Schlagwort-Archiv: Pflichtverteidiger rückwirkende Bestellung

Pflichti I: BGH lässt „rückwirkende Bestellung“ offen, oder: Erforderlichkeit eines weiteren Verteidigers?

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und dann ist es mal wieder so weit: Heute ist „Pflichti-Tag“. Ich habe ein paar Entscheidungen „gesammelt“, aber so ganz viel ist es dieses Mal nicht.

Ich stelle in diesem Posting zunächst eine Entscheidung des BGH vor.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 17.09.2025 – StB 46/25 – zur Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers (§ 144 StPO). Ergangen ist der Beschluss in einem beim OLG Frankfurt am Main anhängigen Staatsschutzverfahren.

In dem ist dem inhaftierten Angeklagten im Dezember 2022 Rechtsanwalt S. und im Januar 2023 Rechtsanwalt H. als Pflichtverteidiger bestellt worden. Mit Beschluss des OLG vom 10.06.2024 ist die Beiordnung von Rechtsanwalt H. aufgehoben und Rechtsanwalt K. als neuer Pflichtverteidiger beigeordnet worden; Rechtsanwalt H. ist weiterhin als Wahlverteidiger mandatiert.

Am 17.07.2025 hat Rechtsanwalt K. mitgeteilt, er werde am Hauptverhandlungstermin vom 05.082025 nicht erscheinen. Er hat beantragt, Rechtsanwalt H. für diesen Termin als Pflichtverteidiger zu bestellen.

Die Hauptverhandlung ist am 05.08.2025 fortgesetzt worden. Der Angeklagte war an diesem Tag durch seinen Pflichtverteidiger Rechtsanwalt S. und seinen Wahlverteidiger H. verteidigt. Letztgenannter hat beantragt, ihn für den Hauptverhandlungstag als Pflichtverteidiger zu bestellen. Diesen Antrag hat der Vorsitzende des Senats mit in der Hauptverhandlung verkündetem Beschluss vom 05.08.2025 abgelehnt. In der anschließend fortgesetzten Hauptverhandlung waren die Rechtsanwälte S. und H. durchgängig anwesend.

Dagegen die sofortige Beschwerde, die keinen Erfolg hatte:

„Die gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1, 311 StPO statthafte, fristgerechte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Dabei kann dahinstehen, ob mit Blick auf die „PKH-Richtlinie“ (Richtlinie [EU] 2016/1919) eine rückwirkende Bestellung möglich ist (offen gelassen von BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 ? StB 26/22, NStZ-RR 2022, 357, 358; bejahend OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 ? Ws 962/20 u.a., StraFo 2021, 71, 72; aA Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 9. März 2020 ? 1 Ws 19/20 u.a., NStZ 2020, 625 Rn. 7 mwN; ebenso für die Zeit vor Geltung der EU-Richtlinie BGH, Beschluss vom 20. Juli 2009 ? 1 StR 344/08, NStZ-RR 2009, 348; KG, Beschluss vom 8. März 2013 ? 2 Ws 86/13 u.a., juris Rn. 5; OLG Stuttgart, Beschluss vom 25. Februar 2015 ? 1 ARs 1/15, juris Rn. 8 mwN). Denn der Vorsitzende des mit der Sache befassten Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts hat die Bestellung von Rechtsanwalt H. als zusätzlichen Pflichtverteidiger zu Recht abgelehnt.

In einem solchen Fall prüft das Beschwerdegericht, ob der Vorsitzende des Erstgerichts die Grenzen seines Beurteilungsspielraums zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO eingehalten und sein Entscheidungsermessen („können“) fehlerfrei ausgeübt hat (BGH, Beschluss vom 27. März 2024 – StB 19/24, NStZ-RR 2024, 178, 179 mwN).

Daran gemessen ist die Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht zu beanstanden. Dieses ist unter Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen davon ausgegangen, dass zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Hinzuziehung eines weiteren Verteidigers am Hauptverhandlungstag nicht erforderlich sei. Dabei hat es im Rahmen der vorgenommenen Abwägung in den Blick genommen, dass der Angeklagte an diesem Tag durch den Pflichtverteidiger Rechtsanwalt S.  und seinen Wahlverteidiger Rechtsanwalt H. vertreten war. Nachvollziehbar hat der Vorsitzende vor diesem Hintergrund die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers abgelehnt. Ferner begründen die Umstände, dass Rechtsanwalt H. bereits an zwei Hauptverhandlungstagen im Jahr 2024 beigeordnet und in vergleichbaren Fällen in entsprechender Weise bei Mitangeklagten verfahren worden ist, weder aus Gründen des Vertrauensschutzes noch der Gleichbehandlung seine Bestellung. Auch insoweit hat der Vorsitzende weder die Grenzen seines Beurteilungsspielraums überschritten noch sein Entscheidungsermessen fehlerhaft ausgeübt.

Im Übrigen sind die Rechte des Angeklagten auf eine effektive Verteidigung (s. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK) und ein faires Verfahren (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) durch die Bestellung der Pflichtverteidiger S. und K. hinreichend gewahrt.“

 

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Viermal topp, zweimal hopp

© ernsthermann – Fotolia.com

Im zweiten Posting dann der Dauerbrenner im Recht der Pflichtverteidigung, nämlich die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Pflichtverteidigers nach Erledigung des Verfahrens. Wie immer zwei Gruppen, „gute“ und „schlechte“ Entscheidungen:

Zunächst hier die „guten“ Entscheidungen, und zwar.

1. Eine nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers kann ausnahmsweise zulässig sein, wenn trotz Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aus justizinternen Gründen nicht entschieden worden ist bzw. die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Insofern sieht das geltende Recht zur effektiven Ausgestaltung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand vor, dass ein Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorzulegen ist. Um eine Untergrabung dieses Rechts zu verhindern, kann dem Beschuldigten bei Missachtung dieser Abläufe – der ansonsten richtige – Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht entgegengehalten werden, wenn das konkrete Verteidigungsbedürfnis nach dieser angemessenen Entscheidungszeit wegfällt. Es ist in solchen Fällen dann regelmäßig auf die Begründetheit des Antrags vor Wegfall – etwa durch Verfahrenseinstellung – abzustellen.
2. Eine Pflichtverteidigerbestellung hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte selbst nicht hinreichend verteidigen kann. Zwar genügt die bloße Betreuerbestellung nicht, um allein deswegen eine Verteidigerbestellung auszusprechen. Die Verteidigungsfähigkeit bemisst sich nach den geistigen Fähigkeiten, dem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Einzelfalles. Eine Beiordnung ist indes bereits regelmäßig angezeigt, wenn an der Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten erhebliche Zweifel bestehen.

Rückwirkende Pflichtverteidigerbestellungen sind im Falle rechtzeitig gestellter Beiordnungsanträge auch noch nach Erledigung des Verfahrens – schon zur Verwirklichung des Rechts auf ein faires Verfahren – geboten.

Zur (bejahten) Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers.

Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist dann angebracht, wenn der Antrag auf Pflichtverteidigerbeiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde. die Voraussetzungen des § 140 StPO vorliegen und die Entscheidung über die Beiordnung nicht unverzüglich erfolgte, sondern wegen justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte.

Und dann hier die „schlechten“ Entscheidungen, nämlich:

Die rückwirkende Bestellung eines Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger ist nicht zulässig.