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Bewährung II: Widerruf wegen fehlenden Kontakts zum Bewährungshelfer, oder: Helfer namentlich benannt?

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Bei dem zweiten Beschluss handelt es sich heute um den OLG Celle, Beschl. v. 22.06.2021 – 2 Ws 154/21. Der hat in Zusammenhang mit dem Widerruf von mehreren Strafaussetzungen zur Bewährung zwei Aspekte, auf die hinzuweisen ist-

Der eine Aspekt betrifft einen Widerrufsgrund, liegt also auf der sachlichen Ebene. U.a. war widerrufen worden, weil der Verurteilte nicht ausreichend Kontakt zum Bewährungshelfer gehalten hat. Diesen Widerruf hat das OLG beanstandet (in der Sache hat es aber nichts gebracht):

Hinsichtlich der drei übrigen Bewährungsstrafen sind die Voraussetzungen dieses Widerrufsgrundes hingegen nicht erfüllt, weil der Bewährungshelfer in den jeweiligen Bewährungsbeschlüssen nicht ausreichend bestimmt ist.

aa) Die Bestellung eines Bewährungshelfers gemäß § 56d Abs. 4 Satz 1 StGB erfordert, dass das Gericht den Bewährungshelfer namentlich bestellt (Fischer, StGB § 56e Rn. 3; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB § 56d Rn. 10; NK-StGB/Ostendorf, StGB § 56d Rn. 4; Dölling/Duttge/König/Rössner, StGB § 56d Rn. 8; OLG Hamburg, Beschluss vom 11. Februar 2005, 2 Ws 24/05, NStZ-RR 2005, 221; vgl. auch BGH, Beschluss vom 5. 3. 2008, 2 ARs 24/08, NStZ 2008, 472). Dies folgt zum einen daraus, dass der Gesetzeswortlaut auf die Bestellung einer bestimmten Person abstellt, indem er vorsieht, dass „der Bewährungshelfer“ bzw. „die Bewährungshelferin“ vom Gericht bestellt wird (NK-StGB/Ostendorf a. a. O.; vgl. auch MüKoStGB/Groß/Kett-Straub, StGB § 56d Rn. 11). Auch mit der Bestimmung des § 56d Abs. 5 StGB, wonach die Tätigkeit haupt- oder nebenberuflich ausgeübt wird, hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass er von der Bestellung einer einzelnen natürlichen Person zum Bewährungshelfer ausgeht. Zum anderen wird erst durch die Bestellung einer bestimmten Person die Möglichkeit geschaffen, ein persönliches Vertrauensverhältnis zu schaffen, bei dem der Bewährungshelfer dem Betroffenen gemäß § 56d Abs. 3 StGB helfend und betreuend zur Seite stehen kann. Die namentliche Bestellung des Bewährungshelfers stellt insoweit auch sicher, dass das Gericht bestimmte Anweisungen gemäß § 56d Abs. 4 Satz 2 StGB erteilen und eine den Bedürfnissen des Verurteilten entsprechende Auswahl vornehmen kann (vgl. NK-StGB/Ostendorf a. a. O).

Darüber hinaus ist für einen Bewährungswiderruf gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB eine namentliche Bestellung des Bewährungshelfers auch im Hinblick auf das verfassungsrechtlich verankerte Bestimmtheitsgebot erforderlich, das auf den Grundrechten des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG und Art. 104 Abs. 1 GG sowie dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes gründet. Das Bestimmtheitsgebot verlangt in einem Bewährungsverfahren, dass dem Verurteilten bereits mit Erteilung der Weisungen unmissverständlich verdeutlicht wird, was genau von ihm erwartet wird und wann er einen Bewährungswiderruf gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu erwarten hat. Diese bestimmte Formulierung der Weisungen muss durch das Gericht erfolgen und darf nicht dem Bewährungshelfer überlassen werden, weil der Gesetzgeber nur dem Richter die Befugnis eingeräumt hat, dem Verurteilten besondere Pflichten aufzuerlegen (BVerfG, Beschluss vom 24. September 2011, 2 BvR 1165/11, StV 2012, 481; KG, Beschluss vom 30. Oktober 2020, 5 Ws 198-199/20, StV 2021, 380).

In Bezug auf die Unterstellung unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers ist diesem Erfordernis nur genügt, wenn der Bewährungshelfer vom Gericht namentlich benannt wird. Beschränkt sich der Beschluss stattdessen auf einen Verweis auf den „zuständigen“ Bewährungshelfer oder auf den für die Bewährungshilfe abstrakt zuständigen Ambulanten Justizsozialdienst, wird dies den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes nicht gerecht. Denn zum einen wird dem Betroffenen durch derartige Bestimmungen nicht unmissverständlich verdeutlicht, welche Person das Amt des Bewährungshelfers für ihn ausübt. Zum anderen wäre die Bestimmung des Bewährungshelfers dann in unzulässiger Weise vom Gericht auf den Ambulanten Justizsozialdienst übertragen, der durch seine behördeninterne Geschäftsverteilung über die Person des Bewährungshelfers und damit den genauen Inhalt der vom Gericht anzuordnenden Weisung entscheiden würde.

Hieran gemessen genügen nur …..“

Der zweite Aspekt ist ein verfahrensrechtlicher. Die StVK hatte den Verurteilten zum Bewährungswiderruf mittels Videokonferenz angehört, ohne dass das zu dem Zeitpunkt bereits gesetztlich vorgesehen war. Das OLG hat das nicht beanstandet, Denn:

Eine mündliche Anhörung vor einem Bewährungswiderruf kann bereits vor Inkrafttreten von § 463e StPO n. F. mittels Videotelefonie erfolgen, wenn der Betroffene damit einverstanden und eine weitere Sachaufklärung nicht erforderlich ist.

StPO II: Die Wiedereinsetzung von Amts wegen, oder: Wenn die Postlaufzeit zu lang ist

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Die zweite Entscheidung, der OLG Celle, Beschl. v. 09.07.2021 – 2 Ws 194/21 – ist in einer Maßregelvollzugsache ergangen. Das ist aber für die vom OLG u.a. entschiedene „Wiedereinsetzungsfrage“ ohne Bedeutung.

Die Strafvollstreckungskammer hat auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beschlossen. Gegen diesen Beschluss, der dem Verteidiger am 09.06.2021 zugestellt wurde, wendet sich der Untergebrachte mit seiner sofortigen Beschwerde. Das Beschwerdeschreiben weist einen Poststempel vom 15.06.2021 auf und ist am 17.06.2021 beim Landgericht eingegangen.

Das OLG hat von Amts wegen Wiedereinsetzung gewährt:

„1. Dem Verurteilten war gemäß §§ 44, 45 Abs. 2 S. 3 StPO von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist zu gewähren, weil sich aus den Akten ergibt, dass ihn an der Versäumung der Begründungsfrist kein Verschulden trifft.

Der Senat schließt sich der verbreiteten obergerichtlichen Rechtsprechung an, wonach ein Rechtsmittelführer darauf vertrauen darf, dass bei einer Aufgabe der Rechtsmittelschrift zur Post die seitens der Deutschen Post AG für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 2020, IX ZA 4/20, juris; BGH, Beschluss vom 20. Mai 2009, NJW 2009, 2379; OLG Oldenburg, Beschluss vom 16. September 2013, NStZ-RR 2014, 113; OLG Hamm, Beschluss vom 17. Februar 2009, NJW 2009, 2230). Beim Versand eines einfachen Briefes darf er davon ausgehen, dass dieser bereits einen Werktag nach der Einlieferung beim Empfänger eingeht. Denn dies entspricht nicht nur den üblichen Laufzeiten nach § 2 Nr. 3 Post-Universaldienstleistungsverordnung, wonach im Jahresdurchschnitt mindestens 80 Prozent der Briefsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden müssen, sondern auch den Angaben der Deutschen Post AG auf ihrer Internetseite, wonach die Betriebsprozesse darauf ausgelegt sind, rund 90 % aller nationalen Briefsendungen bereits einen Werktag nach der Einlieferung beim Empfänger auszuliefern.

Der Untergebrachte durfte deshalb darauf vertrauen, dass sein (spätestens) am 15. Juni 2021 zur Post gegebener Brief am 16. Juni 2021 und damit innerhalb der Beschwerdefrist beim Landgericht eingehen würde.“

Auf die anderen vom OLG angesprochenen materiellen Fragen komme ich zurück.

Corona II: Testpflicht für alle vor der Zutritt zur HV, oder: Geht das OLG Celle damit nicht zu weit?

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Und als zweite Entscheidung dann der OLG Celle, Beschl. v. 02.08.2021 – 2 Ws 230/21 u. 2 Ws 234/21. Es geht um die Rechtsmäßigkeit einer Sicherungsverfügung. Die Vorsitzende einer Jugendkammer des LG Hannover hatte für die am 12. August 2021 beginnende Hauptverhandlung eine Sicherheitsverfügung erlassen, wonach Verfahrensbeteiligte, Zeugen und Zuschauer nur mit negativem Coronatest in den Saal einzulassen sind und für den Nachweis ein tagesaktueller Schnelltest in einem Testzentrum oder der Teststation des LG erforderlich ist. Dagegen wenden sich die Verteidiger der Beschuldigten. Sie hatten beim OLG keinen Erfolg:

„2. In der Sache sind die Beschwerden unbegründet. Die Verweigerung des Zutritts zum Sitzungssaal für nicht oder negativ getestete Personen ist von der Ermächtigung des Vorsitzenden zur Ausübung der Sitzungspolizei gemäß § 176 Abs. 1 GVG gedeckt und beruht auf einer fehlerfreien Ausübung des — weitreichenden — Ermessens der Vorsitzenden.

a) Die Regelung des § 176 Abs. 1 GVG ermächtigt — als „sitzungspolizeiliche Generalklausel“ (BVerfG, Beschluss vom 27. Juni 2006, 2 BVR 677/05, juris) — zu allen Maßnahmen, die erforderlich sind, um den ungestörten und gesetzesmäßigen Ablauf der Sitzung zu gewährleisten (Kissel/Mayer, GVG § 176 Rn. 13; KK-StPO/Diemer, GVG § 176 Rn. 1; Löwe-Rosenberg/Wickern, GVG § 176 Rn. 1). Dazu gehören auch Maßnahmen zum Schutz der Verfahrensbeteiligten (Kissel/Mayer, GVG § 176 Rn. 13; KK-StPO/Diemer, GVG § 176 Rn. 1.; MüKoStPO/Kulhanek, GVG § 176 Rn. 1). Die Ermächtigung erstreckt sich deshalb auch auf Maßnahmen zur Verhinderung einer Ansteckung mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (OLG Celle, Beschluss vom 15. April 2021, NdsRpfl 2021, 251; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 28. September 2020, 1 BvR 1948/20, juris).

Als förmliches Gesetz ermächtigt § 176 Abs. 1 GVG auch zu Eingriffen in die Berufsausübungsfreiheit der Beschwerdeführer (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG). Dasselbe gilt —vorbehaltlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung – grundsätzlich auch für etwaige Eingriffe in deren Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, denn auch dieses steht gemäß Art. 2 Absatz 2 Satz 3 GG unter einem Gesetzesvorbehalt. Dem steht hinsichtlich der hier zur Prüfung stehenden Zugangsbeschränkung für ungetestete Personen auch nicht der verfassungsrechtliche Wesentlichkeitsgrundsatz entgegen, wonach der Gesetzgeber in allen grundlegenden normativen Bereichen die Ermächtigungsgrundlagen so konkret auszugestalten hat, dass er in Form konkreter gesetzliche Regelungen die wesentlichen Entscheidungen selbst trifft (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 19. September 2018, BVerfGE 150, 1). Denn unabhängig davon. dass eine Testung nicht mit wesentlichen Grundrechtseingriffen verbunden ist (vgl. dazu unten), ist es insbesondere für vielgestaltige, komplexe und schwer vorhersehbare Regelungsmaterien zulässig. dass der Gesetzgeber dem Rechtsanwendungsorgan durch unbestimmte Rechtsbegriffe und Einräumung von Ermessen einen größeren Handlungsspielraum überlässt (BVerfG a. a. 0). Der Sinn von Generalklauseln kann dann gerade darin bestehen, auf schwer vorhersehbare und nicht typisierbare Situationen reagieren zu können (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 24. November 2020, 1 B 362/20, juris). Dies gilt ebenfalls für die Ausübung der Sitzungspolizei, die notwendigerweise vielgestaltige und nicht abschließend katalogisierbare Situationen zum Gegenstand hat (vgl. Kissel/Mayer, GVG § 176 Rn. 13; KK-StPO/Diemer, GVG § 176 Rn. 1). Im Rahmen der dynamischen Entwicklung der Covid-19-Pandemie und der staatlichen Strategien zur Pandemiebekämpfung ist die Testung von Verfahrensbeteiligten bislang auch nicht zu einem gängigen Instrument der Sitzungspolizei geworden, das im Sinne einer vorhersehbaren Standardmaßnahme eine Konkretisierung durch den Gesetzgeber nahe legen oder erforderlich machen würde.

b) Die auf der Grundlage von § 176 Abs. 1 GVG getroffene Sicherungsverfügung ist nicht zu beanstanden.

aa) § 176 GVG ermächtigt den Vorsitzenden zu den nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlichen Maßnahmen. Dem Vorsitzenden kommt danach ein weiter Ermessensspielraum zu; das Ermessen des Vorsitzenden bezieht sich sowohl auf die Frage, ob überhaupt eingeschritten wird, als auch darauf. in welcher Weise auf eine drohende Störung unter Abwägung der von der Anordnung betroffenen Rechtsgüter unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu reagieren ist (OLG Celle, Beschluss vom 15. April 2021, NdsRpfl 2021, 251; BeckOK-GVG/Allgayer, § 176 Rn. 4). Im Beschwerdeverfahren unterliegt diese Entscheidung nur der Prüfung, ob der Vorsitzende sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt und den Zweck sowie die Grenzen seines Ermessens beachtet hat; die Beurteilung der Zweckmäßigkeit sitzungspolizeilicher Maßnahmen ist dem Beschwerdegericht hingegen verwehrt (OLG Celle, Beschluss vom 15. April 2021, NdsRpfl 2015, 378; OLG Stuttgart, Beschluss vom 29. Juni 2011, NJW 2011, 2899).

Hieran gemessen hält die Sicherungsverfügung vom 9. Juli 2021 der Nachprüfung stand.

bb) Es begegnet keinen Bedenken, dass die Vorsitzende eine Testung der Verfahrensbeteiligten zumindest mit einem Antigentest für geeignet hält, um das Risiko einer Ansteckung mit dem Cornavirus SARS-Cov-2 während der Sitzung zu reduzieren. Dies entspricht der Einschätzung des Robert Koch-Instituts, wonach Antigentests als ergänzendes Instrument der Pandemiebekämpfung dazu beitragen können, Infizierte auch ohne Krankheitssymptome zu erkennen und zu isolieren (Epidemologisches Bulletin 17/2021, S. 14 ff.).

Entgegen dem – nicht auf Belege gestützten – Beschwerdevorbringen ist auch nicht ersichtlich. dass ein Schnelltest schon medizinisch keinen Sinn machen würde‘, weil er bei vollständig geimpften Personen infolge einer geringeren Viruslast „in der Regel immer negativ-ausfalle. Dem Beschwerdeführer ist zuzugeben, dass diese Annahme zumindest in der Vergangenheit vereinzelt öffentlich verbreitet worden ist (vgl. www.twitter.com/Karl_Lauterbach unter dem 4. Mai 2021). Das Robert Koch-Institut geht jedoch auch gegenwärtig davon aus, dass ein Antigentest bei einer geimpften Person positiv ausfallen kann, weil trotz Impfung eine Infektion mit dem Virus und eine Weiterübertragung möglich sind (www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html [unter:, Hat die Impfung gegen COVID-19 einen Einfluss auf das Ergebnis von Antigen- und PCR-Testungen?‘ und ,Können Personen, die vollständig geimpft sind, das Virus weiterhin übertragen?‘]). Das Robert Koch-Institut empfiehlt deshalb beispielsweise als Vorbereitung für den Herbst und Winter eine systematische Testung von Pflegepersonal auch weiterhin unter Einsatz von Antigentests(www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Downloads/Vorbereitung-Herbst-VVinter.pdf? blob=publicationFile , Seite 4). Im Einklang damit steht, dass von verschiedenen Sachverständigen vollständig geimpften Personen geraten wird, sich vor Treffen mit ungeimpften Personen mittels Schnelltest zu testen (dpa vom 22. Juli 2021 unter www.zeit.de/news/2021-07/22/ich-bin-geimpft-was-gibt-es-fuer-mich-dennoch-zu-beachten; Redaktionsnetzwerk Deutschland vom 23. Juli 2021 unter www.rnd.de/gesundheit/corona-schnelltest-bei-delta-variante-noch-sinnvoll-was-gilt-bei-geimpften-6GZUQKMZY5FBBF7K42FGAKFZHM.html).

Die Annahmen der Beschwerdeführer zu einer geringen Viruslast infizierter geimpfter Personen begegnet zudem auch deshalb Zweifeln, weil die Viruslast bei Infektionen mit der mittlerweile vorherrschenden Delta-Variante des Virus aktuellen Erkenntnissen zufolge um ein Vielfaches höher ist als bei früheren Varianten (Tagesschau vom 31. Juli 2021 unter vvww.tagesschau.de/ausland/amerika/cdc-corona-geimpfite-101.html; Spiegel Online vom 29. Juli 2021 unter www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/corona-was-sich-durch-delta-auch-fuer-geimpfte-aendert-a-50305753-9c97-4c44-ba91-11cae40eebd4).

cc) Keiner Beanstandung unterliegt auch die Annahme der Vorsitzenden, dass ihr keine milderen Maßnahmen zur Verfügung stehen, die das Ansteckungsrisiko ebenso wirksam wie eine Testung reduzieren könnten. Aus dem Nichtabhilfebeschluss ergibt sich, dass die Testung der Sitzungsteilnehmer ergänzend zu anderen Infektionsschutzmaßnahmen wie dem Tragen von Mund-Nasen-Schutz. regelmäßigem Lüften, Abstandhalten und dem Aufstellen von Plexiglasscheiben angewendet werden soll. Die in Betracht kommenden Maßnahmen sind demnach bereits ausgeschöpft, so dass zur weiteren Reduzierung des Ansteckungsrisikos nur noch die Testung der Sitzungsteilnehmer verbleibt.

dd) Im Rahmen ihrer Ermessenausübung ist die Vorsitzende auch rechtsfehlerfrei davon ausgegangen. dass die Zutrittsbeschränkung verhältnismäßig im engeren Sinne, also angemessen ist.

Der Abwägung liegt — wie sich aus der Nichtabhilfeentscheidung ergibt — die Erwägung zu Grunde, dass die Durchführung von Antigentests einen allenfalls geringen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Sitzungsteilnehmer bewirken würde. da sie weder gesundheitsgefährdend sind noch körperliche Schmerzen oder diesen gleichkommende nichtkörperliche Beeinträchtigungen hervorrufen. Diese zutreffende Annahme stützt sich zu Recht auf die im Nichtabhilfebeschluss angeführte obergerichtliche Rechtsprechung zu Selbsttests in Schulen (Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 19. April 2021, 13 MN 192/21, juris; vgl. auch OVG Hamburg, Beschluss vom 21. Juni 2021, 1 Bs 114/21, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. April 2021, 13 B 559/21, juris). Sie ist ebenso gültig für die Durchführung der Antigentests in der Teststation des Landgerichts Hannover, zumal bei den Sitzungsteilnehmern eine noch sachgerechtere Handhabung der Tests als beim Einsatz durch Schüler gewährleistet ist. Dem Senat ist bekannt, dass die Testung im Landgericht Hannover ebenfalls in Form von beaufsichtigten Selbsttests erfolgt und nicht etwa in der (eingriffsintensiveren) Form, dass die Testabstriche durch eine andere Person abgenommen werden.

Dieser eher geringen Beeinträchtigung der Sitzungsteilnehmer hat die Vorsitzende ermessensfehlerfrei die Gefahr einer Covid-19-Infektion gegenübergestellt und das Infektionsschutzinteresse für überwiegend erachtet. Ausweislich der Nichtabhilfeentscheidung hat sie dabei nicht verkannt, dass das Risiko einer Virusübertragung bei geimpften Personen stark vermindert ist, die weiteren Hygienemaßnahmen während der Sitzungen ebenfalls einen Schutz bieten und die Aussagekraft von Antigen-Schnelltests eingeschränkt ist. Rechtlich begegnet es keinen Bedenken, dass die Vorsitzende diesen Umständen bei ihrer Abwägung letztlich weniger Gewicht beigemessen hat als den risikoerhöhenden und für eine Testung sprechenden Umständen, insbesondere der Vielzahl an Sitzungsteilnehmern, der langen Dauer der Sitzungen, dem steigenden lnzidenzwert in Hannover, der Verbreitung der Delta-Variante des Virus und der noch vergleichsweise geringen Impfquote.

Diese Gesichtspunkte rechtfertigen es, die Maßnahme als angemessen anzusehen. Denn unter den gegebenen Umständen ist die Hauptverhandlung als Zusammenkunft einer Vielzahl von Personen in einem geschlossenen Raum zwangsläufig mit einem vergleichsweise hohen Infektionsrisiko verbunden. Für die Schaffung eines hohen Schutzniveaus spricht dabei auch, dass alle Verfahrensbeteiligten zur Teilnahme an der Hauptverhandlung verpflichtet sind und wenig Möglichkeiten haben, selbst auf die Hygienemaßnahmen in der Sitzung Einfluss zu nehmen. Die Vorsitzende war deshalb bei der Ausübung ihres Ermessens zwar nicht verpflichtet, aber berechtigt, die angefochtene Anordnung zu treffen.

Da die eher geringe Quote an vollständig geimpften Personen noch auf der bis vor kurzem andauernden Impfstoffknappheit beruht, kommt es für die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme derzeit nicht auf die Frage an, inwieweit möglicherweise dem Schutz ungeimpfter Verfahrensbeteiligter unter dem Gesichtspunkt einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung weniger Gewicht beizumessen wäre oder auch ein relevantes Risiko von „Impfdurchbrüchen“ die Anordnung rechtfertigen könnte.

ee) Es begegnet ferner keinen rechtlichen Bedenken, dass die Sicherungsverfügung von § 5a Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung und § 3 der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung abweicht, die in ihrem Anwendungsbereich jeweils eine Gleichstellung von geimpften Personen mit getesteten Personen vorsehen. Denn die Sicherungsverfügung stützt sich nicht auf die Niedersächsische Corona-Verordnung oder das Infektionsschutzgesetz und unterfällt deshalb bereits nicht den entsprechenden Regelungen. Ein allgemeines Verbot, den Zutritt zu Gebäuden oder Veranstaltungen auch für geimpfte Personen vom Vorliegen eines negativen Testes abhängig zu machen, lässt sich diesen Vorschriften weder unmittelbar noch in erweiternder Auslegung entnehmend. Dagegen spricht insbesondere, dass den Vorschriften allgemeine Interessenabwägungen der Verordnungsgeber zu Grunde liegen, die von der Risikoabwägung in konkreten Einzelfällen vielfach abweichen können. So haben etwa auch private Diskothekenbetreiber in Hannover im Rahmen ihrer Hygienekonzepte zuletzt von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, über die Vorgaben der Niedersächsischen Corona-Verordnung hinaus auch von geimpften Personen vor einem Einlass den Nachweis eines negativen Tests zu verlangen (Hannoversche Allgemeine am 25. Juli 2021 unter www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Letzte-Partynacht-in-Hannover-wegen-steigender-Inzidenz-Feiernde-stroemen-in-Discos-und-Clubs). Für sitzungspolizeiliche Anordnungen bilden die allgemeinen Erwägungen der Verordnungsgeber ferner deshalb keinen Maßstab. weil das Infektionsschutzgesetz und die Corona-Verordnung für ihren Regelungsbereich auch die schützenswerten wirtschaftlichen Interessen von Einrichtungen und Veranstaltern an einem möglichst ungehinderten Besucher- und Kundenverkehr berücksichtigen und gegen den Infektionsschutz abwägen müssen. Im Rahmen der Sitzungspolizei sind solche ökonomischen Interessen hingegen nicht berührt. Die Sicherungsverfügung stützt sich deshalb zu Recht maßgeblich auf Gesichtspunkte des Infektionsschutzes und die Umstände der betroffenen Hauptverhandlung.“

Mich überrascht die Entscheidung des OLG Celle nach dem OLG Celle, Beschl. v. 15.04.2021 – 3 Ws 91/21 (dazu: Corona II: Wenn der Verteidiger in der HV keine Maske tragen will, oder: Trennung, Aussetzung, Kostentragung). Ich habe allerdings Zweifel, ob das so richtig ist, wie das OLG hier entschieden hat. Testpflicht für alle – also Verfahrensbeteiligte, Zeugen und Zuschauer – unabhängig von irgendwelchen Inzidenzen? Da habe ich so meinen Zweifel. Denn warum wird denn die Testpflicht in anderen Bereichen von der Inzidenz abhängig gemacht?

JGG II: Wenn der JGH-Bericht nicht im Urteil auftaucht, oder: Sachrüge oder Verfahrensrüge?

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Die zweite Entscheidung des Tages stammt vom OLG Celle. Das hat im OLG Celle, Beschl. v. 28.05.2021 – 2 Ss 38/21 – zur Frage Stellung genommen, ob es einen sachlich-rechtlichen Mangel des Urteils darstellt, wenn in den Urteilsgründen die  Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe nicht mitgeteilt wird. Falls ja, müsste das ggf. auf die Sachrüge hin beachtet werden, falls nicht, müsste ggf. eine Verfahrensrüge erhoben werden. Das OLG hat die Frage verneint:

„Der Erörterung bedarf insoweit lediglich folgendes: Ob bei der Verurteilung eines Heranwach-senden Jugendrecht anzuwenden ist, weil er – wie im vorliegenden Fall vom Landgericht angenommen – zum Tatzeitpunkt noch einem Jugendlichen gleichstand, ist im Wesentlichen Tatfrage. Dem Jugendgericht steht bei der Beurteilung der Reife des Heranwachsenden grundsätzlich ein erheblicher Ermessensspielraum zu (BGH, Urt. v. 09.08.2001 – 1 StR 211/11 – juris; OLG Celle, Beschl. v. 26.06.2012 – 32 Ss 78/12 – juris). Um dem Revisionsgericht die Überprüfung der getroffenen Entscheidung zu ermöglichen, müssen die für die Entwicklung des Heranwach-senden maßgeblichen tatsächlichen Umstände und die hieraus gezogenen rechtlichen Schluss-folgerungen dargelegt und in einer Gesamtschau gewürdigt werden (Senat, Beschluss vom 20. September 2019, Az.: 2 Ss 112/19). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil ge-recht, wenngleich es an der Mitteilung des Inhalts der Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe in der Berufungsverhandlung fehlt. Letzterer Umstand und seine rechtlichen Folgen werden von der Rechtsprechung unterschiedlich bewertet. Teilweise wird die fehlende Mitteilung bereits auf die allgemeine Sachrüge hin berücksichtigt (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2011 – 5 StR 35/11 –, juris; KG Berlin, Beschluss vom 23. August 2012 – (4) 121 Ss 170/12 (202/12) -, juris). Allerdings handelte es sich in den diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Fällen um mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbare Sachverhalte: Bei der angeführten Entscheidung des Bundesgerichtshofs war in den Gründen des angefochtenen Urteils lediglich ausgeführt worden, dass die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe in der Hauptverhandlung zur Frage etwaiger Reifeverzögerungen des Angeklagten eine von der Beurteilung des Tatgerichts abweichende Einschätzung abgegeben hatte, ohne dass den Urteilsgründen die von ihr vorgetragenen Argumente und eine Auseinandersetzung mit diesen zu entnehmen war. In der zitierten Entscheidung des Kammergerichts waren in dem zugrundeliegenden Urteil keine ausreichenden Feststellungen zur Entwicklung des Angeklagten getroffen worden, was als sachlich-rechtlicher Mangel gewertet wurde. Für die Annahme solcher Mängel der vorgenannten Art ist vorliegend indes angesichts der umfassenden Darlegung und sorgfältigen Würdigung der von der Jugendkammer zur Begründung der Anwendung von Jugendrecht auf den Angeklagten angeführten Gesichtspunkte sowie mangels Anhaltspunkten für gegenteilige Erkenntnisse oder Ausführungen der Jugendgerichtshilfe kein Raum gegeben.

In Fällen der vorliegenden Art, in denen in den Gründen des angefochtenen Urteils die für die Beurteilung des Vorliegens von Reifeverzögerungen maßgeblichen tatsächlichen Umstände der Entwicklung des Angeklagten sowie die hieran anknüpfenden rechtlichen Erwägungen des Tatgerichts dargelegt worden sind und es lediglich an der Mitteilung der Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe fehlt, ist die unterbliebene Mitteilung nicht als sachlich-rechtlicher Mangel an-gesehen worden (vgl. BGH, NStZ-RR 1999, 26; OLG Hamm, Beschl. v. 25.11.2004 – 2 Ss 413/04 –, juris). Es handele sich vielmehr um einen Verfahrensmangel, der nur mit einer den Anforderungen von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge der Verletzung der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO geltend gemacht werden könne (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 01. Juli 1998 – 1 StR 182/98, NStZ-RR 1999, 26; OLG Hamm, Be-schluss vom 25. November 2004 – 2 Ss 413/04 -, juris). Dies wird mit dem allgemein geltenden Grundsatz begründet, dass allein die fehlende Erwähnung eines erhobenen Beweises nicht belege, dass das Ergebnis dieser Beweiserhebung nicht in die Überzeugungsbildung eingeflossen sei, was für die Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe in der Hauptverhandlung entsprechend gelte (vgl. BGH aaO). Dieser Auffassung schließt sich der Senat an. Eine entsprechende Verfahrensrüge ist im vorliegenden Fall durch den Angeklagten nicht erhoben worden.“

U-Haft III: Höchstdauer der U-Haft bei Wiederholungsgefahr, oder: An StA gebundene Außervollzugsetzung?

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Im dritten Haftposting dann noch zwei Entscheidungen des OLG Celle zu Verfahrensfragen in Zusammenhang mit der U-Haft.

Im OLG Celle, Beschl. v. 25.05.2021 – 2 Ws 150/21 u.a. – geht es um die Höchstdauer der U-Haft bei der sog. Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO). Die darf nach § 122a StPO nicht mehr als ein Jahr dauern. Dazu meint das OLG, dass diese Frist während der Hauptverhandlung ruht:

„Der letztgenannten Auffassung schließt sich der Senat an. Wie bereits das Landgericht in dem Beschluss vom 07.05.2021 ausführt, tritt der Sicherungszweck des Haftgrundes der Wiederholungefahr an die Stelle der Verfahrenssicherung durch die Anordnung von Untersuchungshaft, wenn keine anderen Haftgründe vorliegen. Es handelt sich bei Verfahren, in denen lediglich der subsidiäre Haftgrund der Wiederholungsgefahr gegeben ist, auch in der Regel um Verfahren, die einen besonderen Umfang haben und aufgrund der Begrenzung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr auf Katalogtaten nach § 112a Abs. 1 StPO zumindest mehrere, häufig aber auch eine Vielzahl von schweren Straftaten betreffen. Gerade in diesen Verfahren ist – wie auch im vorliegenden Verfahren- auch bei zügiger Verhandlungsführung ohne Verfahrensverzögerungen eine Verfahrensdauer von mehr als einem Jahr aufgrund der Durchführung einer aufwändigen Beweisaufnahme häufig erforderlich und nicht vermeidbar. Es würde dem Sicherungszweck des Schutzes der Allgemeinheit vor weiteren schweren Straftaten widersprechen, wenn insoweit ein Ruhen des Fristablaufs nach § 121 Abs. 3 StPO nicht eintreten würde. Die Verweisung von § 122a StPO auf § 121 Abs. 1 StPO steht dem nicht entgegen. Denn § 121 Abs. 3 StPO enthält eine Regelung zur Berechnung der Ruhensfrist und hat inhaltlich keinen weiteren Regelungsgehalt, der eine entsprechende Anwendung ausschließen würde. Insoweit nimmt der Verweis auf § 121 Abs. 1 StPO in § 122a StPO die Regelung auch nicht ausdrücklich vom Anwendungsbereich des § 122a StPO aus.“

In der zweiten Entscheidung, dem OLG Celle, Beschl. v. 17.05.2021 – 2 Ws 145/21 – hat das OLG Celle zur Bindungswirkung eines Außervollzugsetzungsantrags der Staatsanwaltschaft, den die im Ermittlungsverfahren gestellt hat – Stellung genommen. Das OLG Hat die Bindungswirkung verneint. Hier der Leitsatz:

Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Ermittlungsverfahren hat keine Bindungswirkung für den Haftrichter. § 120 Abs. 3 StPO ist nicht entsprechend anwendbar.