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Vollstreckung III: Rechtliches Gehör gewährt?, oder: Spätestens bei der mündlichen Anhörung

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Und als dritte Entscheidung zum Vollstreckungsrecht dann noch der KG, Beschl. v. 29.12.2021 – 2 Ws 147/21 – zum rechtliches Gehör im Vollstreckungsverfahren.

Die Strafvollstreckungskammer hat eine „Zwei-Drittel-Entlassung“ auf Bewährung abgelehnt. Das dagegen gerichtete Rechtsmittel des Verurteilten hatte Erfolg:.

„Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem durchgreifenden Verfahrensfehler.

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat zu dem Rechtsmittel wie folgt Stellung genommen:

„Soweit die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung der Reststrafen zur Bewährung abgelehnt hat, ist ihre Entscheidung verfahrensfehlerhaft zustande gekommen und kann daher keinen Bestand haben; denn sie hat ihre Entscheidung ohne ausreichende Anhörung des Verurteilten getroffen.

Der Zweck der gemäß § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO zwingend erforderlichen Anhörung des Verurteilten liegt zum einen in der Gewährung rechtlichen Gehörs, zum anderen darin, den Sachverhalt zu ermitteln und sich durch einen unmittelbaren und aktuellen persönlichen Eindruck von dem Verurteilten eine zuverlässige Entscheidungsgrund-lage zu verschaffen (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 19. September 2012 – 2 Ws 269 – 270/12 –, juris, m. w. N.). Daher müssen spätestens im Zeitpunkt der mündlichen Anhörung dem Verurteilten die Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt und der Staatsanwaltschaft bekannt sein oder bekannt gemacht werden, insbesondere so-weit darin belastende Umstände, die entscheidungserheblich sind, enthalten sind (vgl. KG a.a.O.). Diesen Anforderungen wird das Verfahren der Kammer nicht gerecht.

Die Kammer hat das rechtliche Gehör des Verurteilten in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem sie aufgrund von Tatsachen entschieden hat, zu denen er in der mündlichen Anhörung nicht gehört werden konnte, weil sie zu diesem Zeitpunkt allen Beteiligten noch unbekannt waren. Denn sie hat ihrer Entscheidung die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Tegel vom 3. Dezember 2021 zugrunde gelegt, die nach dem glaubhaften Vortrag des Verteidigers nicht Gegenstand der am selben Tage durchgeführten mündlichen Anhörung war und nach Aktenlage weder dem Verurteilten noch dem Verteidiger vor der Anhörung bekannt gemacht worden ist. Vielmehr dürfte die Stellungnahme, die erst am 3. Dezember 2021 um 15:47 Uhr von der Justizvollzugsanstalt versandt wurde, ausweislich des Protokolls der Anhörung erst nach dem Anhörungstermin bei der Strafvollstreckungskammer eingegangen sein. Die Stellungnahme vom 3. Dezember 2021 entsprach zwar in weiten Teilen der vorangegangenen Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 13. August 2021, die Gegenstand der Erörterungen im Anhörungstermin war. Sie enthielt indes auch neue entscheidungserhebliche Gesichtspunkte. Dies gilt insbesondere für die Ausführungen zu den Stimmungsschwankungen und Verhaltensweisen des Verurteilten. Der Fehler hat sich auch auf die Entscheidung ausgewirkt; denn die Strafvollstreckungs-kammer hat die Stellungnahme vom 3. Dezember 2021 – was sich aus deren voll-ständiger Einrückung in den Beschluss ergibt – auch auf die erst in der neuen Stellungnahme mitgeteilten Tatsachen gestützt.

Unter diesen Umständen wird die Anhörung ihrem Zweck, dem entscheidenden Gericht einen aktuellen persönlichen Eindruck von dem Verurteilten zu verschaffen, nicht mehr gerecht.

Das Beschwerdegericht kann in der Sache entgegen § 309 Abs. 2 StPO nicht selbst entscheiden. Zwar kann das rechtliche Gehör grundsätzlich im Beschwerdeverfahren nachgeholt werden (vgl. KG a.a.O.). Vorliegend ist die Zurückverweisung jedoch unumgänglich, weil das Landgericht die nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO zwingend vor-geschriebene mündliche Anhörung des Verurteilten nicht ordnungsgemäß durchgeführt hat und dies einen im Beschwerderechtszug nicht heilbaren Verfahrensmangel darstellt (vgl. KG a.a.O.).“

Diese Ausführungen treffen zu. Der Senat schließt sich ihnen an.“

News im OWi-Verfahren: Nächste Vorlage an den BGH, oder: OLG Koblenz fragt nach Rohmessdaten bei ES 3.0

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Ich weiß, es ist Freitag und da ist Gebührentag, aber für Sondermeldungen ist immer Zeit. Und hier habe ich eine, und zwar aus dem Bußgeldverfahren.

Es gibt nämlich mit dem OLG Koblenz, Beschl. v. 01.02.2022 – 3 OWi 32 SsBs 99/21 -, den mir der Kollege Keilhauer aus Kaiserslautern gerade geschickt hat, die nächste Vorlage an den BGH. Und zwar will das OLG vom BGH wissen:

Darf ein in einem standardisierten Messverfahren (hier: ESO-Einseitensensor ES 3.0 – Softwareversion 1.007.2) ermitteltes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe, die nicht zur Bußgeldakte gelangt sind, zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, oder beinhaltet dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG) bzw. eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Betroffenen (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG iVm. § 338 Nr. 8 StPO)? Datum und Uhrzeit ändern

Ich stelle mal nur den Leitsatz/die Frage ein. Den Rest dann bitte selbst lesen. Es verwundert natürlich nicht, dass das OLG Koblenz die Frage verneinen will.

Also nach der Vorlage des OLG Zweibrücken die zweite Befassung des BGH mit den Fragen. Nun ja, nicht ganz bzw. noch nicht. Und das verwundert dann aber doch. Die Vorlage des OLG Zweibrücken ist mit dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 04.05.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21 – erfolgt. Man sollte doch meinen, dass nach nun mehr als acht Monaten allmählich mal eine Entscheidung kommen sollte. Aber das dürfte dann doch wohl noch ein wenig dauern, denn:

„Der Betroffene hat hierauf durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 5. Juli 2021 erwidert (BI. 163 ff. d.A.) und weiter beantragt, das Verfahren bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs über den Vorlagebeschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken – 1 OWi 2 SsRs 19/21 – vom 4. Mai 2021 auszusetzen.

Dem ist der Einzelrichter des Senats zunächst nachgekommen. Eine Nachfrage beim Bundesgerichtshof vom 30. Dezember 2021 hat jedoch ergeben, dass das genannte Vorlage-verfahren dort (noch) nicht anhängig ist. Da es sich um eine eilbedürftige Fahrverbotssache handelt, ist ein längeres Zuwarten auf eine höchstrichterliche Entscheidung deshalb nicht mehr sachgerecht. Von daher trifft der Senat die in der Sache vorliegend gebotene Entscheidung, die allerdings in eine weitere Vorlage an den Bundesgerichtshof mündet.“

Man fragt sich, wer denn nun in der Sache nicht voran macht.

Bewährung III: Rechtliches Gehör vor Widerruf, oder: Wenn die Anhörung vor der Entscheidung unterbleibt….

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Und als dritte Entscheidung zu Bewährungsfragen dann etwas Verfahrensrechtliches, nämlich zur Frage der Zustellung der Ladung zur mündlichen Anhörung und zur Frage der Folgen, wenn diese unterbleibt. Dazu verhält sich der LG Itzehoe, Beschl. v. 15.10.2021 – 2 Qs 183/21, von dem ich hier nur die Leitsätze einstelle, nämlich:

  1. Wird eine sofortige Beschwerde durch das Beschwerdegericht für begründet erachtet, so erlässt es nach § 309 Abs. 2 StPO im Regelfall zugleich die in der Sache erforderliche Entscheidung. Die Zurückverweisung einer Rechtssache an das erstinstanzliche Gericht kommt nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen in Betracht.

  2. Die nach § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO vorgeschriebene Gewährung rechtlichen Gehörs durch mündliche Anhörung ist vor einem Bewährungswwiderruf zwingend. Ist sie unterblieben ist, leide die Widerrufsentscheidung an einem Verfahrensfehler.

Den Beschluss hat mir übrigens die Kollegin A. Hirsch aus Hamburg geschickt, die in den Neuauflagen meiner Handbücher, die jetzt bald vorliegen, einer meiner neuen „Mitstreiteri“ ist.

OWi I: Umsetzung von BVerfG 2 BvR 1616/18, oder: Bei den AG klappt es, bei den OLG nicht so richtig

Am zweiten Tag der Woche dann OWi-Entscheidungen.

Und ich beginne mit einigen Entscheidungen zur Umsetzung der Entscheidung des BVerfG v. 11.12.2020 – 2 BvR 1616/18.

Zunächst der Hinweis auf zwei amtsgerichtliche Entscheidungen, und zwar auf den AG Leverkusen, Beschl. v. 08.02.2021 – 55 OWi 120/21 (b), den mir die Kollegin Redmer-Rupp geschickt hat, und auf den AG Meiningen, Beschl. v. 21.01.2021 – OWi 1/21 -, den ich mir beim Kollegen Gratz „geklaut“ habe. In beiden Entscheidungen geht es um den Umfang des Einsichtsrechts des Betroffenen, das die AG bejahen und wozu sie im Einzelnen Stellung nehmen. Das AG Meiningen in einem – wie der Kollege Gratz zutreffend anmerkt – in einem ungewöhnlich langen Beschluss.

Und dann der Hinweis auf einen „Mauerbeschluss“ des BayObLG (wen wundert das noch?), und zwar auf den BayObLG, Beschl. v. 13.01.2021 – 202 ObOWi 1760/20 -, das meint:

Durch die bloße Versagung der Einsichtnahme bzw. die Ablehnung der Überlassung von nicht zu den Bußgeldakten gelangter sog. „Rohmessdaten“ wird das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) regelmäßig nicht verletzt, weshalb ein Grund zur Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht gegeben ist.

Dort zitiert man immer „schön“ das BVerfG und gibt so den Anschein, als wenn man ihm Folge. Tut man aber nicht.

Und als vierte Entscheidung dann in dem Zusammenhang hier dann noch der OLG Oldenburg, Beschl. v. 05.01.2021 – 2 Ss (OWI) 298/20 – zu den Anforderungen an die Verfahrensrüge, mit der der Betroffene geltend gemacht hatte, dass ihm von der Verwaltungsbehörde nicht alle angeforderten Unterlagen zur Verfügung gestellt worden waren. Die hatte keinen Erfolg (wen wundert es?), weil sie nach Auffassung des OLG nicht ausreichend begründet war:

„Im Rahmen der Begründung der Rechtsbeschwerde trägt der Betroffene hier vor, mit Schreiben vom 02.01.2020 bei der Bußgeldbehörde die Zurverfügungstellung der unverschlüsselten Rohmessdaten angefordert und einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt zu haben. Es folgt die Wiedergabe des in der Hauptverhandlung am 30.09.2020 gestellten Aussetzungsantrages, in Verbindung mit dem Antrag auf Zurverfügungstellung der Rohmessdaten.

Damit ist die Verfahrensrüge jedoch nicht ordnungsgemäß ausgeführt worden. Es fehlt die Mitteilung, ob und wie die Verwaltungsbehörde auf den Antrag auf Herausgabe der Rohmessdaten reagiert hat. Soweit der Betroffene bzgl. des Vorhandenseins von Rohmessdaten auf die Stellungnahme der Leivtec vom 16.7.2019 verweist, wonach Rohmessdaten „in Form der Auswerte-Start-Distanz, Auswerte-Ende-Distanz und Messzeit-Auswertestrecke“ gespeichert würden, finden sich diese Angaben nämlich bereits auf BI. 31 der VA. Auf BI. 32 dA befindet sich zudem das „Messprotokoll der Messreihe“. Welche vorhandenen Daten ihm darüber hinaus vorenthalten worden sein sollen, bleibt somit unklar. Hätte die Verwaltungsbehörde insoweit eine ablehnende Entscheidung getroffen, wäre gegen diese ohnehin erst danach ein Antrag nach § 62 OWiG in Betracht gekommen. Entscheidungen können nämlich nicht vor deren Erlass angefochten werden (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 06.07.2018-IV-2RBs 133/18 unter Hinweis auf BGHSt 25,187). Vortrag hierzu fehlt ebenfalls.“

Hier hört man den Stein, der dem OLG vom Herzen gefallen ist, weil man sich auf die formale Seite zurückziehen konnte, recht deutlich.

Nebenklage III: Akteneinsicht für die Nebenklägerin, oder: Rechtliches Gehör erforderlich

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Mit dem letzten Posting des Tages stelle ich den OLG Köln, Beschl. v. 02.04.20202 Ws 651/19 – vor. Mit ihm hat das OLG die Beschwerde gegen einen Beschluss des LG Aachen, über den ich auch berichtet hatte, verworfen. Es handelt sich um den LG Aachen, Beschl. v. 11.10.2019 – 60 KLs 12/19 über den ich hier Akteneinsicht für den Nebenkläger, oder: Vorherige Anhörung des Beschuldigten erforderlich  berichtet habe.

Es geht um das Verfahren bei der Akteneinsicht für den Nebenkläger. Die war in einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der sexuellen Nötigung, Nötigung und Freiheitsberaubung der Nebenklägerin (zweimal) gewährt worden. Dagegen hatt der Verteidiger Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit gestellt, der beim LG Erfolg hatte. Dagegen hatte dann die Staatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt, mit der sie beim OLG gescheitert ist:

„b) Darüber hinaus war der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 05.02.2018 auch begründet, weil die von der Staatsanwaltschaft Aachen an die Nebenklägervertreterin gewährte Akteneinsicht in beiden Fällen verfahrensfehlerhaft erfolgt und damit rechtswidrig war.

(1) Dies gilt zum einen für die der Nebenklägervertreterin mit Verfügung vom 14.07.2017 gewährte Akteneinsicht. Die Ausführungen des Landgerichts, wonach die Gewährung von Akteneinsicht im Strafverfahren an Dritte regelmäßig der vorherigen Anhörung des Beschuldigten bedarf, weil damit regelmäßig ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbunden ist, teilt der Senat (vgl. auch: BVerfG, B. v. 31.01.2017, 1 BvR 1259/16, juris Rn. 17; BVerfG, B. v. 30.10.2016, 1 BvR 1766/14, juris Rn. 5; BVerfG, B. v. 15.04.2005, 2 BvR 465/05, juris Rn. 12; OLG Rostock, B. v. 13.07.2017, 20 Ws 146/17, juris Rn. 38; KG Berlin, B. v. 02.10.2015, 4 Ws 83/15, juris Rn. 6). Die Rechtsgrundlage dieser Anhörungspflicht ergibt sich bei einer Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft aus § 33 Abs. 3 StPO analog bzw. aus dem Rechtsstaatsprinzip sowie dem Gebot der Sachaufklärung (vgl. OLG Rostock, B. v. 13.07.2017, 20 Ws 146/17, juris Rn. 38; KG Berlin, B. v. 02.10.2015, 4 Ws 83/15, juris Rn. 6; LG Wuppertal, B. v. 23.12.2008, 22 AR 2/08, juris Rn. 3; LG Krefeld, B. v. 01.08.2008, 21 AR 2/08, juris Rn. 10 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 406 e Rn. 18; MüKo-StPO/Grau, a.a.O., § 406 e Rn. 14, 20).

Entgegen der Auffassung des Landgerichts war die mit Verfügung vom 14.07.2017 gewährte Akteneinsicht jedoch nicht bereits deswegen rechtswidrig, weil es die Staatsanwaltschaft unterlassen hat, dem ehemaligen Angeklagten unmittelbar nach Eingang des Akteneinsichtsgesuchs rechtliches Gehör zu gewähren. Denn eine Anhörung des ehemaligen Angeklagten war – entgegen den Ausführungen der Strafkammer – zu diesem Zeitpunkt wegen seines unbekannten Aufenthaltsortes faktisch nicht möglich bzw. durchführbar. Von einer Anhörung kann entsprechend § 33 Abs. 4 S. 1 StPO dann abgesehen werden, wenn sie den Zweck der Anordnung gefährden würde oder wenn der Anhörung tatsächliche Gründe entgegenstehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 33 Rn. 15 ff.; MüKo-StPO/Valerius, 1. Aufl. 2014: § 33 Rn. 31 ff; KK-StPO/Maul, 8. Aufl. 2019, § 33 Rn. 12 ff.). Letzteres war hier der Fall, denn im Juli 2017 war der Aufenthaltsort des ehemaligen Angeklagten, für den sich zu diesem Zeitpunkt auch noch kein Verteidiger bestellt hatte, unbekannt und eine Anhörung daher letztlich nicht möglich. Nach Ansicht des Senats hätte die Staatsanwaltschaft mit Blick auf den damals bestehenden nationalen sowie europäischen Haftbefehl sowie die Festnahmeausschreibung auch keine Maßnahmen zur Aufenthaltsermittlung veranlassen müssen. Es ist nichts dafür erkennbar, dass dies zu einer zeitnahen Ermittlung des Aufenthaltes der ehemaligen Angeklagten geführt hätte. Auch bestand keine Verpflichtung zur Nutzung einer in den Akten notierten Mobilfunknummer des vormaligen Angeklagten, um hierdurch seinen genauen Aufenthaltsort zu ermitteln oder ihn mündlich zur Frage der Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklägerin anzuhören. Die Staatsanwaltschaft musste die aktenkundige Mobilfunknummer nicht nutzen, um mit dem vormaligen Angeklagten telefonisch in Kontakt zu treten. Denn es war zum einen nicht sichergestellt, ob es sich bei der betreffenden Mobilfunknummer noch immer um die aktuelle Rufnummer des vormaligen Angeklagten gehandelt hat. Darüber hinaus hätte die Staatsanwaltschaft wohl auch keine ausreichende Möglichkeit gehabt, um die Identität eines möglichen Gesprächspartners zu überprüfen. Zudem hätte eine telefonische Kontaktaufnahme ggf. auch die Anordnung der Untersuchungshaft und damit den Untersuchungszweck gefährden können. Es ist nicht auszuschließen, dass der ehemalige Angeklagte eine etwaige telefonische Erörterung, welche das laufende Ermittlungsverfahren zum Gegenstand gehabt hätte, zum Anlass für eine (weitere) Verschleierung seines Aufenthaltsortes genutzt hätte. Dass die Staatsanwaltschaft eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht riskieren musste, ergibt sich schließlich auch aus § 33 Abs. 4 S. 1 StPO, wonach das Interesse an der vorherigen Gewährung rechtlichen Gehörs zugunsten einer effektiven Strafverfolgung zurücktritt.

Die Gewährung der Akteneinsicht im Juli 2017 war jedoch gleichwohl rechtswidrig, weil die Staatsanwaltschaft die Entscheidung über den Antrag der Nebenklägervertreterin bis zu einer zu einem späteren Zeitpunkt möglichen Anhörung des vormaligen Angeklagten hätte zurückstellen können. Auf diese Weise hätte das Recht des ehemaligen Angeklagten auf rechtliches Gehör ohne weiteres gewahrt werden können, obwohl eine Anhörung zum Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht möglich war. Ein Zurückstellen der Entscheidung hätte vorliegend auch nicht das Recht der Nebenklägerin auf Akteneinsicht nach § 406 e Abs. 1 StPO unzumutbar beeinträchtigt. Ein entsprechendes Vorgehen hätte lediglich bedeutet, dass über ihren Antrag zu einem späteren Zeitpunkt, hier bis nach der Festnahme und Anhörung des vormaligen Angeklagten im November 2017, also binnen eines Zeitraums von rund 4 Monaten, entschieden worden wäre. Das Akteneinsichtsgesuch der Nebenklägerin hätte daher vorliegend nicht für eine als unzumutbar anzusehende Zeit hinausgeschoben werden müssen. Soweit eine abweichende Bewertung zwar bei einer besonderen Dringlichkeit der Akteneinsicht geboten sein könnte, war dies hier nicht entscheidungserheblich, da die Nebenklägervertreterin in ihrem Antrag vom 11.07.2017 weder eine besondere Eilbedürftigkeit dargelegt hatte noch eine solche für die Staatsanwaltschaft erkennbar gewesen wäre.

Da die mit Verfügung vom 14.07.2017 gewährte Akteneinsicht bereits aus formellen Gründen rechtswidrig war, kann dahinstehen, ob die Bewilligung einer unbeschränkten Akteneinsicht auch materiell rechtswidrig gewesen wäre, etwa gemäß § 406 e Abs. 2 S. 2 StPO wegen einer Gefährdung des Untersuchungszwecks in der vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation.

(2) Auch die mit Verfügung vom 27.11.2017 der Nebenklägervertreterin gewährte Akteneinsicht hinsichtlich der Zweitakte war rechtswidrig. Wie das Landgericht zutreffend erkannt hat, folgt die Rechtswidrigkeit in diesem Fall unmittelbar daraus, dass eine Anhörung des vormaligen Angeklagten vor der Bewilligung der Akteneinsicht nicht erfolgt ist. Ende November 2017 war die Gewährung rechtlichen Gehörs an den ehemaligen Angeklagten ohne weiteres möglich, denn die Staatsanwaltschaft hatte seit Anfang November 2017 Kenntnis von seinem Wohnsitz und Aufenthaltsort in Essen. Zudem hatte sich für ihn bereits eine Verteidigerin (Rechtsanwältin pp.) bestellt. Dennoch ist weder dem vormaligen Angeklagten noch seiner Verteidigerin Gelegenheit gegeben worden, zu der beabsichtigten Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklagevertreterin Stellung zu nehmen. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor bzw. sind von der Staatsanwaltschaft vorgetragen werden, dass die Anhörung ausnahmsweise entbehrlich gewesen wäre. Dass der Nebenklägerin zu diesem Zeitpunkt bereits Rechtsanwältin Trogrlic als Nebenklagevertreterin beigeordnet worden war, ist für die Frage der Gewährung rechtlichen Gehörs gegenüber dem ehemaligen Angeklagten ohne rechtliche Relevanz. Im Hinblick auf den Inhalt des Beschwerdevorbringens teilt der Senat zudem die Ausführungen der Strafkammer in der Nichtabhilfentscheidung vom 31.10.2019, wonach die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs vor der Gewährung von Akteneinsicht von der vorliegend nicht entscheidungserheblichen Frage zu trennen ist, ob und in welchem Umfang Akteneinsicht ggf. zu bewilligen ist.

(3) Der Verstoß gegen die Pflicht zur Anhörung des vormaligen Angeklagten ist auch weder aufgrund der Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung vor dem Landgericht Aachen geheilt worden noch kann eine entsprechende Heilung mit der Durchführung des vorliegenden Beschwerdeverfahrens erreicht werden. Soweit die Frage einer Heilung für die hier gegebene Konstellation in der Rechtsprechung zunächst unterschiedlich beurteilt worden war (eine Heilung bejahend: BGH, B. v. 11.01.2015, 1 StR 498/04, juris Rn. 10; KG Berlin, B. v. 02.10.2015, 4 Ws 83/15. juris Rn. 8; LG Stralsund, B. v. 10.01.2005, 22 Qs 475/04, juris Rn. 11; eine Heilung verneinend: LG Wuppertal, B. v. 23.12.2008, 22 AR 2/08, juris Rn. 4; AG Zwickau, B. v. 12.04.2013, 13 Gs 263/13, juris Rn. 3), dürfte mit Blick auf die zwischenzeitlich ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG: B. v. 30.10.2016, 1 BvR 1766/14, juris Rn. 5) eine Klärung eingetreten sein. Hiernach ist festzustellen, dass die unterlassene Anhörung des Beschuldigten vor der Gewährung von Akteneinsicht an einen Dritten einen schwerwiegenden Verfahrensfehler darstellt, der durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann. Da das Bundesverfassungsgericht in Kenntnis der zeitlich vorausgegangenen Entscheidung des KG Berlin vom 02.10.2015 (4 Ws 83/15) eine Heilung des Verfahrensfehlers aufgrund der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens nicht angenommen hat, gilt dies nach Ansicht des Senats in der vorliegenden Fallkonstellation im Ergebnis auch für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens. Es ist kein sachlicher Grund erkennbar, weshalb in den vorliegenden Konstellationen eine Heilung im Beschwerdeverfahren, anders als im Verfahren auf gerichtliche Entscheidung, möglich sein sollte. Das Unterlassen der gebotenen Anhörung stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar. Außerdem kann eine vorherige Anhörung ihren Zweck nur dann erreichen, wenn der Beschuldigte vor der Gewährung der Akteneinsicht die Möglichkeit zur Stellungnahme erhält, sodass diese bei der Entscheidung hierüber berücksichtigt werden kann.“