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Pflichti I: Vor der Bestellung zur Auswahl nicht belehrt, oder: Keine Fristen bei der Umbeiordnung

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Und heute dann mal/schon wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Der erste Beschluss stammt vom LG Mainz. Den hat mir die Kollegin Hierstetter aus Mannheim geschickt. Die Entscheidung hat folgenden – etwas längeren – Sachverhalt:

Gegen den Beschuldigten ist ein Ermittlungsverfahren u.a. wegen versuchten Totschlags anhängig. Am 15.7.2020 erließ der Ermittlungsrichter beim AG Mainz einen Haftbefehl und einen Europäischen Haftbefehl gegen den Beschuldigten. Dieser wurde am 4.8.2020 in Frankreich festgenommen. Die französischen Behörden teilten mit, der Beschuldigte habe auf Nachfrage um Verteidigung durch einen Pflichtverteidiger gebeten, und baten um Bestellung eines französischsprachigen Pflichtverteidigers. Durch Beschluss des AG Mainz vom 7.8.2020 wurde Rechtsanwalt R als Pflichtverteidiger bestellt. Am 11.8.2020 bestimmte der Ermittlungsrichter des AG Offenbach Termin für die Vorführung und zur Eröffnung des Haftbefehls auf 13.8.2020, 15:00 Uhr, die Ladung wurde dem Pflichtverteidiger am Nachmittag des 12.8.2020 per Fax zugesandt. Telefonisch kündigte dieser am Morgen des 13.8.2020 gegenüber dem AG Offenbach an, dass er an dem Termin nicht teilnehmen werde. Im Rahmen der Vorführung wurde dem Beschuldigten bekannt gegeben, dass das AG Mainz ihm einen Pflichtverteidiger, Herrn Rechtsanwalt R, bestellt habe und dieser am Termin nicht teilnehmen könne. Der Beschuldigte wurde zudem u.a. dahingehend belehrt, dass er jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger befragen könne; die bereits erfolgte Aushändigung einer schriftlichen Belehrung nach § 114b Abs. 2 StPO in türkischer Sprache wurde festgestellt. Eine Belehrung über sein Recht, selbst einen Pflichtverteidiger zu benennen (§ 142 Abs. 5 StPO) erfolgte nicht.

Am 14.8.2020 beantragte die Kollegin (erstmals) eine Einzelbesuchserlaubnis für den Beschuldigten zur Führung eines Anbahnungsgesprächs, die ihr Anfang September 2020 erteilt wurde. Mit Schreiben vom 27.8.2020 beantragte der Beschuldigte „die Zulassung meiner Rechtsanwältin H. zur Hauptverhandlung mit Az: pp.“. Mit Schreiben vom 3.9.2020 teilte der Beschuldigte mit, dass er von der Kollegin vertreten werden wolle. Diese teilte am 9.9.2020 ihre ordnungsgemäße Bevollmächtigung durch den Beschuldigte mit sowie, dass dieser nach eigenen Angaben bereits am 20.8.2020 und am 3.9.2020 mitgeteilt habe, dass er von ihr – nicht von Rechtsanwalt R – verteidigt werden wolle, weshalb sie anrege, gegenüber dem Ermittlungsrichter zu beantragen, die Beiordnung von Rechtsanwalt R aufzuheben und sie selbst als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Mit Schriftsatz vom 30.9.2020 erklärte Rechtsanwalt R er sei mit der Beiordnung der Rechtsanwältin H. mit der Maßgabe einverstanden, dass für ihn die Grund- und Verfahrensgebühr durch die Staatskasse übernommen werde. Durch Schreiben vom 17.9.2020 teilte der Beschuldigte (erneut) mit, dass er von Rechtsanwältin Hierstetter vertreten werden wolle. Am 13.10.2020 beantragte diese (nochmals) unmittelbar gegenüber dem Ermittlungsrichter ihre Beiordnung als Pflichtverteidigerin. Rechtsanwalt R. wurde hierzu rechtliches Gehör gewährt; er nahm Bezug auf seine früheren Äußerungen.

Das AG Mainz hat die Entpflichtung von Rechtsanwalt R und die Beiordnung der Kollegin abgelehnt und das u.a. damit begründet, dass kein gestörtes Vertrauensverhältnis zu RA R festgestellt werden könne. Der Beschuldigte hat sofortige Beschwerde eingelegt. Die hatte beim LG Erfolg. Das LG Mainz führt im LG Mainz, Beschl. v. 05.11.2020 – 3 Qs 62/20 jug – aus:

„2. Die Beschwerde ist auch begründet

Die Ablehnung der Aufhebung der Bestellung von Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger und der Bestellung der Rechtsanwältin Pp. als Pflichtverteidigerin — somit des Pflichtverteidigerwechsels erfolgten nicht rechtmäßig.

a) Die §§ 140 ff. StPO regeln die notwendige Verteidigung, insbesondere §§ 142 Abs. 5, 143a StPO das Wahlrecht des Beschuldigten im Rahmen der Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

Zwar wird der zu bestellende Verteidiger im Ermittlungsverfahren von dem Ermittlungsrichter ausgewählt (vgl. § 142 Abs. 3 StPO); dem Beschuldigten muss aber Gelegenheit gegeben werden, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Rechtsanwalt zu bezeichnen, § 142 Abs. 5 StPO. Da gemäß § 142 Abs. 5 Satz 3 StPO der vom Beschuldigten bezeichnete Verteidiger zu bestellen ist, wenn dem nicht ein wichtiger Grund entgegensteht, begründet Satz 1 der Regelung eine Anhörungspflicht, von der nur in seltenen Ausnahmefällen abgewichen werden kann (vgl. KG, Beschl. vom 03.12.2008 — 4 Ws 119/08 — m.w.N.). Dem Beschuldigten ist dabei eine angemessene Überlegungsfrist zur Stellungnahme und Auswahl eines Verteidigers zu gewähren. Dies gilt auch in Haftsachen (vgl. OLG Koblenz, StV 2011, 349). Die Anhörungspflicht besteht überdies auch in Fällen, in denen ein Pflichtverteidiger unverzüglich zu bestellen ist (§ 141 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 3 StPO); dies war bereits nach alter Rechtlage für die unverzügliche Bestellung bei Vollstreckung von Untersuchungshaft anerkannt (vgl. BeckOK StPO/ Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, StPO § 142 Rn. 18). Die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers kommt nur ausnahmsweise in Betracht (Krawczyk, a.a.O., § 144 Rn. 1 m.w.N.).

b) Gemessen an diesen Grundsätzen hätte auf Grund des Schreibens des Beschwerdeführers vom 27.8.2020, die Frage, ob ein Pflichtverteidigerwechsel vom Beschwerdeführer gewünscht war, zumindest geprüft und aufgrund des weiteren Schreibens des Beschwerdeführers vom 3.9.2020 ein solcher eingeleitet werden müssen. Jedenfalls aber aufgrund des Schriftsatzes der Rechtsanwältin Pp. vom 9.9.2020 war die Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger aufzuheben und ihre Beiordnung vorzunehmen.

Auf die Frage, ob das Vertrauensverhältnis zum (bisherigen) Pflichtverteidiger gestört ist, kommt es hierbei nicht an, maßgeblich ist insoweit allein der grundsätzliche Vorrang der Wahlverteidigung (vgl. Krawczyk, a.a.O., § 143a  2, § 142 Rn. 25).

Es ist dabei insbesondere von der rechtszeitigen Bezeichnung der Rechtsanwältin Pp. durch den Beschwerdeführer als gewünschte Pflichtverteidigerin auszugehen.

Zwar gelangte sein Schreiben vom 27.8.2020, dass aus Sicht der Kammer bei verständiger Auslegung bereits klar den Wunsch, von Rechtsanwältin Pp. verteidigt zu werden, erkennen lässt, erst am 8.9.2020 zur Handakte der Staatsanwaltschaft, somit nicht innerhalb der Drei-Wochen-Frist aus § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO, die mit Bekanntgabe der Beiordnung des Pflichtverteidigers am 13.8.2020 zu laufen begann, somit am 3.9.2020 endete. Und auch sein weiteres Schreiben vom 3.9.2020 ging erst am 3.9.2020 bei der Staatsanwaltschaft Mainz — nicht dem zuständigen Amtsgericht Mainz — ein. Wird dem Beschuldigten indes eine zu kurze Überlegungsfrist oder — wie im vorliegenden Fall dem Beschwerdeführer mangels jeglicher Belehrung über sein Wahlrecht — gar keine diesbezügliche Frist gesetzt, ist eine Auswechslung des Pflichtverteidigers auch danach noch möglich (vgl. Krawczyk, a.a.O., § 143a Rn. 10, ferner auch § 142 Rn. 25; vgl. auch FKK-StPO/ Willnow, 8. Aufl.,  § 142 Rn. 8 m.w.N.: keine Ausschlussfrist). Es kann daher auch dahinstehen, wann das Antragsschreiben des Beschwerdeführers vom 27.8.2020 abgesandt wurde, wann es bei der Staatsanwaltschaft Mainz einging, warum es erst am 8.9.2020 dort zur Handakte gelangte und ob der Beschwerdeführer zulässigerweise davon ausgehen durfte, dass dieses — ebenso wie das am 3.9.2020 dort eingegangene Schreiben — noch rechtzeitig an den zuständigen Ermittlungsrichter weitergelangen würde.

Dem Recht und Wunsch des Beschwerdeführers, als Pflichtverteidigerin die von ihm gewählte Rechtsanwältin Pp. beigeordnet zu bekommen, war allem nach angemessen Rechnung zu tragen, da auch ein wichtiger, dem Verteidigerwechsel entgegenstehender Grund nicht vorlag.

Insbesondere hat der Beschwerdeführer nach dem Ausgeführten auch nicht über einen wesentlichen Zeitraum die Verteidigung durch Rechtsanwalt pp. widerspruchslos hingenommen (vgl. BGH, StV 2001, 3 f.), mit der Folge, dass er hieran dauerhaft festgehalten werden könnte.“

Was lange währt, wird endlich gut. Wenn man den o.a. Sachverhalt liest, fragt man sich, warum Beschuldigter und seine Wahlverteidigerin insgesamt fünfmal beantragen müssen, dass diese als Pflichtverteidigerin bestellt und der ohne Anhörung des Beschuldigten bestellte Rechtsanwalt R entpflichtet wird. Die Voraussetzungen für die angestrebte einvernehmliche Umbeiordnung lagen vor, so dass das AG erheblich schneller hätte umbeiordnen können/müssen. Um so mehr erstaunt es dann, dass das AG ablehnt und das dann auch noch mit „kein gestörtes Vertrauensverhältnis“ begründet. Das war schon nach altem Recht in den Fällen der „einvernehmlichen Umbeiordnung“ falsch und ist es jetzt unter Geltung des § 143a StPO erst recht.

Pflichti III: Vollständiger Vortrag, oder: Sonst trägt der Beschuldigte seine Auslagen selbst

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Im letzten Posting des Tages weise ich dann hin auf den LG Braunschweig, Beschl. v. 08.10.2020 – 1 Qs 203/20.

Der Beschuldigte hat Beschwerde gegen die nicht erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers eingelegt. Die hat Erfolg. Aber: Seine notwendigen Auslagen trägt der Beschuldigte selbst:

„Das Amtsgericht Braunschweig hat mit Beschluss vom 15.09.2020 den Beiordnungsantrag des Verteidigers vom 06.08,2020 zurückgewiesen mit der Begründung, dass weder die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO vorliegen noch die Schwere der Tat oder der zu erwartenden Rechtsfolge bzw. die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Beiordnung gebieten. Die Entscheidung des Amtsgerichts ist nach den zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegenden Erkenntnissen zutreffend gewesen. Es geht um den Tatvorwurf des versuchten Diebstahls eines Buntmetallstrangs von einer Kabeltrommel. Der Beschuldigte ist zwar vorbestraft, seit 2008 aber lediglich zu Geldstrafen verurteilt worden. Gesamtstrafenfähigkeit bestand nach dem Bundeszentralregisterauszug vom 14.09.2020 lediglich hinsichtlich der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Halberstadt vom 29.07.2020 (60 Tagessätze zu je 30,¬€ Geldstrafe wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis).

Mit der sofortigen Beschwerde hat der Verteidiger erstmals vorgetragen, dass gegen den Beschuldigten beim Amtsgericht Halberstadt das Verfahren 3 Ds 802 Js 70719/20 — 20120 wegen eines Vergehens gegen § 52 WaffG und beim Amtsgericht Gardelegen das Verfahren 21 Ls 416 Js 14505/19 -2/20 u. a. wegen eines Verbrechens (Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion) anhängig sind. Insoweit bestünde bei entsprechenden Verurteilungen Gesamtstrafenfähigkeit, die Schwere der insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, auf die bei der Entscheidung abzustellen ist, gebietet daher die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

Von einer Belastung der Staatskasse mit den notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers hat die Kammer entsprechend § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StPO abgesehen, da erst mit der Beschwerde die deren Erfolg begründenden Tatsachen vorgetragen wurden.“

Auf vollständigen Vortrag muss man also achten, wenn man denn alle Umstände kennt 🙂 .

Pflichti II: Nochmals nachträgliche Bestellung, oder: Klappt beim LG Nürnberg-Fürth/AG Stuttgart!

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Und als zweites Posting dann noch einmal zwei Entscheidungen zur nachträglichen Beiordnung, quasi als Contra-Punkt zum OLG Brandenburg, Beschl. v. 09.03.2020 – 1 Ws 19/20 – 1 Ws 20/20 – und zum OLG Bremen, Beschl. v. 23.09.2020 – 1 Ws 120/20 -, die ich gestern vorgestellt hatte (Pflichti I: Keine nachträgliche Bestellung, oder: Für mich “unfassbare” OLGe Brandenburg und Bremen). Es geht also doch :-).

In dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 19.10.2020 – 1 Qs 53/20 – war vom AG nach Einstellung gem. § 154 Abs. 2 StPO die (nachträgliche) Beiordnung abgelehnt worden. Das sieht das LG anders:

„1. Die Beschwerde ist zulässig. Gegen gerichtliche Entscheidungen über die Pflichtverteidigerbestellung ist zwar gem. § 142 Abs. 7 StPO die sofortige Beschwerde das statthafte Rechtsmittel.

Das schlicht als „Beschwerde“ bezeichnete Rechtsmittel des Verteidigers, ist jedoch zwanglos als sofortige Beschwerde auszulegen.

Die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen sind erfüllt. Insbesondere ist die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO jedenfalls nicht ausschließbar eingehalten. Zwar wurde dem Verteidiger der angefochtene Beschluss bereits. am 03.07.2020 zugestellt, wohingegen die sofortige Beschwerde erst am 27.08,2019 einging. Beschwerdeführer ist jedoch nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Angeklagte; ohnehin kommt dem Verteidiger kein eigenes Beschwerderecht zu. An den Angeklagten wurde der angefochtene Beschluss lediglich formlos herausbegeben (BI. 60); eine Zustellung samt konkretem Zustellungsdatum liegt nicht vor. Die Zustellung an den Verteidiger war für die Ingangsetzung der Wochenfrist vorliegend nicht ausreichend, da sich keine Vollmacht bei den Akten befindet § 145a StPO).

Ebenso ist die grundsätzlich durch die Ablehnung des Antrags auf Beiordnung des Verteidigers entstandene Beschwer des Angeklagten nicht nachträglich dadurch entfallen, dass das Verfahren zwischenzeitlich gem. § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt wurde. Zwar ist die Frage einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung auch nach der mit Wirkung zum 13.12.2019 erfolgten Gesetzesänderung zur Pflichtverteidigerbestellung durchaus umstritten. Die Kammer versteht die Intention des Gesetzgebers, insbesondere unter Berücksichtigung des Hintergrunds der Umsetzung der sog. „PKH-Richtlinie“, dahingehend, dass nunmehr für die Frage der Pflichtverteidigerbestellung nicht mehr allein die Sicherung einer ordnungsgemäßen Verteidigung im Vordergrund steht, sondern dass auch die Bedürfnisse mittelloser Beschuldigter in den Blick zu nehmen sind (so auch Meyer-Goßner/Schmitt. StPO, 63. Auflage 2020, § 142 Rz. 19 f.). Zu berücksichtigen ist, dass auch in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK das Recht des Beschuldigten genannt ist, bei Mittellosigkeit den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Ebenso ist bezogen auf den konkreten Fall zu beachten, dass es sich bei der erfolgten Verfahrenseinstellung um eine vorläufige handelt und daher eine Wiederaufnahme und ein Fortgang  des Verfahrens nicht als völlig unwahrscheinlich erscheinen.

Aus den vorstehenden Gründen schließt sich die Kammer der Rechtsauffassung an, dass eine nachträgliche Bestellung jedenfalls dann möglich ist, wenn ein Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt wurde. Eine rechtzeitige Anbringung des Antrags liegt im gegenständlichen Verfahren vor, da die Sache bei Eingang des Antrags aufgrund des überschaubaren Umfangs entscheidungsreif war.

2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

a) Gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn er dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt.

b) Der Angeklagte, dem der Tatvorwurf im. Ermittlungsverfahren bereits eröffnet worden war, ist nicht völlig ohne Verteidiger, da sich RA pp. ursprünglich als Wahlverteidiger angezeigt und sein Mandat anwaltlich versichert hatte. Dem unverteidigten Beschuldigten steht jedoch insoweit der Beschuldigte mit Wahlverteidiger gleich, der für den Fall der Beiordnung, die Niederlegung seines Mandats ankündigt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 141 Rz. 4). Eine solche Ankündigung der Niederlegung, des Mandats ist zwar in keinem der in der Akte enthaltenen Schriftsätze des Verteidigers erfolgt; die Erklärung ist jedoch konkludent aus dem Begehren der Beiordnung zu entnehmen (vgl. Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage 2019, § 141 Rz. 1, Münchener Kommentar zur StPO, 1 Auflage 2014, § 141 Rz. 4 m.w.N.).

c) Vorliegend war ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs.,1 Nr. 5 StPO gegeben, da der Angeklagte sich in anderer Sache seit 11.03.2020 in Untersuchungshaft befand. Die vormalige zeitliche Beschränkung auf Fälle einer Unterbringungsdauer von mindestens drei Monaten ist Mit der bereits angeführten Gesetzesänderung entfallen.

d) Es lag seit 07.04.2020 ein ausdrücklicher Antrag des Wahlverteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger vor. Zwar war in diesem Zeitpunkt bereits ausdrücklich in der Akte dokumentiert, dass sowohl von Seiten des Gerichts (Anregung an die Staatsanwaltschaft am 01.04.2020), als auch von ‚Seiten der Strafverfolgungsbehörden (Antrag der Staatsanwaltschaft vom 06.04.2020) eine umgehende Verfahrenserledigung nach § 154 Abs. 2 StPO beabsichtigt war. Tatsächlich wurde das Verfahren bereits mit Beschluss vom 09.04.2020 und damit gerade einmal 2 Tage nach Eingang des Pflichtverteidigerantrags eingestellt, ohne dass es vorher zu weiteren Maßnahmen gekommen wäre.

Gleichwohl dringt der Verteidiger mit dem Argument, dass die in § 141 Abs. 2 S. 3 StPO enthaltene Möglichkeit, nach der eine Bestellung als Pflichtverteidiger in den Fällen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, vorliegend nicht zur Anwendung kommen könne, durch. Denn aus dem ausdrücklichen Wortlaut, der auf §141 Abs. 2 S. 1 Nr: 2 und 3 StPO, nicht jedoch auf § 141 Abs. 1 StPO verweist, wie auch aus der systematischen Stellung innerhalb des Absatzes 2 der genannten Vorschrift, ergibt sich, dass das Absehen der Beiordnung nur für die Fälle der von Amts wegen, nicht jedoch auf die auf Antrag des Beschuldigten vorzunehmenden Pflichtverteidigerbestellung in Betracht kommt. Eine analoge Anwendung scheidet insofern aus. Die Ablehnung der Beiordnung könnte daher durch das Amtsgericht nicht unter Verweis darauf abgelehnt werden, dass die Einstellung des Verfahrens bereits unmittelbar bevorstand (vgl. auch LG Magdeburg, Beschluss vom 24.072020 – 5 Gs 1070/20; LG Frankenthal, Beschluss vom 16.06.2020 – 7 Qs 114/20; LG Dessau-Roßlau, Beschluss vom 27.08.2020 – 3 Qs 121/20)….“

Ebenso hat entschieden für den Fall der Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO das AG Stuttgart im AG Stuttgart, Beschl. v. 16.10.2020 – 26 Gs 8477/20.

Ich frage mich angesichts der beiden schön und sorgfältig begründeten Beschlüsse: Warum geht bei LGe und AGe, was bei OLGe offenbar nicht geht?  Will man nicht und klebt an den alten Textbausteinen? Oder kann man nicht? Dann bitte Nachhilfe bei den Instanzgerichten nehmen.

Pflichti I: Zur-Last-Legung eines Verbrechens im Ermittlungsverfahren, oder: Wann?

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Und dann zum eigentlichen Thema des Tages: Noch einmal Pflichtverteidigungsentscheidung.

In der Facebookgruppe Strafverteidiger war gefragt worden nach der Bestellung eines Pflichtverteidigers in folgender Konstellation: Der Mandant erscheint bei dem Rechtsanwalt mit einer Vorladung der Polizei. Dort lautet der Vorwurf „Verbrechen nach § 29a Abs. 1 Nr 2 BtMG. Daraufhin beantragt der Rechtsanwalt bei der Staatsanwaltschaft seine Beiordnung, der Ermittlungsrichter teilt ihm mit, dass er nicht beiordnen wird, weil es hier kein Verbrechen sei, es läge vielmehr offensichtlich nur ein Vergehen vor, was objektiv zutreffend ist. Der Rechtsanwalt nimmt dazu Stellung und erklärt, dass es doch auf den Vorwurf zum Zeitpunkt der Antragstellung ankommen muss. Er fragt nach Rechtsprechung. Ich kannte (bisher) keine.

Der Kollege hat dann gesucht. Und er ist fündig geworden beim LG Flensburg, Beschl. v. 30.07.2020 – II Qs 28/20 jug :

„Die als sofortige Beschwerde auszulegende „Beschwerde“ (vgl. § 142 Abs. 7 S. 1 StPO) des Beschuldigten ist zulässig, da sie insbesondere fristgerecht eingelegt wurde, und begründet.

Die Voraussetzungen für die Beiordnung eines notwendigen Verteidigers im Ermittlungsverfahren liegen vor.

Der Beschuldigte hat einen Antrag gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO gestellt. Auch liegen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO vor, da gegen den Beschuldigten wegen des Verdachts der Brandstiftung nach § 306 Abs. 1 StGB, die ein Verbrechen im Sinne des § 12 Abs. 1 StGB darstellt, ermittelt wurde.

Ein Verbrechen gilt nämlich schon dann als „zur Last gelegt“, wenn wegen eines solchen ermittelt wird (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 36. Ed. 1.1.2020 Rn. 6, StPO § 140 Rn. 6 m.w.N.). Zwar sind seitens der Kriminalpolizei bereits frühzeitig Überlegungen angestellt worden, wonach eine Strafbarkeit wegen eines Brandstiftungsdeliktes ausscheiden könnte (vgl. Bl. 45 d. A.). Diese Überlegungen haben indes zu keiner Änderung der Bewertung des Tatvorwurfes geführt, wie die Vorladung des Beschuldigten vom 22.01.2020 (Bl. 117 d. A.) dokumentiert. Diesem ist darin bekanntgegeben worden, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Brandstiftung gemäß § 306 Abs. 1 StGB geführt werde. Dass die Staatsanwaltschaft im Rahmen des Beiordnungsverfahrens nunmehr eine – wenngleich zutreffende – rechtliche Würdigung dahingehend, dass lediglich ein Tatverdacht wegen Sachbeschädigung bestehe, vornimmt, führt zu keinem Entfallen der Beiordnungsvoraussetzungen. Denn wenn die Tat nach Einordnung als Verbrechen im Laufe des weiteren Verfahrens anders beurteilt, bleibt die Verteidigung nach allgemeiner Ansicht gleichwohl notwendig (MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, 1. Aufl. 2014 Rn. 13, StPO § 140 Rn. 13). Auch wenn dieser Grundsatz keine uneingeschränkte Anwendung entfaltet und vor dem Hintergrund der zeitlichen Vorverlagerung des Beiordnungsverfahrens ins Ermittlungsverfahren modifiziert werden muss, dürfte er aber jedenfalls gelten, wenn – wie hier – mit dem Vorwurf eines Verbrechens an den Beschuldigten herangetreten wird.“

Und dann habe ich auch noch einmal geforscht und gefunden: LG Magdeburg, Beschl. v. 15.05.2020 – 25 Qs 47 u. 48/20. Sorry Herr Kollege Gunkel, hätte ich dran denken können.

Pflichti III: Bestellung im Steuerstrafverfahren, oder: Dafür sprechen gewichtige Gründe….

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Und zum Abschluss des Tages dann eine positive Entscheidung aus dem Bereich der Pflichtverteidigung, und zwar der LG Braunschweig, Beschl. v. 17.09.2020 – 11 Qs 182/20 – zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Steuerstrafverfahren.

Das AG hatte das abgelehnt, das LG hat dann bestellt:

„Die gem. § 142 Abs. 7 StPO statthafte und zulässige, insbesondere innerhalb der Frist des § 311 Abs. 2 StPO erhobene sofortige Beschwerde ist begründet, da die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen.

Die Mitwirkung eines Verteidigers ist wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten (§ 140 Abs. 2 StPO). Dabei kann die Frage dahinstehen, ob ein steuerstrafrechtlicher Vorwurf stets die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage begründet. Hierfür sprechen jedoch gewichtige Gründe: Es handelt sich um Blankettstrafrecht, bei dem die Rechtslage nur in einer Zusammenschau strafrechtlicher und steuerrechtlicher Normen zutreffend erfasst und bewertet werden kann. Verfügt der/die Angeklagte nicht nachgewiesenermaßen über Spezialwissen, ist er mit der Rechtsmaterie regelmäßig überfordert. Eine laienhafte oder intuitive Einschätzung der Rechtslage, wie sie bei Normen des Kernstrafrechts möglich ist, genügt nicht (vgl. LG Essen, Beschl. v. 02.09.2015 – 56 Qs 1/15).

Die Frage bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung, da vorliegend weitere Umstände hinzutreten, die die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage begründen. So beträgt der vorgeworfene Tatzeitraum mehr als 4 Jahre; der Strafbefehl umfasst 1 0 Taten. Die Berechnung der Steuerschuld und somit des Einziehungsbetrags bedarf näherer Kenntnisse des Steuerrechts, die bei der Angeklagten nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden können. Schließlich kann eine Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis, die nur einem Verteidiger gemäß § 147 StPO zusteht, nicht umfassend vorbereitet werden, was die Schwierigkeit der Sachlage begründet. Denn um die insgesamt 10 Tatvorwürfe zu prüfen, ist die Kenntnis der Berechnungen des Finanzamts für Steuerstrafsachen und die Ausweitung der sichergestellten Geschäftsunterlagen erforderlich (LG Essen, aaO.). Zudem dürften im Rahmen der Hauptverhandlung die Geschäftsunterlagen, Steuererklärungen und die in Frage stehenden Rechnungen der Drittunternehmen einzuführen sein, was zusätzlich dazu führt, eine schwierige Sach- und Rechtslage anzunehmen (vgl. Thomas/Kämpfer, in: MüKo StPO, 1. Aufl. 2014, § 140, Rn. 39 m.w.N.).“