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Amtshaftung wegen Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: (Nur) Aufhebung wegen OLG-Verfahrensfehler

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Und dann eine etwas ungewöhnliche Entscheidung, nämlich der BGH, Beschl. v. 25.04.2024 – III ZR 54/23.

Es geht nämlich um ein Amts­haf­tungs­ver­fah­ren wegen un­be­rech­tigter Entziehung der Fahrerlaubnis. Folgender Sachverhalt: Die Verwaltungsbehörde entzog dem Kläger im August 2019 seinen Motorrad- und Pkw-Führerschein. Mit Urteil des VG München vom 14.12.2020 wurde der Bescheid aufgehoben und der Beklagte angewiesen, den Führerschein zurückzugeben, was im Februar 2021 erfolgte.

Der Kläger arbeitete im fraglichen Zeitraum bei einem Unternehmen in der Z. Straße 100 in M. und wohnte in der K.-Straße in S. Er reduzierte mit Vereinbarung vom 30.08.2019 und Wirkung zum 01.09.2019 seine Arbeitszeit von 40 Wochenstunden auf 28 Wochenstunden und arbeitete in der Folge nur noch an vier Tagen pro Woche. Die reduzierte Arbeitszeit wurde bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Mitte des Jahres 2022 beibehalten.

Der Kläger behauptet Einkommensverluste aufgrund des Fahrerlaubnisentzugs in Höhe von insgesamt 31.678 EUR€; einen immateriellen Schaden macht er iin der Revision nicht mehr geltend. Er trägt vor, durch den erhöhten Zeitaufwand für den Arbeitsweg gezwungen gewesen zu sein, seine Arbeitszeit von zuvor 40 Stunden auf 28 Stunden zu reduzieren. Der Arbeitsweg habe sich durch den Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel auf mindestens eineinhalb Stunden einfach verlängert, während er vorher mit dem Motorrad lediglich rund 30 Minuten einfach benötigt habe und an Staus hätte vorbeifahren können. Er hätte ohne Arbeitszeitreduzierung um 6.00 Uhr morgens das Haus verlassen müssen und wäre meist erst nach 22.00 Uhr abends zurückgekehrt. Dies sei nicht zumutbar gewesen, da er so kaum noch Freizeit gehabt hätte. Durch die Arbeitszeitreduzierung habe sich sein Arbeitsentgelt von 5.170 EUR brutto auf 3.619 EUR brutto reduziert. Aus dem um 1.551 EUR niedrigeren Brutto-Lohnanspruch über 18 Monate errechne sich ein Schaden in Höhe von 27.918 EUR. Zudem habe er in diesem Zeitraum in Höhe von 3.760 EUR geringere Bonuszahlungen erhalten.

Sowohl das LG als auch das OLG München haben die Klage abgewiesen. Erst mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde hatte der Kläger vorläufig Erfolg.

Allerdings macht der BGH zur Sache keine Ausführungen, sondern beanstandet (nur) eine Verletzung des rechtlichen Gehörs:

„2. Nach diesen Grundsätzen verletzt die Würdigung des Berufungsgerichts, der Vortrag des Klägers zu den Fahrzeiten sei unsubstantiiert, das von ihm beantragte Sachverständigengutachten müsse deswegen nicht eingeholt werden, den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.

Der Kläger hat in der Klageschrift unter Vorlage einer Wegzeitberechnung (Screenshot eines Routenplaners, Anlage K 6) vorgetragen, vor Entziehung der Fahrerlaubnis für den Weg zur Arbeit ein Motorrad benutzt zu haben, mit dem der Arbeitsweg in etwa 30 Minuten je einfache Strecke zu bewältigen gewesen sei, während er mit öffentlichen Verkehrsmitteln mindestens eineinhalb Stunden je einfache Strecke benötigt habe. In seiner Replik auf die Klageerwiderung hat er behauptet, die der Klageschrift beigefügte Wegzeitberechnung sei richtig und spiegele die durchschnittliche Reisezeit zu Arbeitsbeginn und nach Beendigung der Arbeit wider. Zum Beweis hat er die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeboten.

Bereits dieses Vorbringen hätte dem Tatrichter Veranlassung geben müssen, in die Beweisaufnahme einzutreten und einen – ortskundigen und mit den dort gegebenen Verhältnissen im Berufsverkehr vertrauten – Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens zu beauftragen.

In der Berufungsbegründung hat der Kläger sein Vorbringen – unter Vorlage der als „Auszug Maps Fahrstrecke Motorrad“ bezeichneten Anlage BK 6 – überdies dahingehend ergänzt, dass sich die rund 30-minütige Fahrzeit mit dem Motorrad selbst bei vollständiger Sperrung der kürzesten Strecke (laut Anlage K 6) in der „Rush-Hour“ bei Nutzung einer Alternativroute nur um neun Minuten erhöhte, und im Schriftsatz vom 13. März 2023 (Gegenerklärung) an die Einholung des angebotenen Sachverständigengutachtens erinnert.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat diese Umstände zutreffend herausgearbeitet und mit Recht ausgeführt, dass es weiterer Angaben für die Behauptung des Klägers, dass die Fahrzeit mit dem Motorrad deutlich kürzer gewesen sei als mit öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht bedurft und das Berufungsgericht durch die Nichteinholung des Sachverständigengutachtens gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen habe.

3. Der Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht ohne den Verstoß zu einem in Bezug auf das Klagebegehren günstigeren Ergebnis gelangt wäre. Das gilt auch, wenn man den Umstand mit einbezieht, dass der Kläger nach Rückerhalt der Fahrerlaubnis seine Arbeitszeit nicht wieder verlängerte. Denn das Berufungsgericht hat diesen Umstand lediglich als einen „auch“ gegen den Kausalzusammenhang sprechenden Gesichtspunkt angesehen, nicht jedoch seine Entscheidung selbständig tragend auf ihn gestützt.“

Und dann gibt es für das OLG noch etwas mit den Weg

„Die angefochtene Entscheidung ist daher im tenorierten Umfang aufzuheben und das Verfahren insoweit an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht auch Gelegenheit, sich gegebenenfalls mit den weiteren Rügen des Klägers in der Nichtzulassungsbeschwerde auseinanderzusetzen. Hinsichtlich des Umstandes, dass der Kläger nach Rückerhalt der Fahrerlaubnis seine Arbeitszeit nicht wieder verlängerte, weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass der Kläger in Ansehung der Gründe im Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts, in dem dieses moniert hatte, es fehle an einem Beweisantritt für die Behauptung, dass der Arbeitgeber einer (Rück-)Verlängerung nicht zugestimmt habe, mit einer Bewertung seines Vorbringens als „unsubstantiiert“ im angefochtenen Zurückweisungsbeschluss nicht (mehr) rechnen musste; sollte es im zweiten Rechtsgang darauf ankommen, ist ihm insoweit Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu geben.“

Ich bin gespannt, ob man von der Sache noch einmal etwas hört.

Geldbuße 75 EUR versus SV-Kosten ca. 2025 EUR, oder: Kein rechtliches Gehör – kein Kostenansatz

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Beweiserhebungen im Bußgeldverfahren können, insbesondere wenn es um die Erstattung von Sachverständigengutachten geht, erhebliche Kosten verursachen, die ggf. über den Kostenansatz später auf den Betroffenen zukommen. Der wird sich, wenn er ggf. rechtzeitig von einer beabsichtigten Beweiserhebung erfährt, überlegen, ob es sinnvoll ist, das Verfahren fortzusetzen oder ob er nicht besser Rechtsbehelfe zurücknimmt und so das Verfahren beendet.

Mit den Folgen einer unterlassenen Benachrichtigung bzw. Anhörung eines Betroffenen im Bußgeldverfahren befasst sich dann der OLG Stuttgart, Beschl. v. 26.10.2023 – 4 Ws 368/23.

Gegen den Betroffenen war wegen einen Abstandsverstoßes ein Bußgeldbescheid mit einer Geldbuße in Höhe von 75 EUR erlassen worden. Der Betroffene hat dagegen Einspruch eingelegt. Nach Eingang der Akten beim AG bestimmte der Amtsrichter Termin zur Hauptverhandlung auf den 09.02.2023 und ordnete das persönliche Erscheinen des Betroffenen an. Der Betroffene bat sodann um Prüfung einer Entscheidung im Beschlussverfahren und der Verhängung einer Geldbuße von 55 EUR. Der Amtsrichter ordnete aber zur Hauptverhandlung die Ladung eines Sachverständigen an mit dem Beweisthema „vorwerfbarer Abstandsverstoß aus technischer Sicht“, dem die Akten übersandt wurden.

Mit Schreiben vom 31.01.2023 nahm der Betroffene den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid zurück. Bereits vor Eingang der Rücknahme hatte der Amtsrichter den Sachverständigen mit E-Mailnachricht vom selben Tag gebeten, die Bearbeitung des Gutachtenauftrags einzustellen, da der Betroffene die Einspruchsrücknahme in einem zuvor geführten Telefonat angekündigt hatte. Am 10.02.2023 bezahlte der Betroffene den im Bußgeldbescheid festgesetzten Gesamtbetrag.

Mit Kostenrechnung vom 09.02.2023 wurde der Betroffene u.a. zur Zahlung der von dem Sachverständigen mit Rechnung vom 01.02.2023 geltend gemachten Kosten in Höhe von 2.025,98 EUR aufgefordert. Hiergegen legte der Verteidiger Erinnerung ein. Die hat das AG zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hatte beim LG keinen Erfolg. Die dagegen gerichtete weitere Beschwerde des Betroffenen (§ 66 Abs. 4 S. 1 GKG) hat das OLG als zulässig und begründet angesehen.

Das OLG begründet seine Entscheidung „sehr fein“. Ich verweise wegen der Einzelheiten auf den Volltext und stelle hier nur den Leitsatz ein:

Dem Betroffenen ist im (gerichtlichen) Bußgeldverfahren vor der Anordnung kostenträchtiger Beweiserhebungen rechtliches Gehör zu gewähren. Die Nichtgewährung ist daher als offensichtlicher Verfahrensverstoß zu behandeln, der die Nichterhebung der durch die Beweiserhebung entstandenen Verfahrenskosten zur Folge hat.

OWi II: Falsche Entbindung des Betroffenen von der HV, oder: Keine Verletzung des rechtliches Gehörs

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Die zweite Entscheidung, der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.10.2023 – 1 ORbs 1 SsRs 37/23 – hat auch etwas mit der Frage der Entbindung und/oder der Abwesenheitsverhandlung zu.

Der Betroffene war in dem nach seinem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid anberaumten Hauptverhandlungstermin nicht erschienen. Seine – nicht mit einer schriftlichen Vertretungsvollmacht versehene – Verteidigerin hat zu Beginn der Hauptverhandlung die Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen beantragt. Die Jugendrichterin des AG hat diesem Antrag stattgegeben, ohne den Betroffenen zur Sache verhandelt und den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 100 EUR verurteilt.

Dagegen der Antrag der Verteidigerin des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Das OLG hat nicht zugelassen:

„2. Auch die Gehörsrüge dringt nicht durch. Mit ihr beanstandet der Betroffene, dass das Amtsgericht seinen Antrag auf Entbindung vom persönlichen Erscheinen fehlerhaft beschieden, ohne seine Anwesenheit zur Sache verhandelt und hierdurch den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt habe. Eine entscheidungserhebliche Gehörsverletzung kann auf der Grundlage des Rechtsbeschwerdevorbringens jedoch nicht festgestellt werden.

Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die erlassene Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Art. 103 Abs. 1 GG geht davon aus, dass die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen bleiben muss (BVerfGE 9, 89 <95 f.>; 74, 1 <5>), und gewährt keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen. Bei der Verletzung solcher Vorschriften bedarf es aber jeweils der Prüfung, ob dadurch nicht zugleich das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verkürzt worden ist (BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Februar 1992 – 2 BvR 700/91, juris, Rn. 14).

Grundsätzlich ist der Betroffene in einem Bußgeldverfahren zum Erscheinen in der Hauptverhandlung gemäß § 73 Abs. 1 OWiG verpflichtet, womit sein Anwesenheitsrecht als Ausprägung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör korrespondiert (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 5 StPO). Der Betroffene kann allerdings auf sein Anwesenheitsrecht verzichten. Die Hauptverhandlung darf aber nur dann in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt werden, wenn er nicht erschienen ist und darüber hinaus von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden war, § 74 Abs. 1 OWiG. In einer fehlerhaften Anwendung der Norm kann ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör liegen (Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 25.04.2002 – 2 Ss (OWi) 44 Z/02; NZV 2003, 587).

Das Amtsgericht hat die Hauptverhandlung zwar unter Verstoß gegen § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt. Es hat dem Antrag auf Entbindung, den die Verteidigerin zu Beginn der Hauptverhandlung gestellt hat, nachdem der Betroffene nicht erschienen war, stattgegeben und zugelassen, dass die Verteidigerin den Betroffenen in der Hauptverhandlung vertritt. Da die Verteidigerin keine schriftliche Vertretungsvollmacht hat, konnte sie aber weder den von ihr zu Beginn der Hauptverhandlung gestellten Entbindungsantrag wirksam stellen, noch konnte sie den Betroffenen in der Sitzung wirksam vertreten, § 73 Abs. 2 und 3 OWiG (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 04.08.2011 – 1 SsBs 26/10, juris). Entschuldigungsgründe, die ein Fehlen des Betroffenen rechtfertigen, wurden im Rahmen der Hauptverhandlung nicht vorgetragen, und es ist aus der Rechtsbeschwerde auch nicht ersichtlich, dass dem Amtsgericht Entschuldigungsgründe bekannt waren. Richtigerweise hätte die Jugendrichterin den Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG ohne Verhandlung zur Sache verwerfen müssen.

Dieser Verstoß gegen einfaches Recht hat im vorliegenden Fall aber nicht den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt. Das verfahrensrechtlich gebotene Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG wäre ausschließlich aufgrund verfahrensrechtlicher Vorschriften ohne materiell-rechtliche Prüfung ergangen, mit der Folge, dass der Betroffene mit seinem Vortrag zur Sache bei richtiger Verfahrensweise nicht gehört worden wäre. Das Amtsgericht hat hier den Vortrag des Betroffenen dagegen zu seinen Gunsten in der Weise berücksichtigt, dass die Geldbuße herabgesetzt wurde.“

Mir erschließt sich nicht so ganz, was angesichts der erfolgten Reduzierung der Geldbuße Ziel der Rechtsbeschwerde war.

OWi I: OLG Koblenz hatte Fragen zur ES 3.0 Messung, oder: BGH gibt Vorlage ohne Antworten zurück

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Heute dann ein OWi-Tag.

Den eröffne ich mit dem BGH, Beschl. v. 16.03.2023 – 4 StR 84/22. Das ist die lange erwartete Antwort des BGH in der zweiten Vorlagesache betreffend Einsicht in Messunterlagen/Rohmessdaten. Zugrunde lag der OLG Koblenz, Beschl. v. 01.02.2022 – 3 OWi 32 SsBs 99/21 (dazu News im OWi-Verfahren: Nächste Vorlage an den BGH, oder: OLG Koblenz fragt nach Rohmessdaten bei ES 3.0). Das OLG hatte vom BGH wissen wollen: „Darf ein in einem standardisierten Messverfahren (hier: ESO-Einseitensensor ES 3.0 – Softwareversion 1.007.2) ermitteltes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe, die nicht zur Bußgeldakte gelangt sind, zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, oder beinhaltet dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG) bzw. eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Betroffenen (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG iVm. § 338 Nr. 8 StPO)?“

Der BGH hat die Frage nicht beantwortet, sondern hat die Sache an das OLG zurückgegeben, weil nach seiner Ansicht die Vorlegungsvoraussetzungen nicht vorgelegen haben:

„Die Sache ist an das Oberlandesgericht Koblenz zurückzugeben, denn die Vorlegungsvoraussetzungen des § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG sind zu verneinen. Der Annahme des Oberlandesgerichts, die dem Bundesgerichtshof vorgelegte Frage sei entscheidungserheblich, liegt die nicht mehr vertretbare rechtliche Bewertung einer Vorfrage zugrunde. Damit ist der Senat an die vom Oberlandesgericht bejahte Entscheidungserheblichkeit nicht gebunden (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 24. Januar 2023 – 3 StR 386/21 Rn. 8, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen; Beschluss vom 9. Oktober 2018 – 4 StR 652/17, NStZ-RR 2019, 60, 61; Beschluss vom 17. März 1988 – 1 StR 361/87, BGHSt 35, 238, 240 ff.; Gittermann in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 121 GVG Rn. 78; Feilcke in KK-StPO, 9. Aufl., § 121 GVG Rn. 43 f.; Quentin in SSW-StPO, 5. Aufl., § 121 GVG Rn. 22; jeweils mwN).

1. Die Vorlegungsfrage kann für die Entscheidung des Oberlandesgerichts nur erheblich sein, wenn der Betroffene sein Begehren, Zugang zu den Rohmessdaten der Tagesmessreihe zu erhalten, im behördlichen und gerichtlichen Verfahren in ausreichender Weise geltend gemacht hat (vgl. zu den Anforderungen allgemein etwa KG, Beschluss vom 20. April 2021 – 3 Ws (B) 84/21, juris Rn. 7). Hiervon geht das Oberlandesgericht Koblenz auch aus. Es hat jedoch die rechtliche Bedeutung des Umstands verkannt, dass der Betroffene sein Zugangsgesuch – anders als in den Fällen, die den als divergierend angesehenen Entscheidungen zugrunde lagen (vgl. zudem OLG Stuttgart, VRS 140, 319) – nicht in der Hauptverhandlung erneuert hat. Damit kann seinen Verfahrensrügen, die sich auf die verweigerte Einsichtnahme in die Rohmessdaten stützen, von vornherein kein Erfolg beschieden sein. Sollte das Rechtsbeschwerdevorbringen im Hinblick auf das Prozessgeschehen in der Hauptverhandlung nicht bereits als unzureichend anzusehen sein (vgl. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), wären die Rügen jedenfalls unbegründet. Dies ergibt sich aus Folgendem:

a) Die Verfahrensrüge einer unzulässigen Beschränkung der Verteidigung (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 338 Nr. 8 StPO) kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur durchgreifen, wenn Verteidigungsrechte durch einen Gerichtsbeschluss in der Hauptverhandlung verletzt worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 – 5 StR 229/19, NJW 2021, 1252, 1255; Beschluss vom 17. Juli 2008 ? 3 StR 250/08, BGHR StPO § 338 Nr. 8 Beschränkung 9; Urteil vom 10. November 1967 – 4 StR 512/66, BGHSt 21, 334, 359). Ein solcher ist hier nicht ergangen. Es kann zwar auch ausreichen, wenn das Gericht es unterlässt, einen in der Hauptverhandlung gestellten Antrag zu bescheiden (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juli 2008 – 3 StR 250/08, NStZ 2009, 51; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 338 Rn. 102). Auch daran fehlt es im vorliegenden Fall jedoch, da die für den Betroffenen in der Hauptverhandlung anwesende Verteidigerin dort keinen auf die Zugänglichmachung der Rohmessdaten abzielenden Antrag stellte, sondern vielmehr ausdrücklich erklärte, die Ordnungsgemäßheit der Messung nicht zu bestreiten.

b) Die Rüge, der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) sei verletzt, versagt ebenfalls, wenn das Einsichtsersuchen nicht (auch) in der Hauptverhandlung geltend gemacht wird. Dies liegt – ohne dass es auf die Frage ankäme, ob nicht insoweit ohnehin § 338 Nr. 8 StPO anzuwenden ist (vgl. OLG Brandenburg, ZfSch 2021, 469; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 24. Februar 2016 – Ss (Bs) 6/2016 (4/16 OWi), juris Rn. 8) – schon im Grundsatz der Verfahrensfairness selbst begründet.

aa) Das Recht auf ein faires Verfahren ist erst verletzt, wenn bei einer Gesamtschau rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde (vgl. BVerfGE 133, 168, 200; BVerfGE 130, 1, 25 f.; OLG Karlsruhe, NZV 2020, 368). Ein Verstoß gegen den auf die Gesamtheit des Verfahrens abhebenden Fairnessgrundsatz (vgl. EGMR, NJW 2019, 1999; NJW 2017, 2811, 2812; BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 33, 35) kommt daher bei verweigerter Einsichtnahme in Rohmessdaten nur dann in Betracht, wenn einem rechtzeitig und unter Ausschöpfung aller prozessualen Möglichkeiten angebrachten Zugangsgesuch nicht entsprochen worden ist (vgl. KG, Beschluss vom 20. April 2021 – 3 Ws (B) 84/21, juris Rn. 7; Thüringer Oberlandesgericht, VRS 140, 33, 35).

bb) Nach diesen Maßgaben muss der Betroffene, will er mit der Rechtsbeschwerde einen Verstoß gegen die Verfahrensfairness rügen, den Zugang zu nicht zur Akte genommenen Informationen nicht nur bereits im Bußgeldverfahren und im Verfahren nach § 62 OWiG begehren (so KG Berlin, Beschluss vom 20. April 2021 – 3 Ws (B) 84/21, juris Rn. 7 mwN; OLG Koblenz, BeckRS 2020, 10860 Rn. 7; s. ferner BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 60, 66), sondern sein Einsichtsbegehren auch in der Hauptverhandlung weiterverfolgen (vgl. hierzu VerfGH Saarland, NZV 2018, 275 Rn. 35, 38; OLG Brandenburg, ZfSch 2021, 469; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 24. Februar 2016 – Ss (Bs) 6/2016 (4/16 OWi), juris Rn. 8; jeweils mwN; Hannich, FS Fischer 2018, S. 655, 658; s. zudem BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 66). Im Blick auf die gebotene Gesamtschau kann die Fairness des Ordnungswidrigkeitenverfahrens überhaupt nur in Frage stehen, wenn der (verteidigte) Betroffene die Einsicht in die Rohmessdaten auch mithilfe eines in der Hauptverhandlung gestellten Antrags begehrt hat. Denn bei dieser handelt es sich um den maßgeblichen Verfahrensabschnitt für die tatrichterliche Sachentscheidung, die der Betroffene durch seinen Einspruch herbeiführt. Das Gericht trifft seine Entscheidung allein aufgrund des Inbegriffs der Hauptverhandlung (vgl. § 46 Abs. 1 OWiG, § 261 StPO).

Der Betroffene hat es hier versäumt, sein Informationszugangsersuchen in der Hauptverhandlung geltend zu machen. Aus den zuvor genannten Gründen genügt – anders als das Oberlandesgericht Koblenz annimmt – sein beim Amtsgericht vor der Hauptverhandlung gestelltes Einsichtsgesuch nicht, um eine Verletzung des Fairnessgrundsatzes mit Erfolg rügen zu können. Hieran ändert § 336 Satz 1 StPO nichts (vgl. auch zur Akteneinsicht BGH, Urteil vom 24. Mai 1955 – 5 StR 155/55; OLG Hamm, NJW 1972, 1096). Denn diese Vorschrift entbindet das Rechtsbeschwerdegericht bei der Prüfung der als verletzt gerügten Verfahrensfairness nicht davon, die Gesamtheit des Verfahrens in den Blick zu nehmen.

2. Damit kommt es nicht mehr darauf an, dass ein von dem vorlegenden Oberlandesgericht womöglich befürworteter Rechtssatz des Inhalts, dass bei einem standardisierten Messverfahren die Persönlichkeitsrechte Dritter und die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege dem Informationsinteresse des Betroffenen an der Tagesmessreihe generell vorgehen, mit den bindenden verfassungsgerichtlichen Vorgaben einer Einzelfallprüfung (vgl. BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 58) unvereinbar sein könnte. Sollte den begehrten Informationen nach der zulässigen (individuellen) gerichtlichen Überprüfung des Gesuchs die Verteidigungsrelevanz abzusprechen sein (vgl. dazu BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 56 ff.), wohin auch das Oberlandesgericht Koblenz nach dem Vorlagebeschluss zumindest tendiert, scheidet allerdings schon deshalb ein Zugangsanspruch des Betroffenen aus (vgl. BGH, Beschluss vom 30. März 2022 – 4 StR 181/21, NZV 2022, 287 Rn. 9; OLG Zweibrücken, BeckRS 2022, 15436 Rn. 16).“

Damit ist dann nur noch die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 2 BvR 1167/20 offen.

StPO III: Terminsaufhebungsantrag nicht beschieden, oder: Angeklagter fehlt entschuldigt

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Und zum Tagessschluss dann noch der LG Bremen, Beschl. v. 07.06.2022 – 8 Qs 131/22. Er verhält sich zu einer Wiedereinsetzungsfrage in Zusammenhang mit der Verwerfung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl.

DerAngeklagte hatte gegen einen gegen ihn ergangenen Strafbefehl Einspruch eingelegt und Akteneinsicht in Form der Übersendung von Kopien der Verfahrensakte beantragt. Unter dem 16.09.2021 teilte das AG dem Angeklagten mit, dass es dem Angeklagten unbenommen sei, Einsicht in die Verfahrensakte in den Diensträumen des Gerichts zu nehmen und entsprechend Termin mit der Geschäftsstelle zu vereinbaren. Ferner wies das Gericht darauf hin, dass durch den Angeklagten keine Gründe vorgetragen worden seien, dass er daran gehindert sei, Einsicht in den Diensträumen zu nehmen, sodass das Gericht sein Ermessen dahingehend ausgeübt habe, ihm Einsicht in den Diensträumen zu gewähren. Sodann beraumte das AG am 27.10.2021 Termin zur Hauptverhandlung auf den 03.12.2021 an. Mit Telefax vom 30.11.2021 beantragte der Angeklagte die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins. Am 02.12.2021 lehnte der Angeklagte den erkennenden Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zur Begründung führte er aus, dass er auf der Geschäftsstelle in Erfahrung gebracht habe, dass sein gestellter Terminsaufhebungsantrag noch nicht beschieden, vielmehr vorsätzlich übergangen worden sei. Vor diesem Hintergrund rügte er die Verletzung rechtlichen Gehörs. Weiter rügte er, dass er noch immer keine Akteneinsicht erhalten habe.

Dem Hauptverhandlungstermin am 03.12.2021 blieb der Angeklagte ohne Angabe von Gründen fern. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft verwarf der abgelehnte und erkennende Richter den Befangenheitsantrag als unzulässig. Der Angeklagte hat gegen die Verwerfung Berufung eingelegt und Wiedereinsetzung beantragt. Das AG hat den Wiedereinsetzungsantrag des Angeklagten als unzulässig verworfen, weil der Angeklagte die Tatsachen zur Begrün-dung seines Antrages nicht glaubhaft gemacht habe.

Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte:

„b) Der Wiedereinsetzungsantrag hat auch in der Sache Erfolg. Begründet ist ein Wiedereinsetzungsantrag in den Fällen der §§ 412, 329 Abs. 7 StPO, wenn den Angeklagten an seinem Ausbleiben in der Hauptverhandlung kein Verschulden trifft.

Insoweit hat das Gericht alle Entschuldigungsgründe zu beachten, gleichviel, wie sie ihm bekannt geworden sind. Denn es kommt nicht darauf an, ob sich der Angeklagte entschuldigt hat, sondern nur darauf, ob er entschuldigt ist (BGH 17, 391, 396). Die Entschuldigung kann sich auch aus den Akten, die das Gericht zu diesem Zweck durchzusehen hat oder aus all-gemeinkundigen Tatsachen oder naheliegenden Zusammenhängen ergeben. Bei der Verschuldensfrage ist eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten geboten. Maßgebend ist, ob dem Angeklagten nach den Umständen des Falles wegen seines Ausbleibens billigerweise ein Vorwurf zu machen ist (Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Auflage, § 329 Rz. 19, 23).

Eine genügende Entschuldigung ist in Fällen der fehlerhaften Ablehnung oder Nichtbescheidung eines Verlegungsantrages unter Verstoß gegen das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG anerkannt (BeckOK StPO/Golf StPO § 230 Rn. 12.1).

Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn trotz beantragter Terminsverlegung oder -aufhebung und Bestehen eines Verlegungs- oder Aufhebungsgrundes gleichwohl eine mündliche Verhandlung am ursprünglich bestimmten Termin stattfindet und in der Sache entschieden wird. Gleiches gilt, sofern sich — ohne dass das Vorliegen eines Verlegungs- oder Aufhebungsgrundes abschließend beurteilt werden könnte — aus der Art und Weise der Be-handlung eines abgelehnten Terminsaufhebungs- oder -verlegungsantrags beziehungsweise der Begründung für dessen Ablehnung ergibt, dass die Bedeutung und die Tragweite des Rechts auf rechtliches Gehör verkannt wurden.

Der Angeklagte hat am 30.11.2022 die Aufhebung des auf den 03.12.2022 anberaumten Hauptverhandlungstermins beantragt. Zwar muss der Antragssteller grundsätzlich die Gründe für eine Terminsverlegung oder -aufhebung im Antrag so detailliert vortragen, dass dem Gericht eine Prüfung ihrer Erheblichkeit möglich ist.

Hier kann indes offenbleiben, ob die durch den Antragssteller vorgebrachten Begründung eine Aufhebung des Termins geboten hätten. Genügt der Antrag den vorgenannten Voraus-setzungen nicht, so ist das Gericht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens grundsätzlich verpflichtet, den Antragsteller auf Lücken im Antrag hinzuweisen und ihm die Möglichkeit zu geben, fehlende Angaben nachzuholen.

Aus den vorstehenden Ausführungen folgt jedenfalls, dass Lücken im Terminsaufhebungs-antrag durch Gewährung rechtlichen Gehörs geschlossen oder aber der Terminsaufhebungsantrag hätte beschieden werden müssen, was nicht erfolgt ist. Allenfalls bei einem erst unmittelbar vor dem Termin gestellten Antrag kann das Gericht von der Gewährung rechtlichen Gehörs absehen. Dies war hier aber nicht der Fall, da noch drei Werktage zwischen dem Antrag und dem Hauptverhandlungstermin lagen.

Die Nichtbescheidung des Terminsaufhebungsantrages entschuldigt daher den Angeklagten hinsichtlich der Versäumung der Hauptverhandlung. Demgemäß war ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.“