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Gebühren nach Rücknahme des Strafbefehlsantrags, oder: Entsteht ggf. auch die „Befriedungsgebühr“?

Daumen

Das zweite Posting ist dann auch ein „Noch-einmal-Posting“. Denn es geht noch einmal um die Gebühren des Verteidigers nach Rücknahme des Strafbefehlsantrags. Darüber habe ich ja schon häufiger berichtet.

Dem dazu ergangegen LG Gießen, Beschl. v. 04.11.2024 – 7 Qs 147/24 – liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Rechtsanwalt hat den Beschuldigten in einem gegen diesen geführten Verfahren wegen des Vorwurfs des Landfriedensbruchs vertreten. Gegen den Mandanten war in einem Strafbefehl des AG vom 12.04.2021 eine Geldstrafe festgesetzt worden. Mit Schriftsatz vom 21.04.2021 zeigte der Beschwerdeführer unter beigefügter Vollmacht vom 21.04.2021 die Verteidigung des Mandanten an, beantragte Akteneinsicht und legte gleichzeitig Einspruch gegen den Strafbefehl ein.

Mit Schriftsatz vom 01.02.2022 hat der Rechtsanwalt für den Beschuldigten zu den Tatvorwürfen Stellung genommen und beantragt, die Klage gemäß § 411 Abs. 3 StPO zurückzunehmen sowie das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO einzustellen, da das seinem Mandanten vorgeworfene Verhalten keine Straftat darstelle. Unter dem 23.02.2022 nahm die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage nach Maßgabe des § 411 Abs. 3 S. 1 StPO unter Bezugnahme auf die rechtlichen und tatsächlichen Ausführungen des Rechtsanwalts zurück. Mit Schreiben vom 29.03.2022 und 16.05.2022 erkundigte sich der Rechtsanwalt bei der Staatsanwaltschaft nach dem Sachstand und verwies darauf, dass das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ohne Verzögerungen einzustellen sei und dieses nicht in der Schwebe gehalten werden dürfe. Zur Begründung wurde auf die Ausführungen in dem Schriftsatz vom 01.02.2022 Bezug genommen. Mit Verfügung vom 24.08.2022 hat die Staatsanwaltschaft dann das Verfahren gegen den Beschuldigten gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Das AG hat am 01.02.2023 die notwendigen Auslagen des Beschuldigte der Staatskasse auferlegt.
Im Rahmen der Kostenfestsetzung hat der Rechtsanwalt die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, die Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG, die zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV RVG und eine Verfahrensgebühr für das Ermittlungsverfahren nach Nr. 4104 VV RVG sowie die Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG geltend gemacht. Die Vertreterin der Staatskasse hat ablehnend Stellung genommen. Nach ihrer Auffassung soll die Nr. 4104 VV RVG nicht entstanden sein, weil der Verteidiger keine Tätigkeit im Ermittlungsverfahren ausgeübt habe.
Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Rechtsanwalts hatte Erfolg:

„Die Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 VV RVG ist in Höhe von 181,50 € netto entstanden.

Die Gebühr Nr. 4104 VV RVG entsteht für eine Tätigkeit des Verteidigers im vorbereitenden Verfahren bis zum Eingang u.a. des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls bei Gericht. Der Beschwerdeführer wurde hier zwar erstmals nach Eingang des Antrages auf Erlass eines Strafbefehls bei Gericht für den Mandanten tätig.

Nach übereinstimmender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur wird ein Verfahren jedoch nach Rücknahme des Antrags auf Erlass des Strafbefehls durch die Staatsanwaltschaft in den Stand des Ermittlungsverfahrens zurückversetzt (vgl. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., 2023, § 411 Rn. 8). War der Verteidiger bereits zuvor tätig, kann er die Gebühr für das vorbereitende Verfahren nach Nr. 4104 VV RVG nicht erneut verdienen (§ 15 Abs. 2 RVG), da es sich insoweit um dieselbe Angelegenheit handelt. War der Anwalt dagegen — wie hier — im vorbereitenden Verfahren noch nicht tätig, dann verdient er mit der „Zurückversetzung“ des Verfahrens in das Ermittlungsverfahren nunmehr die dortige Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 VV-RVG, wenn er entsprechend tätig wird.

Nicht einheitlich beurteilt wird hingegen die Frage, welche Anforderungen an das erneute Tätigwerden des Verteidigers in diesem Stadium zu stellen sind, und ob hierunter auch eine Tätigkeit fallen kann, welche zugleich die Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG auslöst. Das Landgericht Nürnberg-Fürth geht diesbezüglich (wohl) davon aus, dass es nach der Rücknahme des Strafbefehls zunächst erneuter Ermittlungen seitens der Staatsanwaltschaft bedarf und erst ein hierauf reagierendes Verhalten des Verteidigers die Verwirklichung des Tatbestands des Nr. 4104 VV RVG begründen kann und daher ein etwaiges Gespräch des Verteidigers mit seinem Mandanten oder der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die Einstellung des Verfahrens hierfür nicht genügt, sondern gebührenrechtlich vielmehr in Nr. 4141 VV RVG als die dort erforderliche Mitwirkung abgegolten ist (vgl. LG Nürnberg-Fürth Beschl. v. 13.10.2020 — 7 Qs 56/20, BeckRS 2020, 28998 Rn.10-12).

Die vorgenannte Auffassung teilt die Kammer jedoch nicht. Vorliegend hat der Beschwerdeführer in dem „wiederaufgelebten“ Ermittlungsverfahren, also nach Rücknahme der öffentlichen Klage am 23.02.2022, gegenüber der Staatsanwaltschaft auf die Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO hingewirkt und diese erneut unter Verweis auf die zuvor dargelegte Rechtsauffassung beantragt. Insoweit handelt es sich zutreffend auch um eine Mitwirkung i.S. der Nr. 4141 VV RVG. Das RVG honoriert auf diesem Weg Tätigkeiten des Verteidigers, die zu einer Vermeidung der Hauptverhandlung und damit beim Verteidiger zum Verlust der Terminsgebühr führen (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, 26. Aufl. 2023, RVG VV 4141 Rn. 1, 2.). Es ist jedoch nicht ersichtlich, warum dieser Umstand verhindern sollte, dass zusätzlich eine Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 VVRVG ausgelöst werden kann. Diesbezügliche Anhaltspunkte sind dem Gesetz nicht zu entnehmen. Vielmehr gilt, dass die Verfahrensgebühr Nr. VV 4104 RVG grundsätzlich unabhängig von der Wertigkeit oder dem Umfang der Tätigkeit entsteht. Die Verfahrensgebühr entsteht für alle Tätigkeiten des Rechtsanwalts, also zum Beispiel auch für Besprechungen/Telefonate mit dem Mandanten, die sich gerade nicht aus der Verfahrensakte ergeben. Es werden insoweit keine hohen Anforderungen gestellt (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, 26. Aufl. 2023, RVG VV 4104 Rn. 6, 7). Daher überzeugt es nicht, diese Anforderungen deshalb und nur für den Fall zu stellen, weil es sich hier nicht um ein „originäres“, sondern vielmehr um ein nachträgliches/ zurückversetztes Ermittlungsverfahren handelt. Demzufolge dürften bereits die Entgegennahme der Mitteilung über die Rücknahme des Strafbefehlsantrags und die daraufhin stattfindende Besprechung oder Unterrichtung des Mandanten hinsichtlich des weiteren Verfahrensverlaufs genügen, um die zusätzliche Gebühr nach Nr. 4104 VV RVG auszulösen.

In der Folge kann die Entgeltpauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen auch in diesem Verfahrensstadium zusätzlich eingefordert werden, da Nr. 7002 Anm. 1 VV RVG vorgibt, dass diese in jeder Angelegenheit gefordert werden kann und § 17 Nr. 10 RVG klarstellt, dass das Ermittlungsverfahren/vorbereitende Verfahren und das erstinstanzliche Verfahren verschiedene Angelegenheiten sind.“

Zutreffend: So z.B. auch: LG Bamberg, Beschl. v. 8.11.2023 – 13 Qs 79/23, AGS 2023, 556 ; LG Berlin, RVGreport 2017, 106 = AGS 2017, 80) und ja grds. auch das LG Nürnberg-Fürth im zitierten LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 13.10.2020 – 7 Qs 56/20, AGS 2021, 174. Nur bei der Nr. 4141 VV RVG irrt das LG Nürnberg-Fürth aus den dargelegten Gründen.

Pflichti III: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Der „Kampf“ geht weiter

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Und im dritten Posting dann, wie könnte es sein, noch zwei Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, dem Dauerbrenner im (neuen) Recht der Pflichtverteidigung.

Hier dann der mal wieder sehr schön begründete LG Gießen, Beschl. v. 26.06.2023 – 1 Qs 12/23, den ich mal wieder voll einstelle, weil er die Argumente für die Zulässigkeit noch einmal sehr schön zusammenstellt:

„Die zulässige, insbesondere statthafte (§ 142 Abs. 7 StPO), sofortige Beschwerde ist begründet.

Zum Zeitpunkt der Entscheidung über die sofortige Beschwerde lag zwar kein Fall der notwendigen Verteidigung (§ 68 JGG i.V.m. § 140 StPO) mehr vor, weil das Verfahren gegen den Beschuldigten zwischenzeitlich gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde. Über einen Antrag auf Beiordnung ist jedoch gemäß § 141 Abs. 1 StPO (i.V.m. § 2 Abs. 2 JGG) unverzüglich, d.h. so bald wie möglich ohne schuldhaftes Zögern, also ohne sachlich nicht begründete Verzögerung zu entscheiden (vgl. Meyer-Goßner/Sch-mitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 141 Rn. 7; Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, JGG, 11. Auflage 2021, § 68a Rn. 3). Gemäß § 142 Abs. 1 StPO legt die Staatsanwaltschaft den Antrag eines Beschuldigten unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vor.

Insofern ist innerhalb der Rechtsprechung jedoch umstritten, ob eine Bestellung auch noch rückwirkend etwa nach Ende des Verfahrens erfolgen kann, wenn trotz rechtzeitiger Antragstellung durch justizinterne Vorgänge eine solche unterblieben ist (vgl. u.a. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O. § 142 Rn. 19; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 142 Rn. 14; BeckOK StPO/Krawczyk, 47. Ed. 1.4.2023, StPO § 142 Rn. 30; Eisenberg/Kölbel, a.a.O. § 68a Rn. 15). Das praktische Interesse der Beschuldigten liegt in diesen Fällen vielfach darin, dass mit der nachträglichen Bestellung, d.h. mit dem rückwirkenden Übergang von der Wahl- zur Pflichtverteidigung, eine Befreiung von den Verteidigerkosten einhergehen kann. Insofern wird — zumindest in Jugendstrafverfahren im Hinblick auf den Grundgedanken des § 2 Abs. 1 JGG und dem folgend der Kostenbefreiung sowie dem Anliegen, erhebliche finanzielle Belastungen wegen ihrer spezialpräventiv abträglichen Implikationen zu vermeiden — vielfach vertreten, eine Bestellung sei auch noch rückwirkend nach Abschluss des vorzunehmen (vgl. Eisenberg/Kölbel, a.a.O. § 68a Rn. 15; LG Neubrandenburg, BeckRS 2016, 20411; BeckOK StPO/Krawczyk. a.a.O. § 142 Rn. 30; LG Bonn, BeckRS 2010, 6327; AG Kempten, BeckRS 2019, 23506). Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 09.12.2019 eine Stärkung des Rechts beschuldigter Personen auf Verteidigung im Strafverfahren zur Folge hat.

Von der obergerichtlichen Rechtsprechung wurde eine rückwirkende Bestellung nach Verfahrensabschluss bislang überwiegend abgelehnt, da eine Beiordnung weder dem Kosteninteresse des Verteidigers noch des Beschuldigten dienen solle, sondern lediglich dem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O. § 142 Rn. 19; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, a.a.O. § 142 Rn. 14; BeckOK StPO/Krawczyk, a.a.O. § 142 Rn. 30; OLG Brandenburg, NStZ 2020, 625; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 23. März 2022 —1 Ws 28/22 (S) juris; BGH, NStZ-RR 2009, 348; OLG Bremen, NStZ 2021, 253).

Die Kammer folgt jedoch der Auffassung, dass es ausnahmsweise möglich und geboten ist, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung (§ 140 StPO bzw. § 68 JGG) vorliegen, der Beiordnungsantrag noch vor (rechtskräftigem) Abschluss des Verfahrens gestellt wurde und der Antrag vor Verfahrensabschluss aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde (vgl. u.a. OLG Stuttgart, Beschluss vom 15. Dezember 2022 — 4 Ws 529/22 —, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 —1 Ws 260/21 —, juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 — Ws 962/20 juris; LG Düsseldorf, BeckRS 2021, 36883; LG Köln NStZ 2021, 639; LG Wuppertal BeckRS 2021, 32474; LG Bremen, Beschluss vom 17. August 2020 — 3 Qs 221/20 juris; LG Hechingen, BeckRS 2020, 14359; LG Magdeburg, BeckRS 2020, 2477; LG Saarbrücken, Beschluss vom 26.02.2004 — 4 Qs 10/04 1, juris Ls.; a.A. u.a.: OLG Frankfurt, Beschluss vom 23. Februar 2023 — 7 Ws 30/23 —, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 24. Oktober 2012 —111-3 Ws 215/12 —, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 — 2 Ws 112/20 —, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2021 — 1 Ws 12/21 —, juris; KG Berlin, Beschluss vom 5. November 2020 — 5 Ws 217/19 —, juris). Andernfalls besteht die Gefahr, dass eine an sich gebotene Pflichtverteidigerbestellung wegen verzögerter Sachbearbeitung vermieden wird und eine effektive Verteidigung wegen der ungeklärten Kostenfrage unterbleibt (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, a.a.O. § 142 Rn. 30 m.w.N.).

Die Voraussetzungen des Ausnahmefalls sind vorliegend erfüllt. Der Antrag auf Beiordnung wurde auf die Übersendung einer schriftlichen Anhörung an den Beschuldigten bereits am 21.06.2022 gestellt. Die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung nach § 68 JGG lagen vor. Im Falle der Anwendung von Jugendstrafrecht hätte im Falle einer Verurteilung im Hinblick auf die Einbeziehung der früheren Verurteilung durch das Landgericht die Bildung einer Einheitsjugendstrafe (§ 31 Abs. 2 JGG) gedroht, sodass ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 68 Nr. 5 JGG vorgelegen hätte (vgl. BeckOK JGG/Noak, 29. Ed. 1.5.2023, JGG § 68 Rn. 27 m.w.N.). Insoweit kann es auch bereits dahinstehen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO (i.V.m. § 68 Nr. 1 JGG) begründet war (vgl. Meyer-Goß-ner/Schmitt, a.a.O., § 140 Rn. 23c), weil der Beschuldigte für den Fall einer neuerlichen Verurteilung — soweit es nicht zu einer Einbeziehung gekommen wäre — mit dem Widerruf der Bewährung aus dem Urteil des Landgerichts Gießen (1 KLs 605 Js 3922/21) — Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren auf Bewährung — hätte rechnen müssen. Schließlich ist die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben, auf die der Beschuldigte keinen Einfluss hatte.

Eine Entscheidung über den Antrag auf Beiordnung vom 21.06.2021 hätte zeitnah nach dessen Eingang ergehen müssen. Gemäß § 141 Abs. 1 StPO wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Der Anhörungs-bogen wurde dem Beschuldigten mit Datum vom 10.06.2022 übersandt. Eine Entscheidung über den Antrag ist aufgrund justizinterner Vorgänge bis zur Einstellung des Verfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO am 13.12.2022 unterblieben. Das Schreiben des Verteidigers ging zunächst am 21.06.2022 beim Polizeipräsidium Mittelhessen eingegangen. Das Verfahren wurde mit Abverfügung vom 18.08.2022 an die Staatsanwaltschaft Gießen abgegeben und ging dort am 23.08.2022 ein. Erst mit Verfügung vom 28.02.2023 wurde die Sache — nach zwischenzeitlicher Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO und Erinnerung des Verteidigers an seinen Antrag — an das Amtsgericht Gießen mit dem Antrag, den Verteidiger als Pflichtverteidiger zu bestellen abgegeben. Von einer zeitnahen Entscheidung kann daher nicht mehr die Rede sein.“

Und aus den zutreffenden Argumenten des LG Gießen ist die Auffassung des LG Frankfaurt am Main, das im LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 12.06.2023 – 5/27 Qs 22/23 – eine rückwirkende Bestellung abgelehnt hat, falsch. Wir schenken uns daher Näheres zu dem Beschluss.

Die Auslagenerstattung im Bußgeldverfahren, oder: Wenn das Lichtbild nicht passt

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Im zweiten Posting des Tages dann mal wieder etwas zur Auslagenerstattung im Bußgeldverfahren.

Anhängig war gegen den 72jährigen Betroffenen ein Verfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Bereits nach Erhalt des Anhörungsbogens hatte der Betroffene seinen Verteidiger beauftragt, der daraufhin Akteneinsicht beantragte und mitteilte, dass der Betroffene keine Angaben zur Sache machen werde. Das Regierungspräsidium Kassel forderte daraufhin zur Identifizierung des Betroffenen von der Stadt Idstein ein Vergleichsfoto . Es handelte sich dabei um ein zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre altes Vergleichsfoto des Betroffenen aus dem Jahre 2017. Dem Verteidiger wurde dem Akteneinsicht gewährt.

Gegen den dann später ergehenden Bußgeldbescheid, legte der Betroffene Einspruch ein und gab an, dass der Betroffene und die auf den Fahrerfotos abgebildete Person nicht identisch seien, da die abgebildete Person deutlich jünger sei. Er wies zudem auf die Unterschiede bei der Augenstellung und der Ohren hin und teilte mit, dass das betreffende Fahrzeug in der Vergangenheit von weiteren Personen gefahren worden sei.

Beim AG hat der Betroffene dann noch darauf hingewiesen, dass er sich zum Tatzeitpunkt am 20.07.2019 im Urlaub in Ägypten befunden habe und daher nicht Fahrer gewesen sein könne. Die Belege für die Unterlagen der Reise im Zeitraum vom 13.07.2019 bis zum 24.07.2019 wurden vom Verteidiger vorgelegt.

Das AG hat den Betroffenen dann aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Das Amtsgericht hat allerdings davon abgesehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen. Dabei wurde hinsichtlich der Auslagenentscheidung die Vorschrift des § 109 a Abs. 2 OWiG angewandt. Dagegen die sofortige Beschwerde, die mit dem LG Gießen, Beschl. v. 08.06.2021 – 7 Qs 45/21 – Erfolg hatte:

„Nach § 109a Abs. 2 OWiG kann von der Regel, dass bei einem Freispruch auch die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse auferlegt werden, abgesehen werden, soweit dem Betroffenen Auslagen entstanden sind, die er durch ein rechtzeitiges Vorbringen entlastender Umstände hätte vermeiden können.

Dabei stellt § 109a Abs. 2 OWiG eine Modifikation der Grundregel des § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StPO dar, der sich im Bußgeldverfahren als unbefriedigend und unzureichend erwiesen hatte.

Die Anwendung der Vorschrift des § 109a Abs. 2 OWiG setzt indes voraus, dass dem Betroffenen entlastende Umstände bekannt gewesen sind, die er nicht rechtzeitig vorgebracht hat, obwohl ihm dies möglich und zumutbar gewesen wäre.

Entlastende Umstände müssen, wie in § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StPO wesentlich, d.h. für das „Ob“, das „Wie“ und die Dauer der Verfolgung des Betroffenen und den Umfang der Ermittlungen von maßgeblichem Einfluss sein (vgl. KK-OWiG/Hadamitzky, 5. Aufl. 2018, OWiG § 109a Rn. 10).

Wie auch das Amtsgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausführte, ist streitig, ob der Name des wahren Täters einen wesentlichen Umstand darstellt (vgl. KK-OWiG/Hadamitzky, 5. Aufl. 2018, OWiG § 109a Rn. 10).

Insoweit kommt es im Einzelfall darauf an, ob der Name des anderen für den Gang und die Dauer der weiteren Ermittlungen, etwa zur Prüfung der Wahrhaftigkeit der Einlassung des Betroffenen, relevant ist (vgl. KK-OWiG/Hadamitzky, 5. Aufl. 2018, OWiG § 109a Rn. 10; LG Cottbus, Beschluss vom 25. 4. 2007 – 24 Qs 66/07).

Das Amtsgericht ist im Rahmen der von ihm vorgenommenen Einzelfallprüfung in unzutreffender Weise von einem wesentlichen Umstand ausgegangen. Gestützt hat es diese Feststellung darauf, dass im Falle der Benennung des wahren Fahrers ein Ab-gleich mit einem beigezogenen Lichtbild der benannten Person eine Abkürzung der Ermittlungen herbeigeführt hätte, sodass eine rechtzeitige Benennung des Fahrers für den Verfahrensausgang kausal gewesen sein würde.

Zwar mag es sein, dass eine Benennung des wahren Fahrers durch den Beschwerdeführer zu einer Abkürzung des Verfahrens gegen ihn geführt hätte, allerdings hat das Amtsgericht verkannt, dass es auf die namentliche Benennung des Fahrzeugführers hier ersichtlich nicht ankam.

Der Name des wahren Fahrzeugführers wurde im gesamten Verfahren, auch in der durchgeführten Hauptverhandlung, gerade nicht bekannt. Der Beschwerdeführer wurde durch das Amtsgericht bereits nach vergleichender Inaugenscheinnahme seiner Person in der Hauptverhandlung und einem Abgleich mit dem Messfoto freigesprochen. Entsprechend führte das Amtsgericht in den Urteilsgründen aus, dass bei Ansehung des Betroffenen in der Hauptverhandlung und Abgleich mit dem Lichtbild keine Zweifel daran bestünden, dass es sich um unterschiedliche Personen handele. Eines Vergleichs mit dem wahren Fahrzeugführer bedurfte es damit nicht.

Im Übrigen wurde der Name des tatsächlichen Fahrers auch nicht in der Weise relevant, dass er zur Prüfung der Wahrhaftigkeit der Einlassung des Betroffenen, der die Fahrereigenschaft gegenüber der Verwaltungsbehörde und dem Amtsgericht stets bestritten hatte, erforderlich gewesen wäre.

Die Kostenfolge des § 109a Abs. 2 OWiG vermag schließlich auch nicht der Umstand rechtfertigen, dass erst mit Schriftsatz vom 10.08.2020 das Amtsgericht darauf hingewiesen wurde, dass der Betroffene sich zum Zeitpunkt der Fahrt im Sommerurlaub befunden habe und entsprechende Buchungsunterlagen für den Zeitraum vom 13.07.2019 bis 24.07.2019 vorgelegt wurden.

Es lässt sich zum einen nicht annehmen, dass durch ein rechtzeitiges Vorbringen der Urlaubsabwesenheit des Betroffenen das Verfahren zu einem früheren Zeitpunkt eingestellt und das Entstehen der Auslagen des Betroffenen vermieden worden wäre, da auch dem Amtsgericht im Hinblick auf die Möglichkeit des Nichtantretens von gebuchten und bereits bezahlten Reisen die Reiseunterlagen für eine Einstellung des Verfahrens nicht ausgereicht haben. Die Durchführung der Hauptverhandlung wurde dennoch für erforderlich gehalten, weil aus Sicht des Amtsgerichts aufgrund der in der Akte befindlichen Lichtbilder – auch für die Verwaltungsbehörde — nicht ersichtlich oder gar offensichtlich sei, dass der Betroffene tatsächlich nicht der Fahrer des Fahrzeuges zur Tatzeit gewesen sei. Diese Zweifel vermochten die erst mit anwaltlichem Schreiben vom 10.08.2020 eingereichten Reiseunterlagen auch nicht ausräumen.

Zum anderen ist bei der vorzunehmenden Ermessensausübung der Normzweck der Regelung des § 109a OWiG zu beachten. Er will Missbräuchen vorbeugen und ist deshalb nur in Fällen heranzuziehen, in denen nicht rechtzeitiges Vorbringen als missbräuchlich oder unlauter anzusehen ist. (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.08.2013 – 2 BvR 864/12)

Ein solches missbräuchliches oder unlauteres Verteidigungsverhalten lässt sich hier nicht annehmen. Der nicht rechtzeitige Vortrag zur Urlaubsabwesenheit erfolgte nach der unwiderlegten Begründung des Betroffenen deshalb erst mit Schriftsatz vom 10.08.2020, da dem Beschwerdeführer dies erst zu diesem Zeitpunkt aufgefallen sei. Die Fahrereigenschaft hat der Betroffene vor Abgabe des Verfahrens an das Amtsgericht gegenüber der Verwaltungsbehörde und sodann auch mit weiteren anwaltlichen Schreiben gegenüber dem Amtsgericht indes stets bestritten.“

Belehrungsfehler III: Die (fehlende) Belehrung des potentiellen (Sekunden)Schläfers

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Ich hatte vor einiger Zeit über den OLG Nürnberg, Beschl. v. 04.07.2013 – 2 OLG Ss 113/13 – (vgl. dazu Belehrungsfehler I: Der verdichtete Tatverdacht) und den LG Saarbrücken, Beschl. v. 27.05.2013 – 6 Qs 61/13 (vgl. dazu Belehrungsfehler II: Das LG hebt auf, das AG hat nur durchgewunken) berichtet. Nun hat mich ein Kollege auf den LG Gießen, Beschl. v. 09.12.2013 – 7 Qs 196/13 – aufmerksam gemacht, der sich auch mit der Frage der Erforderlichkeit einer Belehrung befasst. Ausgangspunkt ist/war folgender Sachverhalt: Dem Beschuldigten wird ein Verstoß gegen §§ 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgeworfen. Er soll infolge Übermüdung (Sekundenschlaf) einen Auffahrunfall mit erheblichem Sachschaden verursacht haben. Deswegen ist dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis vom AG gem. § 111a StPO vorläufig entzogen worden. Der dringende Verdacht eines kurzzeitigen Einschlafens des Beschuldigten wird u.a. auf Angaben des Beschuldigten gegenüber einem POK X. gestützt, wonach er wohl kurz eingeschlafen zu sein. Die Beschwerde des Beschuldigten, mit der u.a. die Unverwertbarkeit dieser Angaben geltend gemacht worden ist, hatte keinen Erfolg

Das LG bejaht die Verwertbarkeit der Angaben des Beschuldigten gegenüber dem Polizeibeamten mit der Begründung: Auch wenn bei einem Auffahrunfall bereits aufgrund der Tatsache des Auffahrens gegen den Hintermann der Verdacht einer Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 1 Abs. 2, 4, 49 Abs. 1 Nr. 1 und 4 StVO, 24 StVG bestehen könne, begründe dieser allgemeine Verdacht noch keine Verpflichtung des Vernehmungsbeamten zur Belehrung gemäß §§ 136 Abs. 1, 163a Abs. 4 StPO schon vor der ersten Befragung des Auffahrenden. Die Beurteilung durch POK X., der davon ausgegangen sei, es gehe noch um Informationsgewinnung, sei nicht ermessenfehlerhaft oder missbräuchlich. Dies zeigte sich für das LG auch darin, dass er den Beschuldigten sofort nach dessen Äußerung zum Einschlafen gemäß § 136 Abs. 1 StPO belehrt hatte.

Eben kann man das m.E. nur sagen. Denn, wenn der Polizeibeamte den Beschuldigten nämlich sofort nach seiner Äußerung zum Einschlafen belehrt hat, dann spricht das m.E. dafür, dass sich auch schon vorher seine potentielle „Täterschaft“ bereits so verdichtet hatte, dass er nicht mehr nur „Auskunftsperson“ war, sondern bereits als Tatverdächtiger im Raum stand. Und das losgelöst vom Vorwurf des Strafverfahrens mit einem Verstoß gegen § 315c StGB, sondern ggf. auch und vor allem wegen des Vorwurfs einer Ordnungswidrigkeit nach §§ 1 Abs. 2, 4, 49 Abs. 1 Nr. 1 und 4 StVO, 24 StVG. Insoweit hätte er auf jeden Fall belehrt werden müssen. Die Entscheidung des LG legt daher m.E. die „Belehrungsschwelle“ zu weit nach hinten. Anders und richtig das LG Saarbrücken in der o.a. Entscheidung.

Pflichtverteidiger gibt es nicht, der Rechtspfleger wird es schon richten…

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(Zulässige) Revisionsbegründungen sind nicht immer einfach zu erstellen, manchmal ist es sogar richtig schwierig, insbesondere dann, wenn es um Verfahrensrügen geht. Da stellt sich dann nicht selten die Frage, ob deshalb ggf. dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden muss, damit dieser das für ihn übernimmt (was allerdings angesichts der doch recht zahlreichen unzulässigen Revisionen, obwohl sie die von Verteidigern begründet worden sind, keine Garantie für die Zulässigkeit ist). Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird von der Rechtsprechung in diesen Fällen allerdings dann nicht als erforderlich angesehen, wenn es auch ein Rechtspfleger machen kann. Begründet wird das mit dem Hinweis auf § 345 Abs. 2 StPO. So auch der LG Gießen, Beschl. v. 08.07.2013 – 7 Qs 108/13:

„Die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung liegen nicht vor. Eine solche kommt vorliegend nur unter den Voraussetzungen des § 140 Absatz 2 StPO in Betracht. Maßgeblich ist, ob die Revisionsbegründung besondere Schwierigkeiten bereitet (Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 140 Rdnr. 29). Allein die Annahme, das Revisionsrecht sei zu komplex und kompliziert, führt nicht dazu, in jedem Fall einen Verteidiger für das Revisionsverfahren beizuordnen. Denn die in § 345 Absatz 2 StPO vorgesehene Möglichkeit, die Revisionsanträge und ihre Begründung zu Protokoll der Geschäftsstelle zu erklären, wird vom Gesetz als gleichwertig erachtet (vgl. OLG Karlsruhe StraFo 2006, 497). Die Beiordnung ist aber immer dann geboten, wenn zu besorgen ist, dass der als Urkundsbeamte tätige Rechtspfleger mit der Abfassung einer besonders schwierigen Revisionsbegründung überfordert sein könnte (OLG Koblenz StraFo 2007, 117). So liegt der Fall hier jedoch nicht. In der Revisionsbegründung, mit der er gleichzeitig um Beiordnung ersucht, macht der Verteidiger u. a. geltend, dem Angeklagten sei im Erkenntnisverfahren zu Unrecht kein Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Der Angeklagte erhebt also Verfahrensrügen. Zwar sind an Verfahrensrügen hohe formelle Anforderungen zu stellen. Jedoch war die zulässige Erhebung vorliegend ohne Einsichtnahme in die Verfahrensakten möglich. Die Akte ist nicht umfangreich und den für die Anbringung der Rüge notwendigen Akteninhalt hatte der Angeklagte größtenteils selbst in der Hand. Lediglich auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung hatte er insoweit mangels eigenen Akteneinsichtsrechts zunächst keinen Zugriff. Mittels einer Abschrift aus der Akte (§ 147 Absatz 7 StPO) lässt sich dies ohne weiteres beheben. Damit ist es in diesem Falle ausreichend, den Angeklagten auf die Möglichkeit der Begründung einer Revision zu Protokoll der Geschäftsstelle zu verweisen.“

Na ja. Also Abschrift aus der Akte? Das muss dann aber schnell gehen, was leider – wenn überhaupt – häufig nicht der Fall ist. Und:  „Die Akte ist nicht umfangreich und den für die Anbringung der Rüge notwendigen Akteninhalt hatte der Angeklagte größtenteils selbst in der Hand.“ Das kann der Angeklagte kaum wissen. Aber der Rechtspfleger wird/soll es dann richten.