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Pflichti III: Verbotenes Rennen/Polizeiflucht, oder: (Derzeit noch) Schwierge Rechtslage

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Und als dritte Entscheidung zum Tagesschluss hier der LG Aachen, Beschl. v. 11.01.2021 – 62 Qs 83/20. Thematik: Beiordnung nach § 140 Abs. 2 StPO.

Zur Last gelegt wird dem Beschuldigten ein Verstoß gegen § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB in Form der sog. Polizeiflucht. Das LG ordnet einen Pflichtverteidiger wegen Schwierigkeit der Rechtslage bei:

„Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. ….

Allerdings gebietet vorliegend die Schwierigkeit der Rechtslage die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Eine schwierige Rechtslage ist gegeben, wenn bei Anwendung des materiellen oder formellen Rechts im konkreten Verfahren Rechtsfragen beantwortet werden müssen, die bislang nicht entschieden wurden.

Die Beurteilung der seitens des Verteidigers aufgeworfenen Frage der Verhältnismäßigkeit der (vorläufigen) Entziehung der Fahrerlaubnis vor dem Hintergrund eines etwaigen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot begründet keine Schwierigkeit der Rechtslage. Diese Frage ist als Teil der üblichen, keine besonderen Schwierigkeiten aufweisenden rechtlichen Beurteilung eines Sachverhaltes durch den Strafrichter anzusehen.

Jedoch liegt eine besondere Schwierigkeit der Rechtslage im Hinblick auf den Tatvorwurf des verbotenen Kraftfahrzeugrennens gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB vor. Bei der Anwendung dieser Norm im konkreten Verfahren stellen sich verschiedentliche Rechtsfragen, die bislang nicht (eindeutig) höchstrichterlich geklärt wurden. Abgesehen von der grundsätzlichen Frage der möglichen Verfassungswidrigkeit (vgl. Vorlagebeschluss des AG Villingen-Schwenningen v. 16.01.2020 — 6 Ds 66 Js 980/19), werden bei Anwendung der Norm im konkreten Fall des Alleinrennens verschiedene Tatbestandsmerkmale kontrovers diskutiert und in der Rechtsprechung bislang uneinheitlich bewertet bzw. angewandt, wobei auch auf obergerichtlicher Ebene eine unterschiedliche Anwendung vorliegt, die bislang nicht durch den Bundesgerichtshof entschieden wurde. Insbesondere ist bislang nicht höchstrichterlich entschieden worden, wie das Tatbestandsmerkmal der „höchstmöglichen Geschwindigkeit“ auszulegen ist und ob es zur Verwirklichung des Tatbestandes des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB des Hinzutretens typischer risikobehafteter Rennelemente bedarf, welche der Fahrt des „Einzelrasers“ einen Renncharakter verleihen und diese damit gerade von anderen Fällen bloßer Geschwindigkeitsüberschreitungen abgrenzen. Zudem ist speziell in einem möglicherweise vorliegend gegebenen „Fluchtfall“ umstritten, inwieweit ein dolus directus ersten Grades im Hinblick auf das Erreichen der höchstmöglichen Geschwindigkeit zu verlangen ist bzw. in welchem Verhältnis diese Absicht zu möglichen anderen handlungsleitenden Motiven und Zielsetzungen stehen kann (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 05.05.2020 — 111-1 RVs 45/20; KG, Beschluss vom 20.12.2019 — (3) 161 Ss 134/19 (75/19); OLG Stuttgart, Beschluss vom 04.07.2019 4 Rv 28 Ss 103/19). Angesichts der noch andauernden kontroversen Diskussionen zu der noch relativ jungen Norm und der uneinheitlichen Rechtsprechung hierzu, ist — aus Sicht der rechtsunkundigen Angeklagten — von einer schwierigen Rechtslage auszugehen, bei welcher die Beiordnung eines Pflichtverteidigers mangels eigener Verteidigungsmöglichkeit der Angeklagten geboten erscheint.“

Pflichti I: Nachträgliche/rückwirkende Bestellung, oder: Derzeit Dauerbrenner

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Heute mache ich dann den ersten Pflichtverteidigungstag 2021. Über die Feiertage habe ich da ein paar Entscheidungen angesammelt.

Ich eröffne die Berichterstattung mit Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers. Das ist sicherlich die Frage, die die Gerichte derzeit am meisten beschäftigt. Dauerbrenner also.

Ich stelle dazu dann aber nur noch die Leitsätze zu den Entscheidungen vor, und zwar:

1. In Anbetracht der Neuregelung der Rechts der Pflichtverteidigung und der damit verbundenen Stärkung der Rechte des Beschuldigten unter Nominierung eines eigenen Antragsrechts gemäß § 141 Abs. 1 StPO kann es besonderen Umständen zulässig sein, auch rückwirkend einen Pflichtverteidiger zu bestellen.
2. Die Staatsanwaltschaft hat einen Beiordnungsantrag gemäß § 142 Abs. 1 Satz 2 unverzüglich zur Entscheidung vorzulegen. Der Staatsanwaltschaft kommt hierbei kein Ermessensspielraum zu, vielmehr ist sie unverzüglich zur Vorlage verpflichtet. Insbesondere spielt es dabei keine Rolle, ob eine etwaige Stellungnahme des Verteidigers Einfluss auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft hätte.

Eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger für ein abgeschlossenes Verfahren ist schlechthin unzulässig und unwirksam und mithin ausgeschlossen.

Die nachträgliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger ist zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gem. § 140 Abs. 1, 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch gerichtsinterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.

Nur kurz dazu.

Beim LG Berlin-Beschluss hätte man als Leitsazu auch nehmen können: Haben wir immer schon so gemacht, machen wir auch weiter so. Wenn schon auf eine Entscheidung des KG von 2103 Bezug genommen wird.

Und dem AG Braunschweig kann man nur empfehlen, sich ggf. doch mal einen neuen Kommentar zu kaufen. Meyer-Goßner/Schmitt, 61. Aufl., 2018, ist vielleicht in den Fragen nicht ganz auf dem Stand der Neuregelung aus 2019. Das Ergebnis des AG ist zwar richtig, die angeführte Rechtsprechung betrifft aber „altes Recht“.

Pflichti IV: Nachträgliche Bestellung, oder: In Bayern – OLG Nürnberg – ordnet man bei – Überraschung

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Und dann heute noch eine Sondermeldung, Nämlich zum OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.11.2020, – Ws 962 – 963/20. Der ist gerade erst rein gekommen, für das letzte Posting hat es nicht mehr gereicht. Also schicke ich den Beitrag hinterher 🙂 .

Es geht um die nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers (im Strafvollstreckungsverfahren). Das OLG Nürnberg hat – Überraschung!! – die Beiordnung bejaht:

2. Die rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers für den Zeitraum ab Antragstellung (06.03.2020) ist vorliegend möglich, da die Voraussetzungen der Pflichtverteidigerbestellung für das Vollstreckungsverfahren zu diesem Zeitpunkt vorlagen und die Entscheidung über die Bestellung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. So hat das Landgericht erst am 12.05.2020 (nach Aufhebung der Widerrufsentscheidung vom 14.02.2020 durch den Senat am 09.04.2020) entschieden, den Senat erreichte die Beschwerdevorlage sogar erst am 19.10.2020.

Die Bestellung erfolgt für den Verfahrensabschnitt des Strafvollstreckungsverfahrens, welcher die Entscheidung über den Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft Passau vom 15.01.2020 betrifft.

a) Der Senat hat im Blick, dass die überwiegende Rechtsmeinung (zum Streitstand: Willnow in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl., § 141 Rn. 12 und Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 142 Rn. 19) die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers selbst dann für unzulässig erachtet, wenn die Entscheidung über den Antrag versäumt wurde. Dies mit der Begründung, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf in der Zukunft diene. Eine Rückwirkung wäre auf etwas Unmögliches gerichtet und würde eine notwendige Verteidigung des Angeklagten in der Vergangenheit nicht gewährleisten. Eine Beiordnung erfolge insbesondere nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder um dem Verteidiger einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen (so zuletzt OLG Brandenburg, Beschl. v. 09.03.2020, 1 Ws 19/20 u. 20/20, und OLG Bremen, Beschl. v. 23.09.2020, 1 Ws 120/20).

b) Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BT-Drucks. 19/13829, S. 36 ff.) und aufgrund der dieser Gesetzesänderung zugrunde liegenden Richtlinie 2016/1919/EU ist die Annahme eines Rückwirkungsverbotes indes nicht mehr tragfähig.

Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/1919/EU (“PKH-Richtlinie“) haben die Mitgliedstaaten sicher zu stellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Mit „Prozesskostenhilfe“ wird hierbei die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand bezeichnet, so dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann (Art. 3 der Richtlinie 2016/1919/EU). Über den rechtzeitigen und praktisch wirksamen Zugang zur Wahrnehmung der Verteidigerrechte hinaus (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU) regelt Art. 4 der Richtlinie 2016/1919/EU nunmehr also auch die finanziellen Grundlagen und zwar in der Weise, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes gesichert werden soll. Zweck und Ziel dieser Regelung kann – im Blick auf Fallkonstellationen wie die vorliegende – nur eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten sein. Diese würde jedoch unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde (so auch Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 142 Rn. 20).

Der Senat zieht hierbei die Wertungen der das Strafverfahren betreffenden Richtlinie 2016/1919/EU auch im Strafvollstreckungsverfahren heran, da sich ansonsten ein unüberbrückbarer Wertungswiderspruch innerhalb des Rechts der Pflichtverteidigung zwischen den Straf- und dem Strafvollstreckungsrecht ergäbe.

Gestützt wird die Rechtsauffassung des Senats auch durch das Unverzüglichkeitsgebot in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO. Mit dieser neuen Fassung der Vorschrift kommt der besondere Beschleunigungsbedarf zum Ausdruck, den der Gesetzgeber für eine Pflichtverteidigerbestellung sieht. Ebenso wurde im Zuge der gesetzlichen Neuregelung die bisher statthafte einfache Beschwerde durch die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 S. 1 StPO ersetzt. Die Bestellungsentscheidung – samt der mit dieser verbundenen Alimentierung des Verteidigers – muss also schnell fallen. Gerade die vorliegende, äußerst lange Verzögerung bis zur abschließenden Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung erst mit diesem Beschluss – acht Monate nach Antragstellung und lange nach Rücknahme des Widerrufsantrags – zeigt, dass die Annahme der bislang vorherrschenden Rechtsauffassung einer Erledigung des Bedarfs für die Pflichtverteidigerbestellung durch Zeitablauf nicht mit der Intention des Gesetzgebers vereinbar ist.

Somit ist vorliegend eine rückwirkende Bestellung des Rechtsanwalts pp. für das Strafvollstreckungsverfahren und hierbei das Verfahren über die Entscheidung des Widerrufsantrags der Staatsanwaltschaft Passau mit Wirkung der am 06.03.2020 erfolgten Antragstellung möglich.“

Pflichti III: Nachträgliche Bestellung nach neuem Recht, oder: AG sind „großzügiger“

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Was wäre ein Pflichtverteidigungstag ohne Entscheidungen zur nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers. Daher dann hier zu der Porblematik noch zwei amtsgerichtliche Entscheidungen, und zwar:

Das AG Essen hat im AG Essen, Beschl. v. 19.11.2020 – 35 Ds-72 Js 1266/18-71/18 – nachträglich beigeordnet. In dem Fall hatte die Verteidigerin  beantragt, als Pflichtverteidigerin beigeordnet zu werden. Das Gericht hatte diese Entscheidung bis zur Hauptverhandlung zurück gestellt. In der Hauptverhandlung wurde eine Pflichtverteidigung dann nicht protokolliert. Das AG hate beigeordnet:

„Zwar besteht gerichtsseitig keine konkrete Erinnerung mehr darüber, ob die Entscheidung nicht getroffen oder nur nicht protokolliert wurde. Die Voraussetzungen für eine Bestellung als Pflichtverteidiger gem. § 140 Abs. 2 StPO lagen und liegen vor. Es steht für das Gericht außer Frage, dass diese Entscheidung getroffen und die Beiordnung nicht abgelehnt werden sollte.

Aus diesem Grunde muss nach Auffassung des Gerichts auch nachträglich eine deklaratorische Beiordnungsentscheidung für einen rechtzeitig gestellten Antrag möglich sein. Diese Fallkonstellation ist untypisch, so dass jedenfalls die Rechtsprechung, die einer konstitutiven nachträglichen Entscheidung entgegensteht, hier nicht entgegensteht.“

Und die zweite Entscheidung kommt vom AG Koblenz. Das hat im AG Koblenz, Beschl. v. 27.11.2020 – 30 Gs 8361/20 – die nachträgliche Bestellung – nach einer Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO – als zulässig angesehen. Begründung: Im Hinblick auf die Intention des Gesetzgebers zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung muss eine rückwirkende Bestellung zulässig sein, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung vorlagen und die Entscheidung durch interne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.

Wenn ich mir die Rechtsprechung so anschaue: Die AG sind „großzügiger“ und haben verstanden, worum es dem Gesetzgeber mit der Neuregelung der §3 140 ff. StPO gegangen ist.

Pflichti II: Materielle Voraussetzungen der Bestellung, oder: AufenthG, DNA und ausländerrechtliche Folgen

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Im zweiten Posting dann einige Entscheidungen zu den (materiellen) Voraussetzungen der Bestellung eines Pflichtverteidigers. Und damit es nicht zu viel wird, stelle ich auch hier nur die Leitsätze der Entscheidungen vor, und zwar:

Allein der Umstand, dass das Gericht das Vorliegen eines persönlichen Strafausschließungsgrundes nach § 95 Abs. 5 AufenthG zu prüfen hat, macht die Sach- oder Rechtslage noch nicht schwierig im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO.

KG, Beschl. v. 14.102020 – 3 Ws 226/20

Die Einholung eines Sachverständigengutachtens erfordert nicht in jedem Fall die Beiordnung eines Verteidigers. Für eine Beiordnung spricht aber, das Vorliegen eines DNA-Gutachtens, mit dem eine  kritische Auseinandersetzung erfolgen muss, die einem Laien ohne Unterstützung durch einen Verteidiger in der Regel nicht möglich sein wird.

LG Aachen, Beschl. v. 08.07.2020 – 62 Qs 41/20

  • Schwere der Tat

Zur Frage der Bestellung eines Pflichtverteidigers bei einem ausländischen Beschuldigten im Hinblick auf Verständigungsschwierigkeiten und ggf. mögliche ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung.

LG Kaiserslautern, Beschl. v. 27.11.2020 – 5 Qs 84/20