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Auslagenerstattung II: Privates SV-Gutachten, oder: Verzicht auf gerichtliches Gutachten

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Im zweiten Posting geht es noch einmal um die Erstattung der Kosten eines privaten Sachverständigengutachten. Leider ist das auch so ein Thema, mit dem sich viele Verwaltungsbehörden und auch Amtsgerichte schwer tun. Dazu hat sich jetzt noch einmal das LG Ravensburg im LG Ravensburg, Beschl. v. 05.08.2025 – 1 Qs 37/25 – geäußert.

Das AG hatte gegen den (ehemaligen) Beschuldigten durch Strafbefehl wegen einer fahrlässigen Körperverletzung, die der Beschuldigte im Straßenverkehr begangen haben sollte, eine Geldstrafe festgesetzt. Dem Beschuldigten wurde zur Last gelegt, als Lenker eines Lastkraftwagens bei der Einfahrt von einem Waldweg auf eine Kreisstraße einen vorfahrtsberechtigten Motorradfahrer übersehen und hierdurch die Kollision beider Fahrzeuge verursacht zu haben, wodurch sich der Motorradfahrer mehrere Frakturen zugezogen habe.

Zu dem nach Einspruchseinlegung auf den 15.11.2024 bestimmten Hauptverhandlungstermin wurden lediglich der Motorradfahrer und der mit der Verkehrsunfallanzeige befasste Polizeibeamte als Zeugen geladen. Mit Schreiben vom 21.10.2024 reichte der Verteidiger ein – an die Kanzlei des Verteidigers adressiertes – schriftliches Gutachten eines Unfallsachverständigen vom 26.09.2024 ein. Dieses kam zum Ergebnis, dass sich der Kradfahrer bei Beginn des Einfahrvorgangs seitens des Beschuldigten außerhalb von dessen Sichtbereich befunden habe. Der Verteidiger beantragte eine Verfahrenseinstellung gern. § 153 Abs. 2 StPO. Mit Verfügung vom 28.10.2024 lehnte die Staatsanwaltschaft die Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens ab.

In der auf den 24.02.2025 verlegten Hauptverhandlung wurden der Beschuldigte sowie die beiden geladenen Zeugen gehört. Sodann wurde das Privatgutachten vom 26.09.2024 im Selbstleseverfahren eingeführt und hierauf die Beweisaufnahme geschlossen. Entsprechend den allseitigen Anträgen wurde der Beschuldigte freigesprochen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer den Kradfahrer übersehen habe und der Unfall für ihn vermeidbar gewesen wäre. Die notwendigen Auslagen des Beschuldigten wurden der Staatskasse auferlegt.

Der Beschuldigte hat Erstattung der an den Unfallsachverständigen für die Erstellung des Sachverständigengutachtens gezahlten 1.931,37 EUR beantragt. Die Bezirksrevisorin hat der Festsetzung widersprochen. Das AG hat daraufhin die Auslagen für das eingeholte Privatgutachten nicht festgesetzt.

Dagegen hat der Beschuldigte sofortige Beschwerde erhoben. Zur Begründung hat er sich darauf berufen, dass der Freispruch „final“ auf dem vorgelegten Privatgutachten beruhe und das Gericht anderenfalls selbst dazu veranlasst gewesen wäre, ein Gutachten einzuholen.

Das LG ist ihm gefolgt:

„… Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg. Die Kosten für das Privatgutachten sind dem Beschwerdeführer als notwendige Auslagen zu ersetzen.

Dabei ist der angefochtenen Entscheidung im Ausgangspunkt zuzugeben, dass Aufwendungen für die Einholung eines Privatgutachtens nach allgemeiner Rechtsprechung aus den dargelegten Gründen grundsätzlich nicht als notwendige Auslagen erstattungsfähig sind. Hiervon werden in der jüngeren Rechtsprechung zunehmend Ausnahmen gemacht, z. B. wenn schwierige technische Fragestellungen zu beurteilen seien oder wenn der Tatvorwurf auf einem standartisierten Messverfahren beruhe. Zudem sind zahlreiche Gerichte vom ausschließlichen Maßstab der Ex-ante-Betrachtung für die Beurteilung der Notwendigkeit der Gutachteneinholung abgerückt. Stattdessen wird eine Erstattungsfähigkeit jedenfalls dann bejaht, wenn das Privatgutachten ur-sächlich für den Freispruch oder die Einstellung des Verfahrens geworden ist (LG Dresden, Beschluss vom 7. Oktober 2009 — 5 Qs 50/07 —, Rn. 12; LG Zwickau, Beschluss vom 19. Juli 2024 — 1 Qs 77/24 —, jeweils zitiert nach juris).

Andere Gerichte halten es sogar bereits für ausreichend, wenn das eingeholte Gutachten zu dem Freispruch beigetragen hat (LG Münster, Beschluss vom 14. Juni 2024 — 12 Qs 16/24 —, Rn. 37, m.w.N., zitiert nach juris).

Ob die dargelegten Ausnahmen vom Grundsatz der fehlenden Erstattungsfähigkeit allgemein zu machen sind, bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls besteht dann kein Grund, die Auslagen für die Einholung eines Privatgutachtens dem Angeklagten zu belassen, wenn sich das Gericht dieses Gutachten quasi zu eigen macht und im Hinblick hierauf auf die Einholung eines Gutachtens, die ohne Vorlage des Privatgutachtens erforderlich gewesen wäre, verzichtet. Für diese Sachverhaltsgestaltung sind keine rechtsdogmatischen Gründe ersichtlich, welche die Nicht-erstattung der Auslagen rechtfertigen würde, Vielmehr streiten Billigkeit und Rechtsempfinden ganz entschieden für den Ersatz der Aufwendungen, wenn auf der Grundlage des Gutachtens eine Verurteilung nicht erfolgt. Es leuchtet nicht ein, weshalb sich Gerichte die Auslagen für die Einholung eines Sachverständigengutachtens auf Kosten eines nicht verurteilten Angeklagten ersparen können sollten.

Dies zugrunde gelegt steht die Erstattungsfähigkeit der Gutachterkosten des Beschwerdeführers außer Frage. Nach dem Verfahrensgang und insbesondere dem Ablauf der Hauptverhandlung drängt sich geradezu auf, dass das Gericht ohne Heranziehung des Privatgutachtens zur Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens verpflichtet gewesen wäre. Mit den vorhandenen Erkenntnisquellen – Zeugen, polizeiliche Ermittlungsergebnisse – wurde ein hinreichender Tatverdacht bejaht und Strafbefehl erlassen. Eine Verfahrenseinstellung kam aufgrund der Zustimmungsverweigerung der Staatsanwaltschaft nicht in Betracht. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die mittels Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung erlangten Erkenntnisse bereits die Grundlage für einen Freispruch bereitet hätten. Zum einen ergeben sich aus dem Hauptverhandlungsprotokoll keine nennenswerten Abweichungen der Aussagen vom Akteninhalt, zum anderen hätte es in diesem Fall der Einführung des Privatgutachtens im Wege des Selbstleseverfahrens gar nicht bedurft. Bei dieser Verfahrenskonstellation wäre das Gericht somit gem. § 244 Abs. 2 StPO zur Einholung eines Gutachtens verpflichtet gewesen, hätte es sich zur Negierung des ursprünglich bejahten hinreichenden Tatverdachts nicht des vom Beschwerdeführer in Auftrag gegebenen Gutachtens bedienen können. Aufgrund dieses Gutachtens erfolgte – wie den Urteilsgründen hinreichend zu entnehmen ist – schließlich der Freispruch des Verteidigers. Nachvollziehbare Gründe, weshalb bei einer solchen Sachverhaltskonstellation zwingend und ausschließlich die ex-ante-Bewertung des Beschuldigten maßgeblich sein sollte, vermag die Kammer nicht zu erkennen.

An seiner Rechtsauffassung fühlt sich das Gericht auch nicht durch die Entscheidung des OLG Stuttgart in NStZ-RR 2003, 127 gehindert, da der dort zugrunde liegende Verfahrensgegenstand von dem hier zu entscheidenden abweicht. Das OLG hatte nämlich über die Erstattungsfähigkeit der Auslagen für das In-die-Sitzung-Stellen eines Sachverständigen zu entscheiden. Die insoweit aufgestellten Grundsätze – insbesondere zur ausschließlichen Maßgeblichkeit der Ex-ante-Betrachtung – lassen sich schon wegen § 245 Abs. 2 StPO und der eingeschränkten gerichtlichen Möglichkeiten, die Anhörung eines präsenten Sachverständigen abzulehnen, nicht vollumfänglich auf die Einholung eines Privatgutachtens und den hier zu bescheidenden Verfahrensgang übertragen.“

Die Entscheidung ist zutreffend. Wenn man den Verfahrensgang liest, fragt man sich: Wenn nicht in diesem Fall eine Erstattung erfolgt, wann dann? Der Beschuldigte ist hier quasi in Vorlage für die Staatskasse getreten. Von daher kann man sich über die Stellungnahme der Bezirksrevisorin gegen die Festsetzung der Gutachterkosten nur wundern. IM Übrigen verweise ich zu den sich in dem Zusammenhang stellenden Fragen und zur Rechtsprechung auf Burhoff, Erstattungsfähigkeit von Kosten für Privatgutachten im Straf- oder Bußgeldverfahren, aus AGS 2023, 193.

Und: Als Verteidiger darf man in solchen Fällen nicht übersehen, seine Gebühren für das Beschwerdeverfahren geltend zu machen. Denn es entsteht in diesen Fällen nach Vorbem. 4 Abs. 5 Nr. 1 1. Alt. VV RVG eine Gebühr nach Nr. 3500 VV RVG (dazu Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 7. Aufl. 2025, Vorbem. 4 VV Rn 120). Deren Höhe richtet sich nach dem Gegenstandswert, der sich nach dem Umfang richtet, in dem eine Abänderung des Kostenfestsetzungsbeschlusses beantragt wird (Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 7. Aufl. 2025, Vorbem. 4 VV Rn 121). Das waren hier 1.931,37 EUR. Also ist hier eine Gebühr in Höhe von 88 EUR nebst Auslagen entstanden. Die sollte man nicht verschenken. Die Staatskasse verschenkt auch nichts.

OWi-Verfahren II: Bemessung der OWi-Gebühren, oder: Gibt es eine gesonderte „Beschwerdegebühr“?

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Und als zweite Entscheidung gibt es den LG Ravensburg, Beschl. v. 23.07.2025 – 1 Qs 35/25. In ihm geht es vornehmlich um die gebührenmäßige Behandlung von Tätigkeiten des Rechtsanwalts in Beschwerdeverfahren bzw. in Verfahren betreffend Antrag auf gerichtliche Entscheidung.

Dem Betroffenen ist eine Abstandsunterschreitung zur Last gelegt worden. Deswegen wurde gegen ihn eine Geldbuße von 75 EUR festgesetzt. Der Verteidiger hat dagegen am 30.12.2022 Einspruch eingelegt. Er teilte mit, dass der Betroffene aufgrund anwaltlichen Rats keine Angaben zur Sache machen werde und beantragte die Einstellung des Verfahrens sowie die Gewährung von Akteneinsicht.

In Verkennung des Umstands, dass der Einspruch durch einen neuen Verteidiger eingelegt worden war, fragte die Bußgeldbehörde bei dem Rechtsanwalt, der sich ursprünglich als Verteidiger legitimiert hatte und dem bereits Akteneinsicht gewährt worden war, an, ob tatsächlich eine nochmalige Einsichtsgewährung gewünscht werde. Zudem wurde dem ursprünglichen Verteidiger Gelegenheit gegeben, den Einspruch binnen zwei Wochen zu begründen. Am 08.02.2023 wurde die unerledigte Akteneinsicht durch die Kanzlei des zwischenzeitlichen Verteidigers moniert, worauf zunächst keine Reaktion erfolgte. Aufgrund einer erneuten Erinnerung des Verteidigers vom 07.03.2023 sah sich die Sachbearbeiterin der Bußgeldstelle veranlasst, den Betroffenen direkt anzuschreiben und zu einer Mitteilung, von wem er verteidigt werde, aufzufordern. Für den Fall einer ausbleibenden Rückmeldung wurde angekündigt, den Schriftverkehr direkt mit dem neuen Rechtsanwalt zu führen. Dem Verteidiger wurde mitgeteilt, dass die Akteneinsiohtsgewährung erfolgen werde, sobald der Betroffene erklärt habe, von wem er verteidigt werde. Hierauf beantragte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 09.03.2023 die gerichtliche Entscheidung, dass die Verwaltungsbehörde angewiesen werde, dem Verteidiger Akteneinsicht zu gewähren. Der Antrag wurde auf zwei Seiten unter Bezugnahme auf Rechtsprechung und Literatur begründet. Die Bußgeldbehörde wandte sich hierauf nochmals an den ursprünglichen Verteidiger, der mit E-Mail vom 11.03.2023 seine Mandatsniederlegung erklärte. Zur Akteneinsichtsgewährung an den zwischenzeitlichen Verteidiger kam es erst am 05.04.2023.

Mit Schriftsatz vom 21.4.2023 beantragte der Verteidiger, die von der Verwaltungsbehörde festgesetzte Aktenversendungspauschale in Höhe von 12 EUR durch gerichtliche Entscheidung aufzuheben. Der Antrag enthielt eine dreiseitige Begründung. Zudem waren mehrere unveröffentlichte amtsgerichtliche Beschlüsse, auf die sich der Verteidiger stützte, beigefügt.

Am 25.04.2023 wurde dem Verteidiger Gelegenheit gegeben, den Einspruch binnen acht Tagen zu begründen. Gleichzeitig wurde die Akte dem AG zur Entscheidung über die beanstandete Aktenpauschale vorgelegt. Der Verteidiger beantragte am selben Tag die Überlassung weiterer Unterlagen zur Prüfung des Tatvorwurfs. Hierzu nahm die Verwaltungsbehörde in einem zweiseitigen Schreiben vom 28.04.2023, mit dem zumindest die Bedienungsanleitung für das Messgerät ergänzend zugänglich gemacht wurde, Stellung. Die am 16.05.2023 von der Bußgeldstelle abverfügte Akte ging am 23.05.2023 bei der Staatsanwaltschaft ein; die Weiterleitung an den Bußgeldrichter wurde am 01.06.2023 angeordnet. Akteneingang beim AG war am 13.06.2023. Dort geriet die Akte alsbald nach der Verfahrenserfassung außer Kontrolle, was erst am 11.04.2024 bemerkt wurde.

Mit Beschluss vom 23.04.2024 stellte der Bußgeldrichter das Verfahren wegen eingetretener Verfolgungsverjährung ein. Die Erstattung der notwendigen Auslagen des Betroffenen lehnte er ab. Auf die hiergegen vom gerichtete sofortige Beschwerde änderte das LG Ravensburg die Kostenentscheidung dahin ab, dass die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers der Staatskasse zur Last fallen (vgl. Beschl. v. 11.11.2024 – 1 Qs 54/24 und dazu Auslagen II: Falsch macht man es in Düsseldorf, oder: Richtig macht man es in Ravensburg).

Im Kostenfestsetzungsverfahren machte der Betroffene nunmehr die Grundgebühr Nr. 5100 VV RVG mit 132 EUR, die Verfahrensgebühr für das Verwaltungsverfahren Nr. 5103 VV RVG mit 240 EUR und die Verfahrensgebühr für das gerichtliche Verfahren Nr. 5109 VV RVG mit 228 EUR jeweils oberhalb der Mittelgebühr geltend. Zudem begehrt er eine Erledigungsgebühr Nr. 5115 VV RVG in Höhe von 176 EUR. Für das Beschwerdeverfahren hat er unter Berufung auf Nr. 5200 VV RVG eine Verfahrensgebühr in Höhe von 71,50 EUR und nach Nr. 7002 VV RVG eine Auslagenpauschale geltend gemacht.

Das AG hat die Gebühren Nr. 5100 und 5103 VV RVG nur in Höhe der Mittelgebühr von 110 EUR bzw. 176 EUR festgesetzt. Die Erledigungsgebühr Nr. 5115 und die Verfahrensgebühr Nr. 5200 VV RVG für das Beschwerdeverfahren wurden in voller Höhe abgesetzt. Im Übrigen wurde dem Antrag des Beschwerdeführers entsprochen. Dagegen hat der Betroffene sofortige Beschwerde eingelegt. Das Rechtsmittel hatte in der Sache überwiegend Erfolg:

„1. Die sofortige Beschwerde bleibt allerdings erfolglos, soweit sie sich gegen die Absetzung gesonderter Gebühren für das Beschwerdeverfahren wendet.

Der Festsetzung dieser Gebühren steht § 19 Abs. 1 Nr. 10a RVG entgegen. Danach wird in Straf- und Bußgeldsachen die anwaltliche Tätigkeit in Beschwerdeverfahren mit der Verfahrensgebühr abgegolten und findet allein im Rahmen der Bestimmung der Gebührenhöhe Berücksichtigung (Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG, 26. Aufl., Vorb. 4 VV Rn. 14). Auf die Vorbemerkung 5 Abs. 4 VV RVG kann sich der Beschwerdeführer nicht stützen, denn diese begründet keine allgemeine Ausnahme für Beschwerden gegen Kostenentscheidungen, sondern lediglich für die explizit genannten Beschwerdeverfahren betreffend Kostenfestsetzungsbeschlüsse und Kostenansätze. Das Beschwerdeverfahren, für welches der Beschwerdeführer eine gesonderte Gebührenfestsetzung begehrt, betraf jedoch die Kostengrundentscheidung, die in Vorbemerkung 5 Abs. 4 VV RVG keine Erwähnung findet. Der eindeutige Gesetzeswortlauf lässt keine abweichende Auslegung zu; eine ausfüllungsbedürftige planwidrige Regelungslücke ist nicht zu erkennen. Der anwaltlichen Tätigkeit war somit allein bei der Bemessung der Verfahrensgebühr Nr. 5109 VV RVG Rechnung zu tragen, was in der angefochtenen Entscheidung geschehen ist. Ob dies in angemessener Weise erfolgt ist, unterliegt nicht der Prüfung der Beschwerdekammer, da die antragsgemäß festgesetzte Gebühr ausdrücklich von der Beschwerde ausgenommen wurde.

2. Dem gegenüber erfolgten die Reduzierung der Grundgebühr Nr. 5100 VV RVG und der Verfahrensgebühr Nr. 5103 RVG sowie die Absetzung der Erledigungsgebühr Nr. 5115 VV RVG zu Unrecht.

a) Zutreffend verweist der Beschwerdeführer darauf, dass eine vom Antrag abweichende Gebührenfestsetzung auf die Fälle der Unbilligkeit beschränkt ist, in Normalfällen von der Mittelgebühr auszugehen ist und Anträge, die sich in einem Toleranzbereich von 20 % bewegen, zu akzeptieren sind. Davon, dass die nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG im konkret vorliegenden Verfahren zu berücksichtigenden Umstände unterdurchschnittlich gewesen wären, wurde in der angefochtenen Entscheidung nicht ausgegangen. Anknüpfungspunkte hierfür sind auch nicht ersichtlich. Folglich durfte die anwaltliche Gebührenbemessung, die sich noch im Rahmen des zu akzeptierenden Toleranzbereichs bewegt, nicht korrigiert werden.

b) Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit des Verteidigers im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde rechtfertigt die Festsetzung einer über der Mittelgebühr liegenden Verfahrensgebühr Nr. 5103 VV RVG. Dass die Gewährung von Akteneinsicht mühevoll über Monate hinweg mit mehreren Anfragen und schließlich mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung „erkämpft“ werden musste, begründete bereits einen überdurchschnittlichen Aufwand. Mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der geforderten Auslagenpauschale nahm der Verteidiger in nicht zu beanstandender Weise die prozessualen Rechte des Beschwerdeführers wahr. Wenngleich die begehrte Klärung der aufgeworfenen Rechtsfrage für den Beschwerdeführer von untergeordneter Bedeutung war, war sie für seinen Verteidiger schon hinsichtlich des Umfangs der Antragsbegründung mit erheblichem Aufwand verbunden. Diesem ist – da § 19 Abs. 1 Nr. 10a RVG die Festsetzung einer gesonderten Gebühr ausschließt – bei der Bemessung der Verfahrensgebühr Rechnung zu tragen. Jedenfalls der Gesamtumfang der in der Akte dokumentierten anwaltlichen Tätigkeit im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde rechtfertigt eine Bewertung als überdurchschnittlich, wobei die beantragte Gebührenhöhe nicht unbillig erscheint.

c) Zur Rechtfertigung der Erledigungsgebühr Nr. 5115 VV RVG kann sich der Beschwerdeführer zwar nicht auf den Einstellungsantrag seines Verteidigers im Legitimationsschreiben vom 30. Dezember 2022 berufen. Insoweit handelte es sich ersichtlich um einen formularmäßig verwendeten Textbaustein ohne jeden Bezug zum konkreten Bußgeldverfahren, der von vornherein nicht geeignet war, das Verfahren im Hinblick auf eine Verfahrensbeendigung außerhalb der Hauptverhandlung zu fördern. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Anregung noch vor Akteneinsichtsgewährung und damit ohne Kenntnis der fallbezogenen Gegebenheiten einschließlich der Beweislage erfolgte.

Andererseits genügt für die Festsetzung der Erledigungsgebühr jede Tätigkeit des Verteidigers, welche die Verfahrenserledigung fördert. Diese muss nicht auf d e Sachaufklärung gerichtet sein (BGH, Urteil vom 20.01.2011, Az. IX ZR 123/10, zitiert nach juris und kann auch in einer Aktivität zur Herbeiführung der Verjährung bestehen (LG Oldenburg, Beschluss vom 22. Mai 2013 – 5 Qs 149/13 -, zitiert nach juris). Hieran gemessen, ist durch den konkreten Ablauf des Verfahrens vor der Bußgeldstelle die Erledigungsgebühr angefallen. Dem Beschwerdeführer kann insbesondere nicht entgegengehalten werden, der Eintritt der Verfolgungsverjährung liege allein darin begründet, dass die Verfahrensakte nach ihrem Eingang beim erkennenden Gericht in Verstoß geriet. Verfolgungsverjährung war angesichts des Erlasses des Bußgeldbescheids am 12. Dezember 2022 mit Ablauf des 12. Juni 2023 und damit noch vor dem Akteneingang beim Amtsgericht Leutkirch am 13. Juni 2023 eingetreten. Folglich liegen die Gründe für den Verjährungseintritt allein im Vorverfahren. Zwar wurde die Verjährung durch die verzögerte Sachbearbeitung der Bußgeldstelle und der Staatsanwaltschaft begünstigt. Ohne das Festhalten am Akteneinsichtsgesuch, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung und die Anforderung weiterer Unterlagen – mithin ein umfangreiches und sachgerechtes Verteidigungsverhalten – erscheint die überlange Verfahrensdauer jedoch kaum vorstellbar. Zudem bedarf es für die Gewährung der Erledigungsgebühr nicht der Feststellung einer Kausalität der Maßnahmen des Verteidigers für den Eintritt der Erledigung. Vielmehr besteht eine Vermutung für die Ursächlichkeit. Diese lässt sich hier jedenfalls nicht widerlegen.“

Die Entscheidung ist in allen Punkten zutreffend. Das gilt insbesondere für die geltend gemachte „Beschwerdegebühr“ Nr. 5200 VV RVG.

Die Einlegung des Rechtsbehelfs nach § 62 OWiG im Zwischenverfahren gehört entsprechend § 19 Abs. 1 Nr. 10a RVG zu der Tätigkeit des Rechtsanwalts im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde und begründet keine weitere Angelegenheit und damit auch nicht die Verfahrensgebühr Nr. 5200 VV RVG (LG Wuppertal, AGS 2019, 254 = DAR 2019, 477 = RVGreport 2019, 146; unzutreffend a.A. AG Senftenberg, AGS 2013, 231). Insoweit gelten dieselben Überlegungen wie bei der Beschwerde (vgl. dazu Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 7. Aufl. 2025, Rn 574 ff.; Burhoff, AGS 2023, 241).

Auch die Beschwerde gegen die Kostengrundentscheidung führt nicht zur Verfahrensgebühr Nr. 5200 VV RVG. Aus der Vorbem. 5 Abs. 4 VV RVG – bzw. im Strafverfahren der Vorbem. 4 Abs. 5 VV RVG – folgt nichts anderes. Von den Regelungen werden, auch insoweit hat das LG Recht – nur die dort aufgeführten Rechtsmittel erfasst. Das sind nicht Beschwerden gegen Kostengrundentscheidungen.

 

StPO I: Drei Beschlüsse zur Durchsuchung und mehr, oder: Form, Tatverdacht, Verhältnismäßigkeit, KCanG

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Es gibt den Spruch: Wer rastet. der rostet. Und daher wird heute an Ostermontag nicht gerastet – oder neudeutsch: „gechilled“ – sondern gearbeitet. D.h., es gibt auch heute am Feiertag hier das normale Programm, und zwar mit StPO-Entscheidungen. Da hat sich in der letzten Zeit durch meinen Japan-Aufenthalt, für den die Beiträge vorbereitet waren, auch einiges angesammelt.

Ich starte hier dann mit drei Entscheidungen zur Durchsuchung. Von denen stelle ich aber jeweils nur die Leitsätze vor, da sie so ganz viel Neues nicht enthalten:

Also:

 

1. Mängel insbesondere bei der ermittlungsrichterlich zu verantwortenden Umschreibung des Tatvorwurfs in einem Durchsuchungsbeschluss können im Beschwerdeverfahren nicht geheilt werden. 

2. Die Durchsuchung muss als schwerwiegender Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen vor allem in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen.

3. Ein Durchsuchungsbeschluss verkennt die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung und trägt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht hinreichend Rechnung, wenn in die zu treffende Abwägungsentscheidung nicht der Umstand geflossen ist, dass für das absolute Antragsdelikt des § 201 Abs 1 Nr 1 StGB zum Zeitpunkt der Anordnung der Durchsuchung der erforderliche Strafantrag nach § 205 Abs 1 S 1 StGB nicht gestellt war.

1. Die Annahme der Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft für die mündliche Anordnung einer Durchsuchung scheidet aus, wenn sich der angeschuldigte Wohnungsinhaber sowohl zum Zeitpunkt der ersten Kontaktaufnahme der Polizei mit der Bereitschaftsstaatsanwältin um 3:25 Uhr, zum Zeitpunkt der Anordnung um 4:45 Uhr als auch noch bei Beginn der Durchsuchungsmaßnahme um 8:55 Uhr in polizeilichem Gewahrsam befindet.

2. Wird dennoch unter Missachtung des Richtervorbehalts die Durchsuchung vom Staatsanwalt angeordnet, unterliegen die gewonnenen Ergebnisse einem Beweisverwertungsverbot.

1. Die StPO sieht weder eine besondere Form für Durchsuchungsanordnungen nach §§ 102, 105 StPO vor noch deren Unterzeichnung.

2. Für die Zulässigkeit einer regelmäßig in einem frühen Stadium der Ermittlungen in Betracht kommenden Durchsuchung genügt der über bloße Vermutungen hinausreichende, auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte gestützte konkrete Verdacht, dass eine Straftat begangen worden ist und der Verdächtige als Täter oder Teilnehmer in Betracht kommt (st. Rspr.; vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. September 2006, NJW 2007, 1443, m.w.N.). Gemessen an diesen Maßstäben liegen sachlich zureichende Gründe für eine Durchsuchung vor, wenn sich aus einer sichergestellten, an den Beschuldigten adressierten Postsendung und der festgestellten Gesamtmenge an Cannabis der Verdacht ergibt, dass der Beschuldigte mit Cannabis in nicht geringer Menge Handel getrieben hat. 

2. Der Zweck der (körperlichen) Untersuchung nach § 81 a Abs. 1 S. 1 StPO darf nur die Feststellung verfahrenserheblicher Tatsachen sein, für deren Vorliegen bereits bestimmte Anhaltspunkte bestehen. Das ist nicht der Fall, wenn die mit der Untersuchung begehrten Feststellungen für das Verfahren nicht von Bedeutung sind, wenn also z.B. die körperliche Untersuchung mit Blutentnahme zum Zwecke des Nachweises von Substanzen im Körper auf die Feststellung von Umgang mit Cannabis gerichtet ist, der aber nach Inkrafttreten des Konsumcannabisgesetzes gerade nicht mehr unter das Betäubungsmittelgesetz gefällt.

 

 

Auslagen II: Falsch macht man es in Düsseldorf, oder: Richtig macht man es in Ravensburg

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Und dann noch drei Entscheidungen zur Auslagenerstattung nach Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung.

Ich beginne mit zwei Entscheidungen aus Düsseldorf. Das AG Düsseldorf hat im AG Düsseldorf, Beschl. v. 08.07.2024 – 312 OWi 143/23 – das Bußgeldverfahren gegen den Betroffenen wegen Verjährung eingestellt. Es sieht dann von der Auferlegung der notwendigen Auslagen des Betroffenen auf die Staatskasse ab und „begründet“ (?) das mit: „Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO i.V.m. § 105 OWiG, weil nach dem Akteninhalt eine Verurteilung des Betroffenen ohne das Verfahrenshindernis wahrscheinlich gewesen wäre..

Dagegen dann die Beschwerde des Verteidigers, die das LG Düsseldorf im LG Düsseldorf, Beschl. v. 13.08.2024 – 61 Qs 44/24 – verworfen hat und zwar mit der Begründung:

„Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Betroffenen als unbegründet verworfen, weil nach Aktenlage eine Verurteilung des Betroffenen zu erwarten war. Inhaltliche Einwendungen sind von ihm nicht erhoben worden Das formularmäßige Anfordern von Daten und Unterlagen vermag als solches Zweifel an der Schlüssigkeit des Vorwurfs nicht zu begründen.“

Über die beiden Beschlüsse decken wir dann lieber den Mantel des Schweigens. Denn es ist schon „frech“, was AG und LG da gemacht haben. Entweder kennt man die Rechtsprechung des BVerfG nicht oder man negiert sie bewusst. Das reicht jedenfalls als Begründung nicht aus.

Im Gegensatz dazu steht der LG Ravensburg, Beschl. v. 11.11.2024 – 1 Qs 54/24 -, wo man es richtig macht und ausführt:

„a) Soweit in dem Beschluss des Amtsgerichts Leutkirch für eine Anwendung des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO darauf abgestellt wird, dass nach Aktenlage – bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses – von einer Verurteilung des Betroffenen wegen des ihm zur Last gelegten Abstandsverstoßes auszugehen sei, kann letztlich dahinstehen, ob der Tatverdacht gegen den Betroffenen tatsächlich das für eine Anwendbarkeit des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO erforderliche Maß erreicht hat.

b) Die Möglichkeit, nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO von einer Erstattung der notwendigen Auslagen abzusehen, besteht nämlich nur dann, wenn zusätzlich zu dem Verfahrenshindernis als alleinigem eine Verurteilung hindernden Umstand weitere besondere Umstände hinzutreten, die es als billig erscheinen lassen, dem Betroffenen die Auslagenerstattung zu versagen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 2017, BvR 1821/16). Die erforderlichen besonderen Umstände dürfen dabei aber gerade nicht in der voraussichtlichen Verurteilung und der zu Grunde liegenden Tat gefunden werden, denn darin besteht bereits die Tatbestandsvoraussetzung für die Ermessensentscheidung des Gerichts (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 20. Juli 2010, 1 Ws 218/10). Grundlage für ein Absehen von der Erstattung notwendiger Auslagen muss vielmehr ein hinzutretendes vorwerfbares prozessuales Fehlverhalten des Betroffenen sein. Bei einem in der Sphäre der Verwaltungsbehörde oder des Gerichtes eingetretenen Verfahrenshindernis hingegen wird es regelmäßig der Billigkeit entsprechen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzubürden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 2017. BvR 1821/16; Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Auflage 2023, § 467, Rn. 10b).

c) Nach dieser Maßgabe fehlt es vorliegend an den erforderlichen besonderen Umständen. Ein prozessuales Fehlverhalten des Betroffenen ist nicht zu erkennen; vielmehr lag der Grund für den Eintritt des Verfahrenshindernisses der Verjährung darin, dass die Akte bei Gericht in Verstoß geraten war, und somit allein in der Sphäre der Justiz.

Vor diesem Hintergrund erscheint es im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung nach §§ 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO, 46 OWiG unbillig, den Betroffenen entgegen dem gesetzlichen Grundsatz aus §§ 467 Abs. 1 StPO. 46 OWiG mit seinen notwendigen Auslagen zu belasten.“

StPO II: Zwangsweise Abnahme von Fingerabdrücken, oder: Entsperren eines Mobiltelefons

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Als zweite LG-Entscheidung zur StPO stelle ich den LG Ravensburg, Beschl. v. 14.02.2023 – 2 Qs 9/23 jug. – vor. Es geht in der Entscheidung um die Zulässigkeit der Anordnung der – ggf. zwangsweisen – Abnahme von Fingerabdrücken des Beschuldigten für Zwecke der Entsperrung eines Mobiltelefons. Ist das zulässig und aufgrund welcher Grundlage? Das LG sagt: Zulässig, die Maßnahme wird durch § 81b Abs. 1 StPO gedeckt:

„Die zulässige Beschwerde des Beschuldigten hat in der Sache keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung entspricht der Sach- und Rechtslage. Die Kammer teilt grundsätzlich die Auffassung des Amtsgerichts (1.). Die Kammer weicht lediglich insoweit von der Begründung des Amtsgerichts ab, als dass die Ermittlungsmaßnahme auch auf § 81a StPO gestützt wurde (2.).

1. Die Voraussetzung des § 81b Abs. 1 1 Var. StPO liegen vor (a)), die angeordneten Maßnahmen sind von der einschlägigen Ermächtigungsgrundlage gedeckt (b)) und insbesondere verhältnismäßig (c)).

a) Gegen den Beschuldigten wird ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit sowie des versuchten unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln geführt.

b) Die Anordnung zur Abnahme von Fingerabdrücken des Beschuldigten auch gegen seinen Willen und erforderlichenfalls im Wege der zwangsweisen Durchsetzung (aa)), sowie die Anordnung zur Nutzung der hieraus resultierenden biometrischen Daten für Zwecke der Entsperrung des Mobiltelefons (bb)) finden ihre Grundlage in § 81b Abs. 1 StPO.

aa) 81b Abs. 1 1. Var. StPO ermächtigt schon dem Wortlaut nach zur Abnahme von Fingerabdrücken beim Beschuldigten. Die Maßnahme hat der Beschuldigte als Passivmaßnahme zu dulden (vgl. Rottmeier/Eckel, NStZ 2020, S. 193 (195)). Im Fall des Widerstands berechtigt § 81b Abs. 1 sogar die Anwendung unmittelbaren Zwangs, etwa durch Auflegen der Finger des Beschuldigten auf den Fingerabdrucksensor (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019, § 81b Rn. 15). Deshalb verletzt die Maßnahme weder die in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierte Selbstbelastungsfreiheit, noch den Kernbereich des fairen Verfahrens aus Art. 6 EMRK (vgl. Auch Bäumerich, NJW 2017, S. 2718 (2721)).

Der Einwand in der Beschwerdebegründung, der Beschuldigte habe sich freiwillig Fingerabdrücke abnehmen lassen, lässt sich aus den, der Kammer vorliegenden Ermittlungsakten so nicht entnehmen. Die einzige freiwillige Mitwirkungshandlung war die Abgabe einer Urinprobe am Tag der Wohnungsdurchsuchung.

bb) Auch die Nutzung der festgestellten Fingerabdrücke für Zwecke des Entsperrens des Mobiltelefons des Beschuldigten. ist als „ähnliche Maßnahme“ von § 81b Abs. 1 StPO umfasst.

Bei dieser Maßnahme handelt es sich sicherlich nicht um den klassischen Fall, welcher dem Erlass des § 81b Abs. 1 StPO zugrunde lag. Dem historischen Gesetzgeber lag vielmehr die Vorstellung zugrunde, die festgestellten Fingerabdrücke mit den Tatortspuren oder den Abdrücken einer. Kartei zu vergleichen, um damit einen Tatnachweis führen zu können (Bäumerich, NJW 2017, S. 2718 (2721), m.w.N.). Dabei ist zu beachten, dass der Gesetzgeber dies nicht in der Deutlichkeit in den Gesetzeswortlaut aufgenommen hat. Vielmehr formulierte er den Gesetzes-wortlaut offen, in dem er als Auffangterminus „ähnliche Maßnahmen“ verwendet. Dennoch genügt die Norm dem erforderlichen Bestimmtheitsgrundsatz, da jede Maßnahme an den beiden genannten Modalitäten und der amtlichen Überschrift „erkennungsdienstlichen Maßnahmen“ gemessen werden muss. Durch die offene Formulierung wird erreicht, dass sich der statische Gesetzeswortlaut an den jeweiligen Stand der Technik anpasst (vgl. Rottmeier/Eckel, NStZ 2020, S. 193 (194)). Mit der „technikoffenen“ Formulierung hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass auch solche Maßnahmen gedeckt sind, die dem gesetzlichen Leitbild der Abnahme und Verwendung von äußeren körperlichen Beschaffenheitsmerkmalen zu Identifizierungs- oder Tat nachweiszwecken entsprechen (vgl. Rottrneier/Eckel, NStZ 2020, S. 193 (195)). Im weiteren Sinn kommt der Nutzung der festgestellten Fingerabdrücke zum Entsperren eines Mobiltelefons auch eine• Identifizierungsfunktion zu (vgl. ebenda). Die Identifizierungsfunktion wird hier im Unterschied zum klassischen Fall des § 81b StPO allerdings nicht unmittelbar zum Führen eines Tatnachweises verwendet, sondern als Zwischenziel zur Erlangung der für den Nachweis erforderlichen ge-speicherten Daten. Inwieweit die Maßnahme notwendig für das Strafverfahren ist, ist eine Frage der noch zu thematisierenden Verhältnismäßigkeit. Die Verwendung von biometrischen Körpermerkmalen zur Entschlüsselung von Daten durch einen Abgleich mit den im Endgerät hinterlegten Schlüsselmerkmalen ist deshalb auch vom Wortlaut umfasst (vgl. ebenda; LG Baden-Baden Beschluss vom 26. November 2019 – 2 Qs 147/19; Goers in: BeckOK StPO, 46. Edition, 01.01.2023, § 81b Rn. 4.1).

Der Einwand in der Beschwerdebegründung, aus der Neufassung des § 81b sei zu schließen, dass die Norm den hiesigen Fall gerade nicht regeln soll, findet in den Gesetzgebungsmaterialien keinen Anklang. Die Änderung des § 81b StPO basiert auf der EU-Verordnung 2019/816 vom 17. April 2019, welche eine Verbesserung des europäischen Strafregisterinformationssystems bezweckt (vgl. BT-Drucksache Nr. 149/21 vom 12. Februar 2021). Der unveränderte Absatz 1 wurde um die Absätze 2 bis 5 ergänzt. Die neuen Absätze 2 bis 5 sind für den vorliegenden Fall aber unbedeutend. Aus den Gesetzesmaterialien geht ferner nicht hervor, inwieweit sich der Gesetzgeber gerade Gedanken über den Geltungsbereich des § 81b StPO für die Entsperrung von Mobiltelefonen mittels biometrischer Merkmale gemacht haben soll.

Die Kammer hebt schließlich hervor, dass § 81b Abs. 1 StPO lediglich die Verwendung der festgestellten Fingerabdrücke zur Entsperrung des Mobiltelefons deckt. Davon unterschieden werden muss unweigerlich der Zugriff auf die im Mobiltelefon gespeicherten Daten selbst, welcher nicht mehr von § 81b StPO umfasst ist.

c) Die Abnahme und Verwendung von Fingerabdrücken für das Entsperren des Mobiltelefons ist für Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens notwendig und mithin verhältnismäßig. Insbesondere bleibt das Grundrecht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung hinter dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafrechtspflege zurück.

Das Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit ist zugleich eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2022 – 2 BvR 54/22; Beschluss vom 8. März 2011 – 1 BvR 47/05). Der Tatverdacht muss sich hinsichtlich derjenigen Straftat ergeben, deren Aufklärung die Maßnahme dienen soll, und sie muss hierzu geeignet und erforderlich sein, indem die damit zu gewinnenden Erkenntnisse für die zu führenden Ermittlungen förderlich sind. (vgl. Trück in: MüKo StPO, 2. Auflage 2023, § 81b Rn. 7; BGH vom 11. Oktober 2018 — 5 BGs 48/18, StV 2020, 145 (146); LG Wuppertal vom 12. Januar 2021 — 24 Qs 10/20, BeckRS 2021, 861).

Das Entsperren des Mobiltelefons soll in einem nachfolgenden Schritt die Erlangung der auf dem Mobiltelefon gespeicherten Daten ermöglichen. Der Zugriff auf die gespeicherten Daten kann in der Regel mit ähnlicher Begründung auf andere StPO-Normen wie etwa § 110 StPO gestützt werden. Das Entsperren des Speichermediums ist mithin ein notwendiges Zwischenziel. Letztlich sind die dadurch erlangten Daten geeignet, den Tatnachweis für den Verdacht des vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu führen. Die Maßnahme ist auch erforderlich, weil eine Entsperrung des Mobiltelefons per Code mangels freiwilliger Herausgabe durch den Beschuldigten und Nicht-Auffindens etwaiger Zugangspasswörter bei der Durchsuchung nicht möglich ist. Ein Zugriff auf die gespeicherten Daten kann unter gewissen Umständen je nach Modell zwar auch auf andere Weise erreicht werden. Ein solches Vorgehen ist jedoch aufgrund des Zeit- und Kostenaufwands nicht gleichermaßen effektiv im Vergleich zur hiesigen Maßnahme.

Die Verwendung der festgestellten Fingerabdrücke ist auch angemessen, da das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aufgrund der hier eher geringen Eingriffsintensität hinter dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung zurückbleibt. Bei der Abwägung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Speicherung der Fingerabdrücke von nur kurzer Dauer ist und der Zweck der Maßnahme mit dem Entsperren des Mobiltelefons erreicht ist. Auch in die Abwägung zu stellen ist der ermöglichte eingriffsintensivere Zugriff auf die gespeicherten Daten, welcher neben dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung auch das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme tangiert. Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass es sich um eine offene Ermittlungsmaßnahme handelt. Dem Beschuldigten wird weiter eine Tat vorgeworfen, die die Grenze eines Bagatelldelikts deutlich übersteigt. Schließlich liegt eine nicht geringe Menge an Betäubungsmitteln vor. Zudem steht der Verdacht des Handelns mit den Marihuana-Zigaretten im Raum, sodass neben dem unrechtmäßigen Erwerb und Besitz ein möglicher Handel als weiteres Unrecht hinzutritt. Beachtlich ins Gewicht fällt ferner der Umstand, dass das Mobiltelefon selbst mit großer Wahrscheinlichkeit ein Tat- und Beweismittel darstellt. Es ist zu erwarten, dass die darauf gespeicherten Daten Auskunft über Bestellvorgänge sowie Kontakte zu Händlern und Abnehmern im Zusammenhang mit den beim Zoll entdeckten Marihuana-Zigaretten geben.

2. Hingegen scheidet § 81a StPO als Rechtsgrundlage aus, weil die Entsperrung eines Datenträgers durch Verwendung biometrischer Merkmale nicht als körperliche Untersuchung verstanden werden kann. Selbst bei Herstellung einer Verbindung zwischen Finger und Mobiltelefon durch direktes Auflegen des Fingers des Beschuldigten auf das Mobiltelefon, fällt nicht in den Bereich des § 81a StPO (vgl. Trück in: MüKo StPO, 2. Auflage 2023, § 81a Rn. 9). Für die Abnahme der Fingerabdrücke mittels Fingerabdrucksensor greift wegen des ausdrücklichen Wortlauts bereits § 81b StPO als Befugnisnorm ein, so dass eine parallele Anwendung oder ein Rückgriff auf § 81a StPO nicht erforderlich ist.“

Dazu kurz – mehr dazu demnächst vom Kollegen Deutscher im StRR:

Mir ist nicht ganz klar, warum das LG, da in der StPO ausdrücklich die Aufnahme von Fingerabdrücken nennt, auf die „ähnlichen Maßnahmen“ abstellt. Zudem führt § 81b StPO als übergreifenden Zweck die „Durchführung des Strafverfahrens“ an und lässt dazu als Mittel die Aufnahme von Fingerabdrücken eben zu. Zudem unterscheidet das LG auch ausdrücklich zwischen der Abnahme von Fingerabdrücken und dem (späteren) Zugriff auf die Daten des Mobiltelefons. Über die Ausführungen zur Verwendung kann man streiten, und zwar sowohl, ob sie hier überhaupt (schon) erforderlich waren als auch inhaltlich.