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OLG Bamberg I: Wir zementieren den Teufelskreis, und/oder: Herr Cierniak kann es auch nicht.

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Vor einigen Tagen hat das OLG Bamberg über seinen Fachpressereferent einige OLG-Beschlüsse zum Straf- und Bußgeldrecht versandt, die man als veröffentlichwürdig ansieht. Darunter waren auch mehrere Entscheidungen zur (Akten)Einsicht in Messdaten pp. im Bußgeldverfahren, so u.a. der OLG Bamberg, Beschl. v. 04.10.2017 – 3 Ss OWi 1232/17. Über den hat der Kollege Gratz ja schon berichtet. Ich habe den Beschluss lieber erst an die Seite gelegt. Ich wollte mich wieder „abregen“, bevor ich ihn hier poste.

Es geht mal wieder um die Frage der Verletzung des Grundsatzes fairen Verfahrens bei verweigerter Beiziehung von nicht bei den Bußgeldakten befindlicher potentieller Beweisunterlagen. Der Klassiker und der Dauerbrenner in der OLG-Rechtsprechung der letzten Zeit. Und ich denke, es wird niemanden überraschen, wenn er bei der Lektüre des Beschlusses feststellt: Das OLG Bamberg hält an seiner (falschen) Rechtsprechung fest und zementiert die. Wie gehabt: Alle anderen haben Unrecht, wir wissen es (besser). Vor allem hat auch Cierniak – immerhin Richter am BGH – Unrecht, der kann es auch nicht. Und: Es gibt natürlich keinen Teufelskreis.

Wer mag, kann den Beschluss lesen. Ich stelle hier nur die amtlichen Leitsätze vor. Wie immer gespickt mit zahlreichen Zitaten/Hinweisen auf andere Entscheidungen, denen man sich anschließt und die die Richtigkeit der eigenen Auffassung schon im Leitsatz untermauern sollen:

1. Die Ablehnung eines Antrags auf Beiziehung von nicht bei den Akten befindlichen Unterlagen (etwa Lebensakte eines Abstands- und Geschwindigkeitsmessgeräts) verletzt nicht den Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK); vielmehr handelt es sich um einen Beweisermittlungsantrag, dessen Ablehnung nur unter Aufklärungsgesichtspunkten (§ 244 Abs. 2 StPO) gerügt werden kann (Anschluss an BVerfG, Beschl. v. 12.01.1983 – 2 BvR 864/81 = BVerfGE 63, 45 = NJW 1983, 1043 = StV 1983, 177 = NStZ 1983, 273 = MDR 1983, 548 = EuGRZ 1983, 196; BGH, Urt. v. 26.05.1981 – 1 StR 48/81 = BGHSt 30, 131 = NJW 1981, 2267 = NStZ 1981, 361 = StV 1981, 500 = MDR 1981, 860 ; Beschl. v. 28.03.2017 – 4 StR 614/16 [bei juris]; entgegen: OLG Oldenburg, Beschl. v. 13.03.2017 – 2 Ss [OWi] 40/17 = ZfS 2017, 469 = NZV 2017, 392; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 08.09.2016 – 53 Ss-OWi 343/16 = StraFo 2017, 31 = VM 2017 Nr. 4; Thüringer Oberlandesgericht, Beschl. vom 01.03.2016 – 2 OLG 101 Ss Rs 131/15 = NJW 2016, 1457 = NStZ-RR 2016, 186 = DAR 2016, 399 = NJ 2016, 468).

2. Ein Antrag, der auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Behauptung gerichtet ist, dass die dem vorgeworfenen Abstandsverstoß zu Grunde liegende „Messung nicht ordnungsgemäß“ sei und dass die “Vorgaben der PTB nicht eingehalten“ worden seien, stellt mangels hinreichend bestimmter Tatsachenbehauptung keinen Beweisantrag i.S.d. §§ 244 Abs. 3 StPO, 77 Abs. 2 OWiG dar.

3. Die bei einem Abstandsverstoß zu beachtende „Beobachtungsstrecke“ soll gewährleisten, dass der Verstoß auch vorwerfbar begangen wurde, was etwa bei einem plötzlichen Abbremsen oder einem unerwarteten Spurwechsel durch den Vordermann fraglich sein könnte. Aus diesem Grund muss die Beobachtungsstrecke nicht exakt 300 m betragen (Aufrechterhaltung OLG Bamberg, Beschluss vom 25.02.2015 – 3 Ss OWi 160/15 = NJW 2015, 1320 = NZV 2015, 309 = ACE-Verkehrsjurist 2015, Nr. 2, 10 = DAR 2015, 396).

Mir ist das immer ein wenig (?) zu viel.

Vorgelegt zum BGH wird (natürlich) nicht, Warum auch? Man befindet sich ja im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH.

Na ja, wenn man es alles liest: Markig, Aber: So ganz sicher scheint man sich dann doch nicht zu sein. Denn ich frage mich, was soll sonst der letzte Absatz, in dem es heißt:

„Abschließend sieht sich der Senat zu folgendem Hinweis veranlasst: Auch wenn aus den dargelegten Gründen der Grundsatz des fairen Verfahrens durch die Nichtbeiziehung von außerhalb der Akte befindlichen Unterlagen nicht tangiert wird, wäre es jedenfalls bei überschaubaren und leicht zu erlangenden Urkunden, wie etwa der Lebensakte, deren Umfang sich regelmäßig auf ein DIN A4-Blatt beschränkt, von Schulungsnachweisen des Messbeamten und des Eichscheins, schon aus Gründen der Verfahrenseffizienz ratsam, diese rechtzeitig zum Verfahren beizuziehen. Dies gilt umso mehr, als sich hierdurch, insbesondere bei Beachtung der Möglichkeiten zur Einführung solcher Urkunden in die Hauptverhandlung nach §§ 249 II StPO, 78 I OWiG gegebenenfalls eine zeitaufwendige Beweisaufnahme durch Heranziehung personeller Beweismittel erübrigen kann.“

Der ist doch völlig überflüssig, wenn die vertreteten Auffassung in der entschiedenen Frage richtig ist/wäre. Und wie will man reagieren, wenn die Amtsrichter, die entsprechenden Unterlagen, obwohl es „schon aus Gründen der Verfahrenseffizienz ratsam [wäre], diese rechtzeitig zum Verfahren beizuziehen“? Will man dann die Verletzung eines Grundsatzes der Ratsamkeit (kreiert durch das OLG Bamberg) prüfen? Ich bin gespannt.

Einsicht in Messdaten im Bußgeldverfahren, oder: Die Flut von Entscheidungen reißt nicht ab…

entnommen openclipart.org

Ich habe schon länger nicht mehr über OWi-Sachen berichtet und noch länger nicht mehr über AG-Entscheidungen zur (Akten)Einsicht in Messdaten im Bußgeldverfahren. Das hole ich heute nach. Die Pause war m.E. aber nicht schlimm, denn der Kollege Gratz vom VerkehrsBlog berichtet ja regelmäßig über „Einsichtsentscheidungen“ – nun, mit der Einsicht ist das allerdings teilweise so eine Sache. Aus seinem Blog habe ich auch  – mit seinem Einverständnis – einen Teil der Entscheidungen, die ich nachfolgend in Form einer kleinen Rechtsprechungsübersicht zusammen gestellt habe. Ich habe die Entscheidungen – aus zeitlichen Gründen – im Wesentlichen auch nicht auf meiner Homepage im Volltext eingestellt. Sie sind fast alle bereits über dejure beim Kollegen Garcia „greifbar. Also dann:

  • KG, Beschl. vom 15.05.2017 – 3 Ws (B) 96/17:  Zum erforderlichen Umfang der Begründung der Rechtsbeschwerde, mit der Nichtherausgabe von nicht in der Akte befindlichen Unterlagen (Rohmessdaten, Lebensakte, Wartungsunterlagen) gerügt wird (vgl. dazu Aufklärungsrüge nach fehlender Akteneinsicht, oder: Schattenboxen beim KG).
  • OLG Celle, Beschl. v. 28.06.2017 – 2 Ss (Owi) 146/17: Kein Anspruch auf Herausgabe einer Lebensakte. Eine solche muss nicht geführt werden (vgl. dazu schon:OLG Celle: Lebensakte muss die Verwaltung nicht führen, aber der Betroffene „tatsachenfundiert vortragen“).
  • OLG Saarbrücken, Beschl. v. 01.02.2017 – Ss Rs 2/17: Wird mit der Rechtsbeschwerde beanstandet, dass der Verteidigung bei einer Geschwindigkeitsmessung mit Videodokumentation das Beweisvideo nicht zur Verfügung gestellt und dadurch das rechtliche Gehör des Betroffenen verletzt worden ist, muss auch vorgetragen werden, ob die Aufnahme in der Hauptverhandlung überhaupt in Augenschein genommen wurde, Verteidiger und/oder Betroffener hierbei anwesend waren und diesen die Möglichkeit gegeben wurde, sich zur Videoaufnahme zu äußern, blieb offen. Die Beanstandung, dass die Aufnahme vor der Hauptverhandlung  nicht hätte überprüft werden konnten, hat ggf. nur Erfolg, wenn mitgeteilt wird, weshalb eine Überprüfung in der Verhandlung nicht ausreichen soll.
  • AG Bad Berleburg, Beschl. v. 09.05.2017 – 7 OWi 73/17 [b]: Keine Übersendung der Daten der kompletten Messserie, wenn es sich um ein standardisiertes Messverfahren – hier TraffiStar S 350 – handelt. Die Rohdaten einer Geschwindigkeitsmessung sind “interne Hilfs- und Arbeitsmittel der Polizeibehörde”, in die kein Einsichtsrecht bestünde. Die Dokumentation über die üblichen Unterlagen wie Beweisfoto, Fall- sowie Messprotokoll hinaus übersteigen die Kapazitäten der Behörden in einem erheblichen Ausmaß
  • AG Bitburg, Beschl. v. 11.04.2017 – 3 OWi 49/17: Die Zentrale Bußgeldstelle ist verpflichtet, dem Verteidiger die digitale Messreihe sowie den Public Key des Messgeräts Poliscan Speed zu überlassen. Bestimmte Messfehler oder Auffälligkeiten lassen sich nur anhand der kompletten Messreihe feststellen. Die Behörde muss dem Verteidiger zudem Auskunft über mögliche Reparaturen oder andere Eingriffe an der Messanlage erteilen. Für den Fall, dass solche Eingriffe vorgenommen worden sind, sind außerdem Nachweise darüber herauszugeben. Die Messgeräteverwender sind gemäß § 31 MessEG zur Aufbewahrung der dort genannten Nachweise verpflichtet, allerdings regelmäßig nur bis zum Ablauf von drei Monaten nach Ende der Eichfrist.
  • AG Freiburg, Beschl. v. 07.06. 2017 – 37 OWi 88/17: Wird eine Lebensakte nicht geführt, hat die Verwaltungsbehörde dem Verteidiger Auskunft zu der Frage zu erteilen, wann und wa­rum das zum Einsatz gebrachte Messgerät eventuell repariert, gewartet, geeicht bzw. nachge­eicht wurde
  • AG Heidelberg, Beschl. v. 26.07.2017 – 16 OWi 432/17: Dem Verteidiger sind die Statistikdatei, die Wartungsunterlagen zum Messgerät (hier: PoliscanSpeed) sowie die Unterlagen zur verkehrsrechtlichen Anordnung der Geschwindigkeitsbegrenzung von der Verwaltungsbehörde herauszugeben, das nur so die die Zuverlässigkeit des verwendeten Messgeräts beurteilt werden kann. Die Messserie selbst muss nur an einen öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für Verkehrsmesstechnik übergeben werden, da Verteidiger in der Regel nicht über die notwendi­ge Auswertesoftware verfügen.
  • AG Heilbronn, Beschl. v. 23.5.2017 – 22 OWi 118/17: Da sich die Messreihe nicht in der Akte befindet, ist sie wie ein amtlich verwahrtes Beweisstück zu behandeln. Daher besteht insoweit nur ein Anspruch auf Besichtigung in den Behördenräumen, nicht aber auf Übersendung in die Kanzlei. Zum Führen einer Lebensakte für das Messgerät ist der Geräteverwender nicht verpflichtet, denn die Aufbewahrungspflicht nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG betrifft nur ungeeichte Messgeräte.
  • AG Mannheim, Beschl., v. 10.08.2017 – 28 OWi 516 Js 8303/17:     Kein Anspruch auf Beiziehung und zur Verfügung Stellung der Lebensakte bzw. der Wartungsprotokolle und Eichnachweise des Messgeräts seit der ersten Inbetriebnahme des Messgeräts (hier Poliscan Speed).
  • AG Neumarkt, Beschl. v. 13.5.17 – 35 OWi 702 Js 102324/17: Dem Verteidiger ist Einsicht in die Lebensakte des Messgeräts zu gewähren. Dazu ist eine Kopie der Lebensakte zur Verfahrensakte zu reichen.
  • AG St. Ingbert, Beschl. v. 02.12.2016 – 2 OWi 356/16: Der Verteidiger hat Anspruch auf Übersendung einer Liste aller am Tattag mit einem Messgerät aufgenommen Verkehrsverstöße sowie der digitalen Falldaten in unverschlüsselter Form für die gesamte Messreihe des Tattages.

Die vorgestellten Entscheidungen zeigen, wie uneinig die Rechtsprechung sich in der für den Betroffenen wichtigen Frage ist. Dabei lässt sich m.E. aus der Rechtsprechung insgesamt die Tendenz ableiten, dass die AG eher die Messdaten zur Verfügung stellen als die OLG. Und die scheuen den BGH/die Vorlage wie der „Teufel das Weihwasser“.

Akteneinsicht beim AG Esslingen, da gibt es den kompletten Messfilm, die Rohmessdaten und die Kalibrierungsfotos

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Die mit der (Akten)Einsicht im Bußgeldverfahren zusammenhängenden Fragen betreffend Messunterlagen und Messdaten usw. sind nun wirklich der verfahrensrechtliche Dauerbrenner der letzten Jahre. Los ging es 2012/2013 mit dem Kampf um die Einsicht in die Bedienungsanleitung, jetzt wird um die Messdaten gekämpft. Und zu dem Kampf kann ich dann heute als Munition zwei Entscheidungen des AG Esslingen beisteuern, nämlich den AG Esslingen, Beschl. v. 03.03.2017 – 4 OWi 22/17 und den AG Esslingen, Beschl. v. 02.05.2016 – 3 OWi 829/15. Sie bejahen beide ein Einsichtsrecht des Verteidigers. Dazu dann aus dem Beschluss vom 03.03.2017:

„Aus den Grundsätzen des fairen Verfahrens und der Gewährung rechtlichen Gehörs folgt, dass dem Betroffenen auf dessen Antrag hin die Rohmessdaten zur Verfügung zu stellen sind. Würde man dem Betroffenen dieses Einsichtsrecht versagen, würde der Betroffene in seinen Verfah­rensrechten eingeschränkt. Ein zentrales Anliegen eines rechtsstaatlich geordneten Bußgeldver­fahrens ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts als notwendige Grundlage eines gerechten Urteils (AG Weißenfels, Beschluss vom 03. September 2015, 10 AR 1/15). Verfahrensentschei­dungen, die die Ermittlung der Wahrheit zulasten des Betroffenen behindern, können daher einen Anspruch auf ein faires Verfahren verletzen. Hiergegen würde es verstoßen, wenn dem Betroffe­nen die Möglichkeit der Überprüfung verfahrensrelevanter Daten versagt wird. Der Betroffene hat daher einen Anspruch auf Überlassung der Rohmessdaten (Im Ergebnis ebenso AG Völklingen 6 Gs 49/16). Einer solchen Datenherausgabe stehen im Fall der Herausgabe lediglich an den Ver­teidiger und von ihr beauftragter Sachverständiger auch eventuelle datenschutzrechtliche Beden­ken nicht entgegen (AG Völklingen aaO m.w.Nw.).

Des Weiteren ist Akteneinsicht in die Kalibrierungsbilder und den vollständigen Messfilm zu ge­währen. Der Verteidiger hat gemäß § 46 i.V.m. § 147 StPO ein Recht auf Akteneinsicht, das sich auf alle Schriftstücke, Bild-, Video- und Tonaufnahmen bezieht, die für den Betroffenen belastend oder entlastend sein können. Dies gilt auch für Kalibrierungsbilder, die der Verteidigung zur Verfü­gung gestellt werden müssen (Lüderssen/Jahn in Löwe-Rosenberg, § 147 Rn. 154). Gleiches gilt für den Messfilm. Auch wenn der vollständige Messfilm nicht zu den Akten genommen wird, wird der Vorwurf in tatsächlicher Hinsicht darauf gestützt. Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes greifen nicht durch (Vgl. exemplarisch statt vieler AG Fritzlar, 4 Owi 11/14, Beschluss vom 07.10.2014 sowie AG Stuttgart DAR 2014, 406).“

Wie gesagt, Munition im „Kampf um die Messunterlagen/-daten“.

Wie werden Messdaten in die HV eingeführt?, oder: Augenscheinseinnahme oder Urkundenverlesung

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In der Rechtsprechung der OLG ist seit einiger Zeit nicht mehr unstreitig, wie Messdaten und Messprotokolle in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Der Streit geht darum, ob das im Wege des Urkundsbeweises nach § 249 StPO zu erfolgen hat oder ob ggf. auch die Inaugenscheinnahme ausreicht. Dazu hat sich jetzt auch das OLG Stuttgart im OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.01.2017 – 2 Ss OWi 762/16 – geäußert.

Das OLG verweist darauf, dass durch die Inaugenscheinnahme einer Urkunde regelmäßig nur das Vorhandensein und die Beschaffenheit der Urkunde, nicht aber deren Inhalt belegt wird. Diese strenge Differenzierung findet nach Ansicht des OLG jedoch dann eine Grenze, wenn sich der gedankliche Inhalt der Urkunde im Rahmen der Inaugenscheinnahme bereits durch einen Blick miterfassen lässt, was für Messdaten auf einem Messfoto der Fall sein.

Das OLG Stuttgart schließt sich damit der Auffassung des KG im KG, Beschl. v. 12. 11. 2015 – 3 Ws (B) 515/15. Anderer Ansicht ist aber die überwiegende Auffassung in der Rechtsprechung der OLG (vgl. aus neuerer Zeit den im OLG Bamberg, Beschl. v. 13.10.2014 – 2 Ss OWi 1139/14; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 08.01.2016 – IV- 3 RBs 132/15 und dazu: Bezugnahme auf die Daten in einem Messfoto – Geht das?; OLG Schleswig, Beschl. v. 02.04.2014 – 1 Ws OWi 59/14 und dazu Qualifizierter Rotlichtverstoß – eine Urteils-Checkliste vom OLG).

Die Auswirkungen dieses Streits sind erheblich. Sie entscheiden über Wohl und Wehe des Urteils des Amtsrichters.

AG Nördlingen: Grausame Akteneinsicht, aber: Schönen Gruß vom Marketing.

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Der Kollege Gratz vom VerkehrsrechtsBlog hat ja vor einigen Tagen schon über den AG Nördlingen, Beschl. v. 08.09.2016 – 4 OWi 99/16 – berichtet. Von ihm habe ich den grausamen Beschluss erhalten und stelle ihn hier heute auch vor. Als ich den Beschluss gelesen habe, habe ich nur gedacht: Das sind dann die Auswüchse vom OLG Bamberg, Beschl. v. 04.04.2016 – 3 Ss OWi 1444/15 (dazu „Logik ist Ansichtssache“, oder: Zirkelschluss beim OLG Bamberg zur Einsichtnahme in die Messdatei bei ESO 3.0) und vom OLG Bamberg, Beschl. v. 05.09.2016 – 3 Ss OWi 1050/16 (dazu: Zement aus Bamberg, oder: Mia san mia).  Man kann sagen: Die Saat ist aufgegangen, oder, wenn das die Absicht des OLG Bamberg war: Es ist vollbracht.

Und das AG Nördlingen geht sogar noch weiter als das OLG Bamberg – ist ja auch umgefährlich, wenn man dessen Rechtsprechung sieht. Der Verteidiger hatte „Akteneinsicht in Eichschein, Lehrgangsbescheinigung, Lebensakte und Überlassung von Rohmessdaten bezüglich der erfolgten Messung“ beantragt. Das AG Nördlingen verweigert ALLES. Begründung: Haben wir nicht und brauchen wir, vor allem du nicht. Und wenn wir es nicht haben, wollen wir es auch nicht haben/beiziehen, denn wir/du brauchst es nicht. Wie der Verteidiger allerdings „Zweifel an der Ordnungsgemäßheit“ der Messung vortragen soll, das sagt ihm das AG nicht. Und wie er „konkrete Bedenken“ vortragen/geltend machen soll, wenn er die Messung, um die es geht, gar nicht kennt und auch gar nicht überprüfen kann, erfährt er auch nicht.

Der Gipfel der Entscheidung, die sich natürlich nicht mit anderer abweichender Rechtsprechung auseinander setzt – mia san eben mia -,  ist dann ihr letzter Absatz:

„Soweit ein Anspruch auf Einsicht in die Lebensakte und die Bedienungsanleitung teilweise aus den Grundsätzen des fairen Verfahrens und der effektiven Verteidigung hergeleitet wird, überzeugt dies nicht. Denn zum einen gibt es inzwischen Handbücher speziell für die Verteidigung bei Ordnungswidrigkeiten, welche auf den Bedienungsanleitungen basieren und die rechtlich und technisch relevanten Fragen darstellen. Diese bieten dem Betroffenen die Möglichkeit, sich mit Messergebnissen und Zeugenaussagen kritisch auseinanderzusetzen.“

Ah, der Verteidiger soll also „Handbücher speziell für die Verteidigung bei Ordnungswidrigkeiten“ kaufen und hat dann „die Möglichkeit, sich mit Messergebnissen und Zeugenaussagen kritisch auseinanderzusetzen.“ Wie soll das gehen, wenn ich die Messung gar nicht kenne. Soll der Verteidiger im stillen Kämmerlein sitzen, Handbücher lesen, dann Einwände (welche ?) vortragen, um sich dann von den Gerichten bescheinigen zu lassen, dass das alles ja nicht konkret sei, sondern es sich um die Behauptung von Fehlern ins Blaue hinein handele? Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man lachen.

Nun, aber: Ich will den Beschluss des AG nicht völlig verreißen. „Handbücher speziell für die Verteidigung bei Ordnungswidrigkeiten“ lese ich als Herausgeber von zwei solcher Handbücher natürlich gerne, nämlich unser „Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren“ und „Messungen im Straßenverkehr„, beide jetzt (bald) in 4. Aufl. Die sollen – bzw. werden hoffentlich – von Verteidigern nun noch besser gekauft als schon in der Vergangenheit, um sich mit Messverfahren auseinandersetzen zu können. Insofern: Lieben Dank an das AG Nördlingen und schönen Gruß von der Marketing-Abteilung des ZAP-Verlages. Wir hätten es kaum besser gekonnt. Und nur zu Klarstellung: Ich habe bei der Marketing-Abteilung nachgefragt. Dort ist niemand mit einem Richter/einer Richterin am AG Nördlingen verwandt oder verschwägert 🙂 .