – die Bestellung auf § 144, StPO oder – wie an sich zutreffend – auf § 145 StPO gestützt wird (Thomas/Kämpfer, in: MünchKomm, 1. Aufl. 2014, § 145 StPO Rn. 8; Krawczyk, in: BeckscherOK, Stand: 01.10:2020, § 145 StPO Rn. 6). Einer Entscheidung, ob überhaupt die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines neuen Verteidigers gegeben wären, bedurfte es daher nicht. Denn bei beiden Vorgehensweisen besteht aus den genannten Gründen zunächst ein Auswahlrecht des Angeklagten (Thomas/Kämpfer, in: MünchKomm, a.a.O., § 145 StPO Rn. 8). Da dieses Auswahlrecht seitens des Gerichts übergangen wurde, ist dem Angeklagten die Möglichkeit genommen worden, die Frage des Rechtsmittelverzichts mit dem Verteidiger seines Vertrauens zu beraten. Die unzureichende Beratungsmöglichkeit ist daher-durch die Justiz zu vertreten, so dass ein Rechtsmittelverzicht nicht vorliegt.

2. Die Revision ist ferner begründet, weil der Angeklagte durch die gegen seinen Willen erfolgte Beiordnung des Sicherungsverteidigers Rechtsanwalt pp.in erheblicher Weise in seinen Verteidigungsrechten (§ 338 Nr. 8 StPO) eingeschränkt worden ist.

a) Die diesbezügliche Verfahrensrüge des Angeklagten genügt den Begründungsanforderungen des § 344 Abs.-2 Satz 2 StPO und ist damit zulässig erhoben.

b) Sie hat ferner auch in der Sache Erfolg. Hierbei kann erneut offenbleiben, ob die tatbestandlichen Vorrausetzungen der §§ 144, 145 StPO für die Bestellung eines weiteren Verteidigers gegeben waren. Denn durch die Missachtung des Auswahlrechtes des Angeklagten wäre dieser nicht hinreichend verteidigt. Insofern wird auf die Ausführungen zur Unzulässigkeit des Rechtsmittelverzichts verwiesen.“

Pflichti II: Kein Sicherungsverteidiger wegen Corona-Pandemie, oder: Aber Rechtsmittel zulässig

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den OLG Hamm, Beschl. v. 05.05.2020 – 4 Ws 94/20. Den hat der Kollege Urbanzyk aus Coesfeld erstritten.

In dem Verfahren, in dem der Kollege tätig war – Vorwur der sexuellen Nötigung – ist ein Sicherungsverteidiger beantragt worden (jetzt § 144 StPO). Begründet worden ist das mit der Corona-Pandemie und dem Risiko, dass ggf. Verfahrensbeteiligte, also auch der Verteidiger, nicht (weiter) an der Hauptverhandlung teilnehmen können. Das hat das LG abgelehnt. Dagegen die sofortige Beschwerde, die das OLG zurückgewiesen hat. Hier die Begründung, wobei es mir um die Ausführungen des OLG zur Zulässigkeit des Rechtsmittels geht:

„Der Senat nimmt gleichfalls Bezug auf die zutreffenden Erwägungen in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft. Ohne weitere Anhaltspunkte (etwa konkrete Krankheitsverdachtsfälle im näheren Umfeld des ersten Pflichtverteidigers o.ä.) ergibt sich derzeit aus der Ansteckungsgefahr mit der Covid-19-Erkrankung kein Risiko, welches nennenswert über das allgemeine Risiko, dass Verfahrensbeteiligte krankheitsbedingt an der Hauptverhandlung nicht teilnehmen können, hinausgeht. Die Zahl der Infektionen bzw. Neuinfektionen war und ist – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – sehr gering. Zudem bestünde selbst im Falle einer Infektion angesichts des meist milden Krankheitsverlaufs und – nach derzeitigem Stand – nach dem Ablauf von zwei Wochen nach einer Infektion nicht mehr bestehender Ansteckungsgefahr eine erheblich überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass die Hauptverhandlung bei krankheitsbedingtem Ausfall einzelner Hauptverhandlungstage immer noch innerhalb der Fristen des § 229 StPO fortgesetzt werden kann.

Ergänzend bemerkt der Senat, dass das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde nach § 144 Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 142 Abs. 7 StPO auch in den Fällen statthaft ist, in denen die erstmalige Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers (Sicherungsverteidigers) abgelehnt wurde. Zwar spricht die Einordnung der Regelung über die Geltung des § 142 Abs. 7 StPO als S. 2 von § 144 Abs. 2 StPO zunächst einmal dafür, dass sich der Verweis auch nur auf Rechtsmittel gegen Entscheidungen nach § 144 Abs. 2 S. 1 StPO (also die Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers) bezieht. Abgesehen davon, dass kein vernünftiger Grund erkennbar ist, warum die Bestellung oder Nichtbestellung eines (ersten) Pflichtverteidigers nach § 142 Abs. 7 StPO sowie die Aufhebung der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers, nicht aber die Bestellung oder Ablehnung der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde anfechtbar sein soll, geht der Gesetzgeber selbst von einer entsprechenden Anfechtbarkeit aller dieser Fälle aus (BT-Drs. 19/13829 S, 50; vgl. auch: Beck-OK-StPO-Krawczyk, 36. Ed., § 144 Rdn. 12).

Der Angeklagte hat auch ein Rechtsschutzinteresse bzgl. eines Rechtsmittels gegen die Nichtbestellung eines Sicherungsverteidigers. § 144 Abs. 1 StPO dient nicht nur dem öffentlichen Interesse der Verfahrenssicherung im Sinne einer effektiven Strafrechtspflege, sondern auch dem Interesse des Angeklagten an der Wahrung des Beschleunigungsgrundsatzes (vgl. BT-Drs. 19/13829 S, 49 f.).“

Corona II: U-Haft, oder: Sicherungs(pflicht)verteidiger?

Bild von dianakuehn30010 auf Pixabay

Und auch die zweite „Corona-Entscheidung“ stammt aus dem Bereich der sog. Sechsmonatshaftprüfung. Es handelt sich erneut um einen Beschluss des OLG Stuttgart, nämlich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 06.04.2020 – H 4 Ws 72/20.

Er liegt auf der Linie der bisherigen zu den „Corona-Fragen“ bekannt gewordenen Entscheidungen. Daher hier zunächst nur die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung zwingende Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter stellen einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO dar.
  2. Ein solcher wichtiger Grund kann auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren.
  3. Dem zur Entscheidung berufenen Spruchkörper steht bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar sind, ein – vom Oberlandesgericht im Haftprüfungsverfahren nach § 121 ff. StPO nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu.
  4. Dabei wird allerdings – auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden – ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn al-lein das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte.

Zu 1 – 3 ist das – wie gesagt – die bisherige Rechtsprechung. Darüber hinaus geht aber Leitsatz 4, zu dem das OLG ausführt:

„Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin: Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Angeklagten vergrößert sich regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft; an einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind daher umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 121 Rn. 1 mwN). Falls sich entgegen der Annahme des Vorsitzenden des Schöffengerichts die Gefährdungslage zum 21. April 2020 noch nicht in einem Maße verbessert haben sollte, dass die Hauptverhandlung ohne Weiteres durchgeführt werden kann, werden deshalb auch strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein. So wird das Gericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken, wobei eine sachkundige Beratung, bspw. durch das Gesundheitsamt, angezeigt erscheint; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Schmitt aaO, GVG § 169 Rn. 5) kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Sollten die erforderlichen Maßnahmen nicht in dem üblichen Sitzungssaal des Schöffengerichts umsetzbar sein, wird zudem die Verlegung der Hauptverhandlung in einen anderen Saal, gegebenenfalls sogar außerhalb des Amtsgerichts, zu erwägen sein. Auch wird – auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden – ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn allein noch das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte. Jedenfalls sind die Anstrengungen des Gerichts und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1, Abs. 2 StPO sowie den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.“

Erstattung von Wahlanwaltsgebühren für zwei (Pflicht)Verteidiger nach Freispruch, oder: Sicherungsverteidiger

© SZ-Designs – Fotolia.com

Die zweite gebührenrechtliche Entscheidung kommt auch vom OLG Celle. Es handelt sich um den OLG Celle, Beschl. v. 10.09.2018 – 1 Ws 71/18. Der ist – fast hätte ich geschrieben: ausnahmsweise 🙂 – richtig.

Es geht im Beschluss um die Erstattung von Wahlanwaltsgebühren für zwei (Pflicht)Verteidiger nach einem Freispruch. Dem ehemaligen Angeklagten ist im Verfahren ein versuchter Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Last gelegt worden. Ihm wurde bereits im Ermittlungsverfahren im Rahmen der Haftbefehlsverkündung Rechtsanwalt Dr. T als Pflichtverteidiger beigeordnet. Im weiteren Verlauf ordnete der Kammervorsitzende des LG dem Angeklagten Rechtsanwalt Dr. M. als zweiten Pflichtverteidiger bei. Eine nähere Begründung findet sich in dem Beiordnungsbeschluss nicht. In einem Vermerk legte der Vorsitzende jedoch dar, dass aufgrund der zu erwartenden Dauer der Hauptverhandlung die Beiordnung eines zusätzlichen Verteidigers zur Sicherung des Verfahrens insbesondere vor dem Hintergrund des in Haftsachen zu beachtenden Grundsatzes der Beschleunigung geboten sei. Nach 21-tägiger Hauptverhandlung wurde der frühere Angeklagte durch Urteil des LG freigesprochen, wobei die Strafkammer die notwendigen Auslagen der Landeskasse auferlegte.

Beider Verteidiger haben dann aus abgetretenem Recht beantragt, die dem früheren Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen unter Berücksichtigung bereits erhaltener Pflichtverteidigergebühren festzusetzen. Dem ist der Rechtspfleger des LG bei der Dr. M. weitgehend nachgekommen – er war der erste. Bei der Rechtsanwalt Dr. T ebenfalls sind die zu erstattenden notwendigen Auslagen nur zu einem geringen Teil festgesetzt worden. Zur Begründung hat das LG ausgeführt, dass eine Erstattung der notwendigen Auslagen nach § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO nur insoweit in Betracht komme, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. Demzufolge setzte es Gebühren ab, die bereits gegenüber dem weiteren Verteidiger Dr. M festgesetzt worden waren.Das hat das OLG anders gesehen.

„3. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.

a) Im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 464b StPO wird die Höhe der Kosten und Auslagen festgesetzt, die ein Beteiligter einem anderen zu erstatten hat (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, Rn. 1). Dabei geht das Landgericht zunächst zutreffend davon aus, dass nach § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO i.V.m. § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO die Kosten mehrerer Verteidiger grundsätzlich nur insoweit zu erstatten sind, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 61. Auflage, § 464a StPO Rn. 13). Dieser Grundsatz gilt auch für umfangreiche und schwierige Verfahren, insbesondere auch in Schwurgerichtssachen (vgl. KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 9-14, beck-online m.w.N.) und wird weder durch das durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleistete Recht des Angeklagten auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren noch das Recht auf Hinzuziehung von bis zu drei Verteidiger gemäß § 137 Abs. 1 Satz 2 StPO relativiert (vgl. BVerfG NJW 2004, 3319, beck-online; KK-StPO/Gieg StPO aaO).

b) In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass dieser Grundsatz dann eine Ausnahme erfährt, wenn die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers aus vom Angeklagten nicht zu vertretenden Gründen – wie etwa zur Sicherung des Fortgangs des Verfahrens – erfolgt (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 25. Oktober 2012 – 2 Ws 176/12 –, juris; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. September 2011 – 1 Ws 417/11 –, juris; OLG Dresden, Beschluss vom 19. Oktober 2006 – 1 Ws 206/06 –, juris; OLG Köln, Beschluss vom 09. August 2002 – 2 Ws 191/02 –, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04. Mai 2005 – III-3 Ws 62/05 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 24. Juli 2014 – III-1 Ws 305/14 –, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04. Mai 2005 – III-3 Ws 62/05 –, juris; KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 13, beck-online; aA Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 10. November 1993 – 1b Ws 255/93 –, juris).

Der überwiegenden Ansicht liegt die Erwägung zugrunde, dass der Freigesprochene durch den Umstand einer ihm nicht zuzurechnenden Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers nicht benachteiligt werden darf. Dies steht auch in Einklang mit der verfassungsrechtlichen Vorgabe, wonach bei der Auslegung der gesetzlichen Verweisung in § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO auf § 91 Abs. 2 ZPO der Sinnzusammenhang aller einschlägigen Regelungen der Strafprozessordnung zu berücksichtigen ist und § 91 Abs. 2 ZPO lediglich als Grundsatzregel zu verstehen ist, die Ausnahmen zugänglich ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. März 1984 – 2 BvR 275/83 –, BVerfGE 66, 313-323, Rn. 28).

c) Der Senat schließt sich der herrschen Ansicht an. Da jede Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 52 Abs. 1 Satz 1 RVG für diesen den vollen gesetzlichen Vergütungsanspruch entstehen lässt, auch wenn sie gegen den Willen des Angeklagten erfolgt (vgl. BeckOK RVG/Sommerfeldt/Sommerfeldt RVG § 52 Rn. 1, beck-online; KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 9-14, beck-online), wäre eine Versagung eines Erstattungsanspruchs nach § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO dann nicht gerechtfertigt, wenn die Umstände nicht in der Sphäre des Angeklagten liegen, sondern auf anderen ihm nicht zuzurechnenden Faktoren – wie etwa der Verfahrenssicherung – beruhen. Nur auf diese Weise wird dem Umstand hinreichend Rechnung getragen, dass bei einem freigesprochenen Angeklagte vorangegangenes strafbaren Verhaltens nicht als Grund für eine finanzielle Haftung in Betracht kommt und dieser daher nicht mit Kosten belastet werden darf, die aus von ihm selbst nicht zu vertretenen Gründen entstanden sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. März 1984 – 2 BvR 275/83 –, BVerfGE 66, 313-323, Rn. 28).

Gemessen an diesen Grundsätzen waren vorliegend die Auslagen in Höhe der Wahlverteidigergebühren unter Anrechnung bereits erhaltener Vergütung als Pflichtverteidiger als notwendige Auslagen des Angeklagten dem Grunde nach erstattungsfähig. Zwar findet sich im Beiordnungsbeschluss vom 20. Juli 2017 keine Begründung für die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers. Dem zuvor gefertigten Vermerk des Vorsitzenden Richters vom 18. Juli 2017 lässt sich diese hingegen zureichend entnehmen. Danach erfolgte die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers vor allem deshalb, um dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot unter Berücksichtigung der Interessen des Angeklagten an der Verteidigung durch den von ihm gewünschten Verteidiger seines Vertrauens hinreichend Rechnung zu tragen. Die zusätzliche Beiordnung war demnach nicht einem Verhalten des früheren Angeklagten, sondern dem Umstand geschuldet, dass der zunächst beigeordnete Verteidiger seines Vertrauens erklärt hatte, an einigen avisierten Hauptverhandlungsterminen verhindert zu sein. Die Verfahrenssicherung erfolgte damit aus Fürsorgegesichtspunkten zur Sicherung eines reibungslosen Verfahrens.“

Pflicht II: Sicherungsverteidiger, oder: Nur, wenn unbedingt nötig

© G.G. Lattek – Fotolia.com

Die zweite Entscheidung zu Pflichtverteidigungsfragen ist der KG, Beschl. v. 06.07.2016 – 2 Ws 176/16 – ja, schon älter, habe ich aber erst jetzt erst vor kurzem erhalten. Es geht um die Beschwerde eines Angeklagten gegen die erfolgte Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Auf den ersten Blick stutzt man, aber: Es ging um einen Sicherungsverteidiger, den das LG dem Angeklagten neben dessen bereits beigeordneten Verteidiger „zur Sicherung des Verfahrens“ als weiteren Pflichtverteidiger beigeordnet hatte. Der Vorsitzende war davon ausgegangen, dass der bereits beigeordnete Verteidiger nicht an allen Terminstagen anwesend sein könnte. Der teilte dann aber mit, dass er (nunmehr) an sämtlichen Terminstagen teilnehmen könne. Er verlangte die Aufhebung der weiteren Beiordnung, was das LG ablehnte. Dagegen die Beschwerde des Angeklagten, die Erfolg hatte:

„2.) Die Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

Es kann hier offen bleiben, ob der Vorsitzende im Zeitpunkt der Beiordnungsentscheidung am 31. Mai 2016 bereits von der Mitteilung des Rechtsanwalts B., dass dieser doch an sämtlichen Terminen teilnehmen könne, Kenntnis gehabt hat. Jedenfalls liegen zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt die Voraussetzungen für eine weitere Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder § 140 Abs. 2 StPO nicht vor.

a) Die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers kommt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, wenn hierfür wegen des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache ein unabweisbares Bedürfnis besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten und einen ordnungsgemäßen Verfahrensverlauf zu gewährleisten. Unter anderem besteht ein solches unabweisbares Bedürfnis bei einer besonderen Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage dann, wenn sich die Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum erstreckt und zu ihrer ordnungsgemäßen Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem vorübergehenden Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden kann (vgl. KG, Beschlüsse vom 1. September 2013 – 4 Ws 122/13 –; vom 15. August 2011 – 4 Ws 75/11 –; vom 21. Juli 2003 – 4 Ws 126/03 –; und vom 5. November 1997 – 4 Ws 236, 237/97 –; OLG Brandenburg OLG-NL 2003, 261; 262 jeweils mit weit. Nachweisen).

b) Nach derzeitiger Aktenlage kann ein solcher Ausnahmefall nicht angenommen werden.

aa) Zur Sicherung des geordneten und zügigen Verfahrensablaufs in der Haftsache bedurfte es der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers zumindest nicht mehr wegen einer möglichen Verhinderung des Rechtsanwalts B. Dessen ursprünglicher Vortrag, er könne nicht an sämtlichen Hauptverhandlungstagen teilnehmen, hat sich durch seine Mitteilung vom 31. Mai 2016 erledigt. Hierdurch ist die Durchführung der Hauptverhandlung an den durch das Gericht bisher bestimmten Terminstagen in Anwesenheit des Verteidigers Rechtsanwalt B. gewährleistet.

bb) Hinsichtlich der Dauer der Hauptverhandlung existiert keine starre Grenze dergestalt, dass ab einer bestimmten Anzahl von Verhandlungstagen (hier derzeit zehn Tage) die Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers in der Regel erforderlich ist. Eine solche Bestellung im Fall einer außergewöhnlich langen Hauptverhandlung beruht auf der Erfahrung, dass eine längere Dauer der Hauptverhandlung die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Verteidiger werde planwidrig verhindert sein, und nimmt damit die allgemeine Prozessmaxime der Verfahrensbeschleunigung sowie gegebenenfalls auch das Gebot der besonderen Beschleunigung in Haftsachen auf (vgl. OLG Brandenburg; OLG Frankfurt/M., jeweils a.a.O.; OLG Hamm NJW 1978, 1986; KG, Beschluss vom 20. September 2013 – 4 Ws 122/13 –). Sie ist aber nur dann geboten, wenn und soweit andere Reaktionsmöglichkeiten auf die unvorhergesehene Verhinderung eines Verteidigers nicht ausreichen. In Betracht kommen insoweit unter anderem die Unterbrechung der Hauptverhandlung nach § 229 StPO, das Tätigwerden eines Vertreters gemäß § 53 Abs. 1 BRAO oder die Bestellung eines weiteren Verteidigers (erst) bei tatsächlichem Eintritt der Verhinderung oder Ausbleiben des zunächst allein beigeordneten Verteidigers. Die letztgenannte Möglichkeit einer Verteidigerbestellung in der laufenden Hauptverhandlung ist in § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO ausdrücklich vorgesehen (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Dezember 1993 – 4 Ws 291/93, 304/93 –, OLG Brandenburg a.a.O.).

Da die Hauptverhandlung binnen eines Monats abgeschlossen sein soll, liegt keine außergewöhnliche Dauer des Verfahrens vor. Die Kammer hat außerdem vorab die Urlaube sämtlicher Zeugen abgefragt und bei der Terminierung berücksichtigt, sodass insoweit keine Verzögerungen zu erwarten sind. Schließlich hat die Kammer an den letzten drei Verhandlungstagen keinerlei Beweisprogramm vorgesehen, sodass für unvorhergesehene Entwicklungen im Verlauf der Verhandlung ein ausreichend großes Zeitpolster besteht.

cc) Ferner rechtfertigen weder eine besondere Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage noch ein ungewöhnlicher Umfang des Verfahrens eine Beiordnung. Es ist nur ein Fall des bandenmäßigen, bewaffneten und unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angeklagt. Hierzu werden überwiegend Polizeizeugen gehört, die teilweise nur Angaben zu Ermittlungsvorgängen machen können. Das Verfahren besteht aus fünf Aktenbänden und drei sehr übersichtlichen und kurzen Sonderbänden Finanzermittlung. Aufgrund der Auffindesituation anlässlich der erfolgten Durchsuchung müsste die Beweisaufnahme innerhalb des vorgesehenen Zeitrahmens durchführbar sein.

dd) Schließlich gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit nicht die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers.

Es gibt bereits keinen allgemeinen Grundsatz, wonach einem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, nur weil ein Mitangeklagter einen solchen hat (vgl. OLG Köln NStZ-RR 2012, 351; OLG Rostock, Beschluss vom 24. Juni 2002 – 1 Ws 273/02 – BeckRS 2002, 17722 Rdn. 5f). Dies muss dann erst recht gelten, wenn der Angeklagte bereits einen Verteidiger hat und keinen weiteren möchte.“

M.E. zutreffend. Man darf ja auch die Kostenfolgen für den Angeklagten nicht übersehen.