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Wirtschaftsverfahren mit „erhöhtem“ Aktenumfang, oder: Mal wieder eine Pauschgebühr

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Und als zweite RVG-Entscheidung mal wieder ein Beschluss zur Pauschgebühr nach § 51 RVG. Ja es gibt sie noch. Die OLG tun sich zwar mit der Gewährung von Pauschgebühren für den Pflichtverteidiger nach § 51 RVG meist schwer. Gelegentlich wird dann aber doch noch mal eine Pauschgebühr bewilligt.

Hier hatte der Kollege Bleicher aus Dortmund, der mir den OLG Hamm, Beschl. v. 05.05.2022 – 5 RVGs 16/22 – geschickt hat als Pflichtverteidiger in einem Wirtschaftsstrafverfahren verteidigt. Nach dessen Abschluss hat er die Gewährung einer Pauschgebühr nach § 51 RVG in Höhe von mindestens 10.000 EUR beantragt. Das Verfahren sei besonders umfangreich und besonders schwierig gewesen. Die Schwierigkeit des Verfahrens zeige sich u.a. an den umfangreichen Hinweisen, die die Kammer erteilt habe. Der Aktenumfang sei auch im Vergleich zu anderen Verfahren vor der Wirtschaftskammer groß. Ferner hätten im Laufe der Hauptverhandlung mehrere Selbstleseverfahren stattgefunden. Am 31.07.2020 habe außerdem ein Erörterungstermin stattgefunden, für den keine Terminsgebühr angefallen sei. Das verfahrensabkürzende Geständnis des Angeklagten habe zudem eine intensive Vorbereitung bedurft.

Das OLG ist dem Antrag des Kollegen teilweise gefolgt und hat eine Pauschgebühr in Höhe von 8.500 EUR bewilligt. Das OLG führt u.a. aus:

„2. Es handelt sich außerdem auch um ein besonders umfangreiches Verfahren.

Besonders umfangreich im Sinne des § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG ist eine Strafsache, wenn der vom Verteidiger hierfür erbrachte zeitliche Aufwand erheblich über dem Zeitaufwand liegt, den er in einer normalen Sache zu erbringen hat (OLG Dresden, Beschluss vom 11.12.2019 — 1 (S) AR 60/19 —, Rn. 2, juris; OLG Celle StRR 2011, 240). Als Vergleichsmaßstab sind dabei Verfahren heranzuziehen, die den Durchschnittsfall der vor dem jeweiligen Spruchkörper verhandelten Sachen darstellen (vgl. BGH Rpfl. 1996, 169; NStZ 1997, 98; OLG Hamm JurBüro 1999, 194; OLG Celle StRR 2011, 240).

a) Ein wichtiges Indiz ist zunächst der Aktenumfang. Dieser ist vorliegend auch im Vergleich zu anderen Prozessen vor einer Wirtschaftskammer unter Berücksichtigung der Sonderbände und Beweismittelordner erhöht. Zwar richtete sich die Anklage lediglich gegen drei Angeklagte und umfasste 15 Seiten, was für eine Wirtschaftsstrafsache nicht überdurchschnittlich ist. Inhaltlich ging es aber um einen komplexen Sachverhalt — Firmenstrukturen, Verhältnisse einzelner Firmen zueinander, Unternehmensentwicklung — was eine erhöhte Prozessstoffbearbeitung nahe legt. Auch ist vorliegend nicht von der effektiven Möglichkeit einer Unterstützung des Antragstellers bei der Einarbeitung durch die weiteren Verteidiger auszugehen, da der vorherige Verteidiger unmittelbar nach der Übernahme der Verteidigung durch den Antragsteller die Mandatsniederlegung mitgeteilt hat und nicht mehr in der Sache aufgetreten ist, und die weitere Verteidigerin erst etwa sieben Monate später hinzugekommen ist. Auch erforderte das frühzeitig in der Hauptverhandlung abgegebene Geständnis des Angeklagten eine umfassende Akteneinarbeitung sowie — wie von dem Antragsteller plausibel dargelegt — zeitlichen Aufwand zur Beratung hinsichtlich dieses — die Beweisaufnahme sodann verkürzenden — Geständnisses.

b) Auch die Anzahl von 10 Hauptverhandlungstagen ist für eine Verhandlung vor der Wirtschaftsstrafkammer nicht als überdurchschnittlich anzusehen. Zwar haben einige Termine länger als fünf Stunden gedauert, dies ist jedoch durch die zusätzlichen Gebühren (Nr. 4110, 4111, 4116, 4117, 4122, 4123 VV RVG) vorliegend abgegolten. Die durchgeführten Selbstleseverfahren waren ebenfalls nicht gesondert zu berücksichtigen, da die Bearbeitung des Pressstoffes zur Vorbereitung der Hauptverhandlung und des Geständnisses — wie soeben ausgeführt — ohnehin erforderlich war.

c)  Hinsichtlich des weiterhin in die Gesamtwürdigung einzustellenden haftbedingten Mehraufwandes — insbesondere in Form der Teilnahme an dem Haftbefehlsverkündungstermin sowie den Fahrten zu Haftbesuchen in der JVA — ist allerdings davon auszugehen, dass dieser im Wesentlichen durch die Zuschläge zu den Gebühren abgedeckt wurde.

d) Der erforderliche Besprechungsaufwand kann nicht als überdurchschnittlich gewertet werden. Besprechungen gehören zu den üblichen Verteidigertätigkeiten und werden grundsätzlich durch die gesetzlichen Gebühren abgegolten. Erst wenn die Besprechungen mit dem Mandanten oder sonstigen Verfahrensbeteiligten besonders zahlreich oder langwierig waren, ist dieser Umstand im Zuge der Pauschgebührenbewilligung zu berücksichtigen (Senat, Beschluss vom 04.05.2021 — III 5 RVGs 27/21). Dass der Besprechungsaufwand — auch unter Berücksichtigung des Vorgespräches am 31.07.2020 — vorliegend einen solchen Umfang eingenommen hat, ist nicht ersichtlich.

3. Die Verweisung des Antragstellers auf die gesetzliche Pflichtverteidigergebühr ist diesem nicht zuzumuten. Die Voraussetzung der Unzumutbarkeit tritt nach ständiger Rechtsprechung des Senats neben die Voraussetzungen des besonderen Umfangs und der besonderen Schwierigkeit der Sache (Senatsbeschlüsse vom 20.05.2019 – III – 111-5 RVGs 8/19 —, Rn. 13, juris und vom 26.06.2018 — 5 RVGs53/18- burhoff.de).

Hierdurch soll der Ausnahmecharakter der Pauschgebühr hervorgehoben werden (Burhoff, in: Gerold/Schmidt, 24. Aufl. 2019, § 51 RVG Rn. 32). Die Pauschgebühr soll lediglich eine unzumutbare Benachteiligung des Verteidigers, der als Pflichtverteidiger tätig geworden ist, verhindern (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senatsbeschlüsse (OLG Hamm, Beschluss vom 20. Mai 2019 — III-5 RVGs 8/19 —, Rn. 13, juris m.w.N). Die Bewilligung einer Pauschgebühr kommt daher nur in Ausnahmefällen in Betracht (Senatsbeschlüsse vom 20.05.2019 —II-5 RVGs 8/19 —, Rn. 13, juris und vom 26.06.2018 — 5 RVGs53/18 -, burhoff.de).

Ein solcher Ausnahmefall liegt vorliegend wegen der besonderen Schwierigkeit und des besonderen Umfangs der Sache vor.

4. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau hält der Senat unter Beachtung der obigen Ausführungen sowie auch unter Berücksichtigung des Vorbringens im Antrag für die von dem Antragsteller erbrachten Tätigkeiten anstelle der gesetzlichen Pflichtverteidigergebühren in Höhe von 6.807,00 Euro eine Pauschgebühr in Höhe von 8.500,00 Euro für angemessen.“

Verkehrsrecht III: Verheimlichen von Vorschäden, oder: Betrug beim Gebrauchtwagen(ver)kauf

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Und dann am  Ende der Berichterstattung noch einen OLG-Beschluss, und zwar den OLG Hamm, Beschl. v. 07.04.2022 – 5 RVs 35/22. Es handelt sich nicht um Verkehrsrecht i.e.S., aber immerhin um Verkehrsrecht i.w.S. Das OLG nommt nämlich Stellung zum Umfang der Feststellungen betreffend den Vermögenschaden bei einer Verurteilung wegen Betruges (§ 263 StGB) aufgrund Verheimlichens von Vorschäden beim Gebrauchtwagenkauf.

AG und LG haben den Angeklagten wegen Betruges verurteilt.  Dem OLG reichen die Feststellungen nicht und es hebt auf:

„Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Antragsschrift wie folgt ausgeführt:

„Die auf die Sachrüge hin vorzunehmende materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils der Kammer deckt Rechtsfehler im Bereich der Urteilsfeststellungen auf, da diese den Schuldspruch wegen Betruges gemäß § 263 Absatz 1 StGB nicht tragen.

Es fehlt insbesondere an der Feststellung eines Vermögensschadens des Geschädigten. Der Betrug ist kein bloßes Vergehen gegen die Wahrheit und das Vertrauen im Geschäftsverkehr, sondern eine Vermögensstraftat. Nicht die Täuschung an und für sich, sondern die vermögensschädigende Täuschung ist strafbar. Demgemäß erleidet der Kunde, der beim Kauf eines Gebrauchtwagens über Umstände, die den Verkehrswert (Marktwert) des Fahrzeugs maßgeblich mitbestimmen, getäuscht und dadurch zum Kaufabschluss bewogen wird, einen Schaden regelmäßig nur dann, wenn das Fahrzeug objektiv den vereinbarten Preis nicht wert ist (Senatsbeschluss vom 05.05.2020 – III-5 RVs 31/20 -, zitiert nach juris). Für die Schadensbewertung ist grundsätzlich die objektive Sicht eines sachlichen Beurteilers maßgebend, die sich nicht an der Schadensbewertung des Getäuschten, sondern an den Marktverhältnissen auszurichten hat. Für einen Vermögensschaden reicht es nicht aus, dass der Käufer ohne die Täuschung durch den Verkäufer den Vertrag nicht abgeschlossen hätte. Durch den Betrugstatbestand wird lediglich das Vermögen, nicht aber die Verfügungsfreiheit geschützt (Senatsbeschluss, a.a.O.).

Die hiernach gebotenen tatsächlichen Feststellungen enthält das angefochtene Urteil nicht. Das Urteil führt nicht aus, welchen objektiven Wert das von dem Angeklagten verkaufte Fahrzeug hatte. Somit ist nicht feststellbar, dass der von dem Geschädigten gezahlte Kaufpreis objektiv nicht marktgerecht war. So ergibt sich aus den Feststellungen lediglich, dass das Fahrzeug zunächst einen gutachterlich festgestellten Restwert von 9.900,00 Euro hatte und schließlich zu diesem Preis weiter veräußert wurde, bis der Angeklagte das Fahrzeug zu einem Kaufpreis von 10.500,00 Euro erwarb. Aus den Feststellungen ergibt sich ferner, dass der Angeklagte das Fahrzeug reparieren ließ und schließlich zu einem Kaufpreis in Höhe von 17.250,00 Euro an den Zeugen Z veräußerte. Nach den Feststellungen zur Beweiswürdigung hat sich der Angeklagte dahingehend eingelassen, dass er Ersatzteile für 3.500,00 Euro bis 4.000,00 Euro erworben und sein Bruder das Fahrzeug innerhalb von drei Wochen repariert habe (UA S. 7). Es erscheint daher nicht fernliegend, dass das Fahrzeug den geleisteten Kaufpreis nach Vornahme der Reparaturen wert war.

Sind bei objektiv-abstrakter Betrachtung Leistung und Gegenleistung gleichwertig, so kann im Sinne des sog. persönlichen Schadenseinschlages ein Schaden im Sinne des Betrugstatbestandes nur vorliegen, wenn die Leistung für den Getäuschten bei objektiver Beurteilung nicht oder nicht in vollem Umfang zu dem vertraglich vorausgesetzten Zweck brauchbar ist und er sie auch nicht in anderer zumutbarer Weise verwenden kann (OLG Hamm, Beschluss vom 02. Juni 1992 – 3 Ss 203/92 -, zitiert nach juris). Solche speziellen individuellen Bedürfnisse des Zeugen Z sind jedoch nach den Urteilsfeststellungen nicht ersichtlich. Das bei jedem Gebrauchtwagenverkäufer vorhandene allgemeine Interesse, ein möglichst unfallfreies Fahrzeug zu erwerben, reicht für die Annahme eines persönlichen Schadeneinschlages nicht aus. Darüber hinausgehende Feststellungen hat das Landgericht jedenfalls nicht getroffen.

Die für die Annahme eines Vermögensschadens gebotenen tatsächlichen Feststellungen enthält das angefochtene Urteil daher nicht. Das Urteil führt nicht aus, welchen objektiven Wert das von dem Angeklagten verkaufte Fahrzeug hatte. Somit ist nicht feststellbar, dass der von dem Geschädigten gezahlten Kaufpreis objektiv nicht marktgerecht war. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass im vorliegenden Fall eine Vermögensschädigung entsprechend den obigen Ausführungen auch unabhängig von dem Marktwert des Fahrzeugs für den Geschädigten gegeben war, liegen nach den bisherigen Feststellungen ebenfalls nicht vor.“

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an.“

Strafzumessung III: Doppelverwertungsverbotsverstoß, oder: Aber noch milder geht es kaum

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Und zum Schluß des Tages dann – aller guten Dinge sind Drei – noch einmal der OLG Hamm, Beschl. v. 10.03.2022 – 4 RVs 2/22 . Über den hatte ich ja schon zweimal berichtet, u.a. in der letzten Woche unter StGB II: (Kurze) Behinderung von Hilfsleistenden, oder: Bei schweren Verletzungen genügt bereits eine Minute. Hier kommz der Beschluss dann noch einmal, und zwar wegen der Ausführungen des OLG zur Strafzumessung.

Wegen des zugrunde liegenden Sachverhalt verweise ich auf das Posting aus der vorigen Woche. Das AG hatte den Angeklagten danach wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, in Tatmehrheit mit Beleidigung und in Tatmehrheit mit falscher Verdächtigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 110 Tagessätzen zu je 65,00 Euro verurteilt worden. Daneben hatte das AG als Nebenstrafe ein viermonatiges Fahrverbot verhängt. Die Revision hatte auch wegen der Strafzumessung keinen Erfolg.

Zum Fahrverbot hatte ich ja auch schon gepostet, und zwar hier: Auto I: Viermonatiges StGB-Fahrverbot als Nebenstrafe, oder: Auch noch nach Zeitablauf von zwei Jahren? Zur eigentlichen Strafzumessung führt das OLG dann aus:

„b) Der Strafausspruch ist ebenfalls frei von Rechtsfehlern.

aa) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des tatrichterlichen Ermessens und daher vom Revisionsgericht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen (vgl. nur BGH NStZ 1990, 334). Das Revisionsgericht darf daher nur dann eingreifen, wenn die Strafzumessungserwägungen des Urteils in sich rechtsfehlerhaft sind, wenn der Tatrichter die nach § 46 StGB obliegende Pflicht zur Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände verletzt oder die Strafe bei Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Strafrahmens unvertretbar hoch oder niedrig ist (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 337 Rn. 34). In Zweifelsfällen muss daher in der Regel die Strafzumessung des Tatrichters hingenommen werden, da eine exakte Richtigkeitskontrolle schon wegen des Ermessensspielraums gar nicht durchführbar ist (vgl. BGHSt 29, 319, 320).

Hieran gemessen sind die Strafzumessungserwägungen für die Einzelstrafen und auch für die daraus gebildete Gesamtstrafe nicht zu beanstanden.

(1) Soweit die Revision rügt, das Amtsgericht habe bei der Strafabwägung zu § 115 Abs. 3 StGB rechtsfehlerhaft zu Lasten des Angeklagten gewertet, dass „sein Verhalten (…) weder ethisch, moralisch oder rechtlich gerechtfertigt“ sei, ist dem im Ausgangspunkt zu folgen. Die vorgenannte Formulierung lässt auf einen Verstoß gegen das Doppelverwertungsgebot (§ 46 Abs. 3 StGB) schließen. Die seit dem 05. November 2011 geltende Vorschrift des § 115 Abs. 3 StGB sanktioniert gerade ein Verhalten, das gesellschaftlich als unethisch und unmoralisch und in keiner Weise gerechtfertigt angesehen wird, nämlich das gewaltsame Behindern oder gar Angreifen von Rettungskräften bei ihrem Bemühen um Hilfeleistung in Notlagen. Gerade wegen der Verwerflichkeit dieser Handlungen hat sich der Gesetzgeber dazu entschieden, den Schutz des § 113 StGB auch auf Mitarbeiter von Rettungsdiensten auszudehnen. Dem Gesetzgeber ging es namentlich darum, den Respekt und die Wertschätzung für Hilfskräfte zu unterstreichen (vgl. hierzu BT-Drs. 17/4143, S. 6; BT-Drs. 18/11161, S. 9). Vor diesem Hintergrund hat das Amtsgericht mit seiner Bewertung gleichsam strafschärfend berücksichtigt, dass der Angeklagte die Tat überhaupt begangen und hierbei ohne Rechtfertigungsgrund gehandelt hat. Auf diesem Verstoß gegen § 46 Abs. 3 StGB beruht das Urteil jedoch nicht. § 115 Abs. 3 StGB sieht in Verbindung mit § 113 StGB Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe vor. Unter Berücksichtigung der übrigen Strafzumessungserwägungen, namentlich der Beharrlichkeit des Angeklagten, der die Rettungshandlung gleich durch mehrere aufeinander folgende Handlungen verzögert hat – zuerst mit dem Blockieren der Zufahrt und dann noch zusätzlich mit dem Öffnen der Fahrzeugtür – kann der Senat sicher ausschließen, dass das Tatgericht zu einer für den Angeklagten noch günstigeren Einzelstrafe als den ausgeurteilten 90 Tagessätzen hätte gelangen können. Vor diesem Hintergrund bedurfte es keiner gesonderten Entscheidung über die angemessene Strafe nach § 354 Abs. 1a StPO.

(2) Soweit mit der Revision vorgetragen wird, das Tatgericht habe im Rahmen der Strafzumessung zu § 185 StGB rechtsfehlerhaft zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass er durch sein beleidigendes Verhalten auch den Ersthelfer gestört habe, stellt dies keine unzulässige Doppelverwertung dar. Denn die Beleidigung richtete sich gegen den Zeugen L und nicht gegen die – bereits durch § 115 Abs. 3 StGB geschützten – Rettungssanitäter.

(3) Ebenso wenig liegt ein sachlich rechtlicher Mangel darin, dass das Tatgericht im Rahmen der Strafzumessung zu § 164 StGB nicht berücksichtigt hat, dass der Angeklagte von dem Zeugen O, den er später der Beleidigung bezichtigte, provoziert worden sein könnte. Die vom Amtsgericht diesbezüglich festgestellten Worte des Zeugen O („Haben Sie sie noch alle? Fahren Sie weiter“) stellt ersichtlich eine von der Hektik getragene Spontanäußerung des Zeugen dar, die den Angeklagten, der bis dahin bereits durch sein Verhalten die Durchfahrt des Rettungswagens behindert hatte, nachdrücklich zur Ordnung und Besinnung rufen sollte. Insbesondere in der bereits stark emotional geprägten Situation konnte die vorbeschriebene Äußerung vernünftigerweise nicht als Kränkung oder Provokation gewertet werden und musste daher vom Tatrichter auch nicht strafmildernd berücksichtigt werden. Hierbei hat der Senat auch bedacht, dass zwischen der Äußerung des Polizeibeamten und der Falschverdächtigung durch den Angeklagten ein nicht unerheblicher Zeitraum lag, so dass jedenfalls ein zu berücksichtigender Provokationszusammenhang nicht mehr angenommen werden kann.“

StGB II: (Kurze) Behinderung von Hilfsleistenden, oder: Bei schweren Verletzungen genügt bereits eine Minute

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Im zweiten Posting komme ich dann noch einmal auf einen Beschluss des OLG zurück, den ich bereits einmal vorgestellt habe, und zwar den OLG Hamm, Beschl. v. 10.03.2022 – 4 RVs 2/22  (vgl. hier: Auto I: Viermonatiges StGB-Fahrverbot als Nebenstrafe, oder: Auch noch nach Zeitablauf von zwei Jahren?). 

In dem heutigen Posting geht es um die „materielle Frage“, und zwar: Das AG hat den Angeklagten u.a. verurteilt wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen. Bei einem Unfall war eine ältere Radfahrerin gestürzt und hatte sich verletzt. Ein Ersthelfer sowie Polizeibeamte stellten ihre Fahrzeuge so ab, dass zwischen den Fahrzeugen eine hinreichende Lücke bestand, durch die der Verkehr hindurchfließen konnte. Gleichwohl kam es zu kleinen Rückstaus. Den sich mit seinem Kfz nähernden Angeklagten störte offensichtlich das Fahrzeug des Ersthelfers. Er fuhr neben dieses Fahrzeug und hielt an. Hierdurch kam es in allen Richtungen zu einem weiteren Rückstau. Dem nunmehr am Unfallort eintreffenden Rettungswagen war die Zufahrt zum Opfer versperrt. Der Angeklagte beschwerte sich darüber, dass am rechten Fahrbahnrand das Fahrzeug des Ersthelfers abgestellt sei und verlangte, dass es weggefahren werde. Erst nach mehreren Aufforderungen fuhr er langsam an dem Fahrzeug des Ersthelfers vorbei und hielt davor an. Das Rettungsfahrzeug musste wegen des Fahrzeugs des Angeklagten abgebremst und zum Stillstand gebracht werden. Nachdem der Angeklagte den Weg mit seinem Fahrzeug freigemacht hatte, fuhr der Rettungswagen an, musste jedoch sofort wieder stoppen, da der Angeklagte nunmehr die Fahrertür öffnete, um aus dem Fahrzeug auszusteigen. Der Angeklagte schloss die Fahrertür nach Betätigung des Martinshorns des Rettungswagens, so dass der Rettungswagen zu der verletzten Frau vorfahren konnte. Nach Überzeugung des AG verzögerte der Angeklagte die Ankunft der Rettungskräfte so um mindestens eine Minute.

Die Sprungrevision des Angeklagten ist beim OLG erfolglos geblieben:

“ 2. Die vom Angeklagten erhobene Sachrüge hat keinen Erfolg.

a) Die Verurteilung wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, in Tatmehrheit mit Beleidigung und in Tatmehrheit mit falscher Verdächtigung hält einer sachlichrechtlichen Nachprüfung stand.

Die Feststellungen des Amtsgerichts tragen entgegen der von der Revision vertretenen Ansicht insbesondere auch die Verurteilung des Angeklagten wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, §§ 115 Abs. 3, 113 StGB.

Der Sturz der Radfahrerin war ein Unglücksfall. Die Radfahrerin hat infolge der bei dem Sturz erlittenen Verletzungen stark am Kopf geblutet und musste notärztlich versorgt werden. Die Besatzung des herannahenden Rettungswagens zählte zu den Hilfeleistenden eines Rettungsdienstes. Denn bereits das Hinbewegen der Hilfeleistenden zum Ort der Gefahr ist Teil der Hilfeleistung dazu (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 115 Rn. 8; MüKo /Bosch, StGB, 4. Aufl., § 115 Rn. 11). Der Angeklagte hat diese mit Gewalt behindert. Behindern ist das Erschweren des Hilfeleistens in jeder Form. Der Gewaltbegriff in § 115 StGB entspricht jenem in § 240 StGB und § 113 StGB. Daher genügt auch die Gewalt gegen Sachen, wenn sie sich – wie im vorliegenden Fall – mittelbar physisch auf die Person des Genötigten auswirkt, dieser also einem körperlich vermittelten Zwang unterliegt (vgl. Schönke/Schröder/Eser, StGB, 30. Aufl., § 113 Rn. 44). Gewalt liegt zudem schon dann vor, wenn nur der Weg zum Unfallort versperrt wird oder wenn die Hilfeleistenden einen nicht unerheblichen Umweg nehmen müssen (vgl. Fischer, a.a.O., § 115 Rn. 10). So ist es hier, weil der Angeklagte ausweislich der getroffenen Feststellungen zum einen mit seinem Fahrzeug den Engpass zwischen den bereits abgestellten Fahrzeugen blockiert und zum anderen durch das nachfolgende Öffnen der Autotür die Weiterfahrt des Rettungswagens zum Unglücksort verhindert hat. Für die Tatbestandsverwirklichung ist unerheblich, dass der Angeklagte den Rettungsweg letztlich doch noch frei gegeben hat. Denn § 115 Abs. 3 StGB setzt eine endgültige oder auch zeitweise gänzliche Verhinderung der Hilfeleistung nicht voraus. Es genügt eine nicht ganz unerhebliche Erschwernis, die gerade auf den spezifischen Wirkungen des eingesetzten Tatmittels zurückzuführen ist (so Fischer, a.a.O., § 115 Rn. 10). Ausweislich der Beweiswürdigung des Tatrichters hat der Zeuge P, der Fahrer des Rettungswagens, bekundet, die durch den Angeklagten verursachte Verzögerung habe „mindestens eine Minute“ gedauert. Aufgrund der eingehenden Würdigung der Zeugenaussage, die das Amtsgericht als plausibel und insgesamt glaubhaft eingestuft hat, kann diese Zeitangabe als Feststellung zur Sache gewertet und der rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt werden. Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob eine solche 1-minütige Verzögerung grundsätzlich als ausreichend anzusehen ist. Im vorliegenden Fall reicht sie unzweifelhaft aus, um von einer tatbestandsmäßigen Behinderung im Sinne des § 115 Abs. 3 StGB auszugehen. Denn gerade im vorliegenden Fall eines schwerwiegenden Verkehrsunfalls – das Opfer hatte eine stark blutende Kopfverletzung erlitten – können bereits denkbar geringfügige Verzögerungen von Rettungsmaßnahmen um nur wenige Sekunden schwerwiegende Folgen bis hin zum Tod des Opfers nach sich ziehen. Dem Urteil des Amtsgerichts ist ebenfalls zu entnehmen, dass dem Angeklagten die Schwere des Unglücksfalls bewusst gewesen ist. Ausweislich einer – wiederum im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung – getroffenen Feststellung hatte der Angeklagte einen freien Blick auf das stark blutende Unfallopfer, deren Kopf der Zeuge L auf seinem Schoß gehalten hat. Vor diesem Hintergrund ist das Amtsgericht mit Recht davon ausgegangen, dass der Angeklagte hinsichtlich einer erheblichen Behinderung der Rettungskräfte, die er als solche erkannt hatte, zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt hat. Auf Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe kann er sich ohnehin nicht berufen.“

Fahrerlaubnis I: Entziehung der FE nach „Unfallflucht“, oder: Wertgrenze für den „bedeutenden Schaden“

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Den Tag heute widme 🙂 ich dann Entscheidungen zur Fahrerlaubnis/zum Fahrverbot.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 05.04.2022 – 5 RVs 31/22. Ergangen in einer Verkehrsstrafsache, in der das LG in der Berufung betreffend eine Verurteilung wegen „Verkehrsunfallflucht“, die Fahrerlaubnis entzogen und zugleich eine Sperre für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis von sechs Monaten angeordnet hat. Hinsichtlich des Entzugs der Fahrerlaubnis ist das Landgericht davon ausgegangen, dass das Regelbeispiel des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB erfüllt sei, da an dem geschädigten Fahrzeug ein Schaden von bedeutendem Wert entstanden sei. Diesbezüglich hat das LG festgestellt, dass sich der vordere Stoßfänger des Fahrzeugs des Angeklagten und das Heck des Geschädigtenfahrzeugs beim Ausrangieren aus einer Parklücke ineinander verhakten und sich der Sachschaden an dem zuvor unbeschädigten Fahrzeug eines Zeugen A auf 1.768,86 EUR belaufe. Seine Überzeugungsbildung hat das LG auf den in der Hauptverhandlung verlesenen Kostenvoranschlag gestützt.

Das OLG hat den Rechtsfolgenausspruch aufgehoben:

„2. Der Rechtsfolgenausspruch kann bezüglich des unerlaubten Entfernens vom Unfallort hingegen insgesamt keinen Bestand haben, da die Urteilsfeststellungen zur Schadenshöhe an einem Darlegungsmangel leiden.

Gemäß § 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 StGB liegt ein Regelfall der Fahrerlaubnisentziehung wegen charakterlicher Ungeeignetheit vor, wenn der Täter eines unerlaubten Entfernens vom Unfallort im Sinne von § 142 StGB weiß oder wissen kann, dass durch den Unfall an fremden Sachen bedeutender Schaden entstanden ist.

a) Ob ein bedeutender Schaden vorliegt, beurteilt sich nach der Höhe des Betrages, um den das Vermögen des Geschädigten als direkte Folge des Unfalls vermindert wird (KG Berlin, Beschluss vom 03.08.2021 – (3) 121 Ss 60/21 (32/21) -, Rn. 22 – 24, juris m.w.N.). Da bei der Bemessung dieser Schadensgrenze nur diejenigen Schadenspositionen berücksichtigungsfähig sind, die zivilrechtlich erstattungsfähig sind, muss das Tatgericht jedenfalls bei Unfallgeschehen, bei denen – wie hier – nicht bereits von vornherein ersichtlich ist, dass ein bedeutender Schaden entstanden ist (KG Berlin, Beschluss vom 03.08.2021 – (3) 121 Ss 60/21 (32/21) -, Rn. 22 – 24, juris m.w.N.), nicht nur mitteilen, welche unfallbedingten Fremdschäden entstanden sind, sondern auch, wie diese wertmäßig zu beziffern sind. Dies kann regelmäßig etwa durch (gedrängte) Wiedergabe eines entsprechenden schriftlichen Kfz-Sachverständigengutachtens geschehen (KG Berlin, Beschluss vom 03.08.2021 – (3) 121 Ss 60/21 (32/21) -, Rn. 22 – 24, juris m.w.N.).

Den vorbeschriebenen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Landgericht teilt lediglich mit, dass sich das Fahrzeug des Angeklagten im Bereich des vorderen Stoßfängers mit dem Heck des geschädigten Fahrzeugs verhakte und hierdurch ein Sachschaden in Höhe von 1.768,85 EUR entstand. Diese Schadenssumme liegt nur geringfügig über der für den Schadensbetrag maßgeblichen Grenze, die im Hinblick auf die allgemeine Preissteigerung jedenfalls nicht unter 1.500 EUR anzusetzen ist (im Jahr 2014 noch für 1.300 EUR: OLG Hamm Beschluss vom 6.11.2014 – 5 RVs 98/14, BeckRS 2015, 921 Rn. 21, beck-online). Da sich bei einem derartigen Unfallgeschehen ein bedeutender Fremdschaden nicht aufdrängt, hätte es daher einer (gedrängten) Darstellung der in Ansatz gebrachten Kostenpositionen zumindest auf Basis eines aussagekräftigen Kostenvoranschlags bedurft, um den Senat in die Lage zu versetzen, die Erstattungsfähigkeit der Kosten bzw. ihre Berücksichtigungsfähigkeit im Rahmen der Bewertung des bedeutenden Schadens (also z.B. nicht: Mietwagenkosten, vgl. Fischer, 69. Aufl. 2022, § 69 StGB Rn.27) zu überprüfen.“