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StPO III: Terminsaufhebungsantrag nicht beschieden, oder: Angeklagter fehlt entschuldigt

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Und zum Tagessschluss dann noch der LG Bremen, Beschl. v. 07.06.2022 – 8 Qs 131/22. Er verhält sich zu einer Wiedereinsetzungsfrage in Zusammenhang mit der Verwerfung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl.

DerAngeklagte hatte gegen einen gegen ihn ergangenen Strafbefehl Einspruch eingelegt und Akteneinsicht in Form der Übersendung von Kopien der Verfahrensakte beantragt. Unter dem 16.09.2021 teilte das AG dem Angeklagten mit, dass es dem Angeklagten unbenommen sei, Einsicht in die Verfahrensakte in den Diensträumen des Gerichts zu nehmen und entsprechend Termin mit der Geschäftsstelle zu vereinbaren. Ferner wies das Gericht darauf hin, dass durch den Angeklagten keine Gründe vorgetragen worden seien, dass er daran gehindert sei, Einsicht in den Diensträumen zu nehmen, sodass das Gericht sein Ermessen dahingehend ausgeübt habe, ihm Einsicht in den Diensträumen zu gewähren. Sodann beraumte das AG am 27.10.2021 Termin zur Hauptverhandlung auf den 03.12.2021 an. Mit Telefax vom 30.11.2021 beantragte der Angeklagte die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins. Am 02.12.2021 lehnte der Angeklagte den erkennenden Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zur Begründung führte er aus, dass er auf der Geschäftsstelle in Erfahrung gebracht habe, dass sein gestellter Terminsaufhebungsantrag noch nicht beschieden, vielmehr vorsätzlich übergangen worden sei. Vor diesem Hintergrund rügte er die Verletzung rechtlichen Gehörs. Weiter rügte er, dass er noch immer keine Akteneinsicht erhalten habe.

Dem Hauptverhandlungstermin am 03.12.2021 blieb der Angeklagte ohne Angabe von Gründen fern. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft verwarf der abgelehnte und erkennende Richter den Befangenheitsantrag als unzulässig. Der Angeklagte hat gegen die Verwerfung Berufung eingelegt und Wiedereinsetzung beantragt. Das AG hat den Wiedereinsetzungsantrag des Angeklagten als unzulässig verworfen, weil der Angeklagte die Tatsachen zur Begrün-dung seines Antrages nicht glaubhaft gemacht habe.

Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte:

„b) Der Wiedereinsetzungsantrag hat auch in der Sache Erfolg. Begründet ist ein Wiedereinsetzungsantrag in den Fällen der §§ 412, 329 Abs. 7 StPO, wenn den Angeklagten an seinem Ausbleiben in der Hauptverhandlung kein Verschulden trifft.

Insoweit hat das Gericht alle Entschuldigungsgründe zu beachten, gleichviel, wie sie ihm bekannt geworden sind. Denn es kommt nicht darauf an, ob sich der Angeklagte entschuldigt hat, sondern nur darauf, ob er entschuldigt ist (BGH 17, 391, 396). Die Entschuldigung kann sich auch aus den Akten, die das Gericht zu diesem Zweck durchzusehen hat oder aus all-gemeinkundigen Tatsachen oder naheliegenden Zusammenhängen ergeben. Bei der Verschuldensfrage ist eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten geboten. Maßgebend ist, ob dem Angeklagten nach den Umständen des Falles wegen seines Ausbleibens billigerweise ein Vorwurf zu machen ist (Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Auflage, § 329 Rz. 19, 23).

Eine genügende Entschuldigung ist in Fällen der fehlerhaften Ablehnung oder Nichtbescheidung eines Verlegungsantrages unter Verstoß gegen das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG anerkannt (BeckOK StPO/Golf StPO § 230 Rn. 12.1).

Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn trotz beantragter Terminsverlegung oder -aufhebung und Bestehen eines Verlegungs- oder Aufhebungsgrundes gleichwohl eine mündliche Verhandlung am ursprünglich bestimmten Termin stattfindet und in der Sache entschieden wird. Gleiches gilt, sofern sich — ohne dass das Vorliegen eines Verlegungs- oder Aufhebungsgrundes abschließend beurteilt werden könnte — aus der Art und Weise der Be-handlung eines abgelehnten Terminsaufhebungs- oder -verlegungsantrags beziehungsweise der Begründung für dessen Ablehnung ergibt, dass die Bedeutung und die Tragweite des Rechts auf rechtliches Gehör verkannt wurden.

Der Angeklagte hat am 30.11.2022 die Aufhebung des auf den 03.12.2022 anberaumten Hauptverhandlungstermins beantragt. Zwar muss der Antragssteller grundsätzlich die Gründe für eine Terminsverlegung oder -aufhebung im Antrag so detailliert vortragen, dass dem Gericht eine Prüfung ihrer Erheblichkeit möglich ist.

Hier kann indes offenbleiben, ob die durch den Antragssteller vorgebrachten Begründung eine Aufhebung des Termins geboten hätten. Genügt der Antrag den vorgenannten Voraus-setzungen nicht, so ist das Gericht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens grundsätzlich verpflichtet, den Antragsteller auf Lücken im Antrag hinzuweisen und ihm die Möglichkeit zu geben, fehlende Angaben nachzuholen.

Aus den vorstehenden Ausführungen folgt jedenfalls, dass Lücken im Terminsaufhebungs-antrag durch Gewährung rechtlichen Gehörs geschlossen oder aber der Terminsaufhebungsantrag hätte beschieden werden müssen, was nicht erfolgt ist. Allenfalls bei einem erst unmittelbar vor dem Termin gestellten Antrag kann das Gericht von der Gewährung rechtlichen Gehörs absehen. Dies war hier aber nicht der Fall, da noch drei Werktage zwischen dem Antrag und dem Hauptverhandlungstermin lagen.

Die Nichtbescheidung des Terminsaufhebungsantrages entschuldigt daher den Angeklagten hinsichtlich der Versäumung der Hauptverhandlung. Demgemäß war ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.“

OWi I: Prüfpflichten bei standardisierter Messung, oder: VerfG rüffelt AG Oranienburg/OLG Brandenburg

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Heute zur Wochenmitte OWi-Entscheidungen, dazu habe ich länger nichts mehr gebracht.

Den Opener mache ich mit dem VerfG Brandenburg, Beschl. v. 18.2.2022 – VerfGBbg 54/21 – zur Prüfpflicht des Tatrichters beim standardisierten Messverfahren (hier: Poliscan Speed). Nichts weltbewegend Neues, aber: Das VerfG Brandenburg ruft noch einmal ins Gedächtnis. wie der Tatrichter mit der Einlassung des Betroffenen umzugehen hat, wenn ein standardisiertes Messverfahren vorliegt: Die dazu geltenden Grundsätze entheben ihn nicht davon, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen:

„a) Das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg vom 14. Dezember 2020 (13 b OWi 3423 Js-OWi 27348/20 [496/20]) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts gewährt Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu den für diese erheblichen Sach- und Rechtsfragen zu äußern. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und rechtzeitiges, möglicherweise erhebliches Vorbringen bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. ausführlich Beschluss vom 16. März 2018 – VfGBbg 56/16 -, m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Gericht das ihm unterbreitete Vorbringen zur Kenntnis nimmt und in Betracht zieht. Es ist nicht verpflichtet, sich mit jeglichem Vorbringen ausdrücklich zu befassen, sondern kann sich auf die Bescheidung der ihm wesentlich erscheinenden Punkte beschränken. Insbesondere verwehrt es der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht, den Vortrag eines Verfahrensbeteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts, zum Beispiel wegen sachlicher Unerheblichkeit, ganz oder teilweise außer Betracht zu lassen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nur verletzt, wenn die Nichtberücksichtigung eines Vortrags oder von Beweisanträgen im Prozessrecht keine Stütze mehr findet. Hierzu müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass tatsächliches Vorbringen eines Verfahrensbeteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 72/19 -, Rn. 36 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Solche Umstände können insbesondere dann vorliegen, wenn das Gericht das Kernvorbringen eines Beteiligten unberücksichtigt lässt. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in der Begründung der Entscheidung nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist. Daraus ergibt sich eine Pflicht der Gerichte, die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen in den Entscheidungsgründen zu verarbeiten (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 72/19 -, Rn. 36 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de; vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26. September 2012 – 2 BvR 938/12 -, Rn. 20, vom 16. September 2010 – 2 BvR 2394/08 -, Rn. 14, und vom 7. Dezember 2006 – 2 BvR 722/06 -, Rn. 23, www.bverfg.de).

bb) Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Bußgeldverfahren die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens reduzierte Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflichten der Fachgerichte begründen. Die Gerichte sind nicht dazu gehalten, der Ordnungsgemäßheit des Messverfahrens nachzugehen, solange sich keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 39 ff., juris). Ermittelt der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, hat das Gericht zu entscheiden, ob es sich dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann. Entsprechend seiner Amtsaufklärungspflicht hat das Fachgericht die Korrektheit des Messergebnisses dann individuell – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – zu überprüfen und seine Überzeugung im Urteil darzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 60, juris; so wohl auch BGH, Beschluss vom 30. Oktober 1997 – 4 StR 24/97 -, BGHSt 43, 277-284, Rn. 26, juris).

cc) Nach diesen Maßstäben verletzt das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

Das Urteil lässt nicht erkennen, dass das Gericht den Tatsachenvortrag des Beschwerdeführers, mit dem er die Zuverlässigkeit des Messverfahrens in Zweifel gezogen hat, zur Kenntnis genommen und in Betracht gezogen hat. Kern des Beschwerdevorbringens war, dass die im Beweisfoto erkennbaren hellen Lichtflächen auf eine das Messverfahren beeinflussende Reflexion der Laserstrahlen durch im Messbereich befindliche reflektierende Flächen hindeuten. Ob das Amtsgericht das Vorbringen in Erwägung gezogen hat, lässt sich weder aus dem Beschluss, mit dem die Beweisanträge abgelehnt worden sind, noch aus den Urteilsgründen erkennen. Es hat in den Urteilsfeststellungen keinen Niederschlag gefunden. Dabei ist es Sache des Fachgerichts zu beurteilen, ob es die vorgetragenen Anhaltspunkte für hinreichend konkret erachtet. Die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens entheben den Tatrichter jedoch nicht davon, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen. Als bloße allgemeine Behauptungen „ins Blaue hinein“, die insgesamt zu vernachlässigen sind, ließ sich das Vorbringen des Beschwerdeführers im Entscheidungszeitpunkt nicht ohne Weiteres qualifizieren. Dies mag inzwischen im Hinblick auf die Erkenntnisse zu feststehenden Objekten, Reflexionen und deren Einfluss auf Messungen durch die jüngste obergerichtliche Rechtsprechung anders zu betrachten sein (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 13. Januar 2022 – 1 OWi 2 SsBs 58/21 -, Rn. 15 f., juris). Diesen Kenntnisstand konnte jedoch das Amtsgericht bei Bescheidung der Beweisanträge und Urteilsfällung nicht voraussetzen.

dd. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts vom 14. Dezember 2020 beruht auf dieser Verletzung des Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV, weil nicht auszuschließen ist, dass das Amtsgericht eine andere, dem Beschwerdeführer günstige Entscheidung getroffen hätte, wenn es sein Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hätte.“

Und das OLG Brandenburg, das die Rechtsbeschwerde verworfen hatte, wird dann auch gleich mitgerüffelt:

„3. Auch der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 3. Mai 2021 (1 OLG 53 Ss-OWi 162/21) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV. Zwar bedarf vor dem Hintergrund der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Begründungsanforderungen nach § 80 Abs. 4 Satz 2 OWiG der Beschluss über die Zulassung der Rechtsbeschwerde, die eine unanfechtbare Zwischenentscheidung ist, weder im Falle der Verwerfung noch der Zurückweisung einer ausführlichen Begründung (vgl. Bär, in: BeckOK OWiG, Stand: 1. Oktober 2021, OWiG § 80 Rn. 49 m. w. N.), eine Begründung enthält der Beschluss vom 3. Mai 2021 auch nicht.

Indes hat das Brandenburgische Oberlandesgericht in dem Beschluss vom 3. Mai 2021 durch die Bezugnahme von § 349 Abs. 2 StPO sowie die hierauf verweisenden Vorschriften des OWiG zu erkennen gegeben, dass es den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde für offensichtlich unbegründet erachtet. Dabei hat das Oberlandesgericht verkannt, dass § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG die Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen der hier gegebenen Versagung des rechtlichen Gehörs durch das Amtsgericht gerade gebietet. Die Vorschrift soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein korrigierendes Eingreifen des Rechtsbeschwerdegerichts in denjenigen Fällen ermöglichen, in denen sich das Vorliegen einer Gehörsverletzung geradezu aufdrängt und es nicht zweifelhaft erscheint, dass das Urteil einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung nicht standhalten würde (BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 1992 – 2 BvR 700/91 -, Rn. 19 m. w. N., juris). Die Anwendung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG kann mithin dazu beitragen, Verstöße gegen den Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vor Erschöpfung des ordentlichen Rechtswegs zu beseitigen und die ansonsten erforderliche Anrufung des Verfassungsgerichts zu vermeiden. Deshalb hat das Rechtsbeschwerdegericht bereits im Zulassungsverfahren zu prüfen, ob eine Gehörsverletzung vorliegt (vgl. BVerfG, a. a. O.).

Dies ist hier erkennbar unterblieben. Das Oberlandesgericht hat die Regelung in § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG in seiner Entscheidung unerwähnt gelassen.“

Ich verstehe es nicht. es ist doch gar nicht so schwer, die Rechtsprechung des BVerfG aus 2 BvR 1616/18 umzusetzen, die ja nicht gänzlich neu ist, sondern letztlich doch auf der Rechtsprechung des BGH zum standardisierten Messverfahren aus 1997 (!!) aufbaut. Aber, wenn man nicht will……

Vollstreckung III: Rechtliches Gehör gewährt?, oder: Spätestens bei der mündlichen Anhörung

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Und als dritte Entscheidung zum Vollstreckungsrecht dann noch der KG, Beschl. v. 29.12.2021 – 2 Ws 147/21 – zum rechtliches Gehör im Vollstreckungsverfahren.

Die Strafvollstreckungskammer hat eine „Zwei-Drittel-Entlassung“ auf Bewährung abgelehnt. Das dagegen gerichtete Rechtsmittel des Verurteilten hatte Erfolg:.

„Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem durchgreifenden Verfahrensfehler.

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat zu dem Rechtsmittel wie folgt Stellung genommen:

„Soweit die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung der Reststrafen zur Bewährung abgelehnt hat, ist ihre Entscheidung verfahrensfehlerhaft zustande gekommen und kann daher keinen Bestand haben; denn sie hat ihre Entscheidung ohne ausreichende Anhörung des Verurteilten getroffen.

Der Zweck der gemäß § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO zwingend erforderlichen Anhörung des Verurteilten liegt zum einen in der Gewährung rechtlichen Gehörs, zum anderen darin, den Sachverhalt zu ermitteln und sich durch einen unmittelbaren und aktuellen persönlichen Eindruck von dem Verurteilten eine zuverlässige Entscheidungsgrund-lage zu verschaffen (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 19. September 2012 – 2 Ws 269 – 270/12 –, juris, m. w. N.). Daher müssen spätestens im Zeitpunkt der mündlichen Anhörung dem Verurteilten die Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt und der Staatsanwaltschaft bekannt sein oder bekannt gemacht werden, insbesondere so-weit darin belastende Umstände, die entscheidungserheblich sind, enthalten sind (vgl. KG a.a.O.). Diesen Anforderungen wird das Verfahren der Kammer nicht gerecht.

Die Kammer hat das rechtliche Gehör des Verurteilten in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem sie aufgrund von Tatsachen entschieden hat, zu denen er in der mündlichen Anhörung nicht gehört werden konnte, weil sie zu diesem Zeitpunkt allen Beteiligten noch unbekannt waren. Denn sie hat ihrer Entscheidung die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Tegel vom 3. Dezember 2021 zugrunde gelegt, die nach dem glaubhaften Vortrag des Verteidigers nicht Gegenstand der am selben Tage durchgeführten mündlichen Anhörung war und nach Aktenlage weder dem Verurteilten noch dem Verteidiger vor der Anhörung bekannt gemacht worden ist. Vielmehr dürfte die Stellungnahme, die erst am 3. Dezember 2021 um 15:47 Uhr von der Justizvollzugsanstalt versandt wurde, ausweislich des Protokolls der Anhörung erst nach dem Anhörungstermin bei der Strafvollstreckungskammer eingegangen sein. Die Stellungnahme vom 3. Dezember 2021 entsprach zwar in weiten Teilen der vorangegangenen Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 13. August 2021, die Gegenstand der Erörterungen im Anhörungstermin war. Sie enthielt indes auch neue entscheidungserhebliche Gesichtspunkte. Dies gilt insbesondere für die Ausführungen zu den Stimmungsschwankungen und Verhaltensweisen des Verurteilten. Der Fehler hat sich auch auf die Entscheidung ausgewirkt; denn die Strafvollstreckungs-kammer hat die Stellungnahme vom 3. Dezember 2021 – was sich aus deren voll-ständiger Einrückung in den Beschluss ergibt – auch auf die erst in der neuen Stellungnahme mitgeteilten Tatsachen gestützt.

Unter diesen Umständen wird die Anhörung ihrem Zweck, dem entscheidenden Gericht einen aktuellen persönlichen Eindruck von dem Verurteilten zu verschaffen, nicht mehr gerecht.

Das Beschwerdegericht kann in der Sache entgegen § 309 Abs. 2 StPO nicht selbst entscheiden. Zwar kann das rechtliche Gehör grundsätzlich im Beschwerdeverfahren nachgeholt werden (vgl. KG a.a.O.). Vorliegend ist die Zurückverweisung jedoch unumgänglich, weil das Landgericht die nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO zwingend vor-geschriebene mündliche Anhörung des Verurteilten nicht ordnungsgemäß durchgeführt hat und dies einen im Beschwerderechtszug nicht heilbaren Verfahrensmangel darstellt (vgl. KG a.a.O.).“

Diese Ausführungen treffen zu. Der Senat schließt sich ihnen an.“

News im OWi-Verfahren: Nächste Vorlage an den BGH, oder: OLG Koblenz fragt nach Rohmessdaten bei ES 3.0

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Ich weiß, es ist Freitag und da ist Gebührentag, aber für Sondermeldungen ist immer Zeit. Und hier habe ich eine, und zwar aus dem Bußgeldverfahren.

Es gibt nämlich mit dem OLG Koblenz, Beschl. v. 01.02.2022 – 3 OWi 32 SsBs 99/21 -, den mir der Kollege Keilhauer aus Kaiserslautern gerade geschickt hat, die nächste Vorlage an den BGH. Und zwar will das OLG vom BGH wissen:

Darf ein in einem standardisierten Messverfahren (hier: ESO-Einseitensensor ES 3.0 – Softwareversion 1.007.2) ermitteltes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe, die nicht zur Bußgeldakte gelangt sind, zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, oder beinhaltet dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG) bzw. eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Betroffenen (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG iVm. § 338 Nr. 8 StPO)? Datum und Uhrzeit ändern

Ich stelle mal nur den Leitsatz/die Frage ein. Den Rest dann bitte selbst lesen. Es verwundert natürlich nicht, dass das OLG Koblenz die Frage verneinen will.

Also nach der Vorlage des OLG Zweibrücken die zweite Befassung des BGH mit den Fragen. Nun ja, nicht ganz bzw. noch nicht. Und das verwundert dann aber doch. Die Vorlage des OLG Zweibrücken ist mit dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 04.05.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21 – erfolgt. Man sollte doch meinen, dass nach nun mehr als acht Monaten allmählich mal eine Entscheidung kommen sollte. Aber das dürfte dann doch wohl noch ein wenig dauern, denn:

„Der Betroffene hat hierauf durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 5. Juli 2021 erwidert (BI. 163 ff. d.A.) und weiter beantragt, das Verfahren bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs über den Vorlagebeschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken – 1 OWi 2 SsRs 19/21 – vom 4. Mai 2021 auszusetzen.

Dem ist der Einzelrichter des Senats zunächst nachgekommen. Eine Nachfrage beim Bundesgerichtshof vom 30. Dezember 2021 hat jedoch ergeben, dass das genannte Vorlage-verfahren dort (noch) nicht anhängig ist. Da es sich um eine eilbedürftige Fahrverbotssache handelt, ist ein längeres Zuwarten auf eine höchstrichterliche Entscheidung deshalb nicht mehr sachgerecht. Von daher trifft der Senat die in der Sache vorliegend gebotene Entscheidung, die allerdings in eine weitere Vorlage an den Bundesgerichtshof mündet.“

Man fragt sich, wer denn nun in der Sache nicht voran macht.

Bewährung III: Rechtliches Gehör vor Widerruf, oder: Wenn die Anhörung vor der Entscheidung unterbleibt….

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Und als dritte Entscheidung zu Bewährungsfragen dann etwas Verfahrensrechtliches, nämlich zur Frage der Zustellung der Ladung zur mündlichen Anhörung und zur Frage der Folgen, wenn diese unterbleibt. Dazu verhält sich der LG Itzehoe, Beschl. v. 15.10.2021 – 2 Qs 183/21, von dem ich hier nur die Leitsätze einstelle, nämlich:

  1. Wird eine sofortige Beschwerde durch das Beschwerdegericht für begründet erachtet, so erlässt es nach § 309 Abs. 2 StPO im Regelfall zugleich die in der Sache erforderliche Entscheidung. Die Zurückverweisung einer Rechtssache an das erstinstanzliche Gericht kommt nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen in Betracht.

  2. Die nach § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO vorgeschriebene Gewährung rechtlichen Gehörs durch mündliche Anhörung ist vor einem Bewährungswwiderruf zwingend. Ist sie unterblieben ist, leide die Widerrufsentscheidung an einem Verfahrensfehler.

Den Beschluss hat mir übrigens die Kollegin A. Hirsch aus Hamburg geschickt, die in den Neuauflagen meiner Handbücher, die jetzt bald vorliegen, einer meiner neuen „Mitstreiteri“ ist.