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Bewährung III: Widerrufsklassiker, oder: Erneute Straffälligkeit und/oder Auflagenverstoß

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Die dritte Entscheidung ist dann eine LG-Entscheidung betreffend den Widerruf (§ 56f StGB). Sie stammt vom LG Berlin. Geschickt hat mir den LG Berlin, Beschl. v. 02.12.2020 – 510 Qs 90/20 der Kollege F. Glaser aus Berlin. Er geht um den Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung in den Fällen erneuter Straffälligkeit und/oder eines Auflagenverstoßes. Also ein Klassiker 🙂 .

Das AG hatte widerrufen. Das LG hat den Widerruf gehalten:

„Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung sind in zweifacher Hinsicht erfüllt.

1. Durch seine erneute Straffälligkeit hat der Beschwerdeführer gezeigt, dass sich die der Straf-aussetzung zugrunde liegende Erwartung, er werde keine Straftaten mehr begehen, als unzutreffend erwiesen hat (§ 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB).

Grundlage der zu treffenden Widerrufsentscheidung bilden nicht nur die zuletzt geahndeten Ver-gehen, sondern darüber hinaus das gesamte Verhalten des Beschwerdeführers während der Bewährungszeit. Hierbei fällt insbesondere ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer bereits am 15. November 2017 und damit nur zwei Monate, nachdem das Urteil im Ausgangsverfahren, durch das ihm eine Strafaussetzung zur Bewährung gewährt worden war, Rechtskraft erlangt hatte, erneut straffällig wurde. Dieser frühe Bewährungsbruch stellt eine besonders gravierende Missachtung der mit der Verurteilung verbundenen Warnung dar. Dass er bereits Anlass für eine Verlängerung der Bewährungszeit gewesen ist, steht seiner Berücksichtigung im hiesigen Widerrufsverfahren nicht entgegen (vgl. KG, Beschluss vom 23. Oktober 2009 – 2 Ws 376-378/09). Am 11. April 2020 und damit ebenfalls innerhalb der Bewährungszeit hat er zwei weitere Straftaten begangen. Damit aber hat er gezeigt, dass sich die Erwartung, die der Strafaussetzung zur Bewährung zugrunde lag, nicht erfüllt hat.

Bereits für sich genommen ist jede der neuerlichen Taten als Widerrufsgrund geeignet, wofür nach ständiger Rechtsprechung des Kammergerichts jede in der Bewährungszeit begangene Straftat von einigem Gewicht reicht (vgl. jüngst KG, Beschluss vom 2. November 2020 – 2 Ws 79/19 m.w.N.). Die neuerlichen Straftaten, die Geldstrafen in Höhe von 60 bzw. 50 Tagessätzen nach sich zogen und keinesfalls Bagatelldelikte darstellen, erreichen das erforderliche Gewicht jeweils. Dies gilt auch, wenn man im Hinblick auf die ausgeurteilte Bedrohung der Darstellung des Beschwerdeführers folgen wollte, er hätte nicht mit einem Messer in der Hand vor der Tür des Zeugen pp. gestanden. Dass sich der Beschwerdeführer im Zuge der Auseinandersetzung vom 11: April 2020 selbst Verletzungen zugezogen hat, ist ein Umstand, der im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung zu finden hat, nicht jedoch im Rahmen einer Widerrufsentscheidung.

Im vorliegenden Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass sich das Gewicht einer Tat auch nach der bisherigen Delinquenz eines Verurteilten bemisst. Straftaten, die mit geringeren Geldstrafen geahndet wurden und sogar Bagatelldelikte können einen Widerruf begründen, wenn in ihnen „eine die Rechtsordnung negierende Einstellung zum Ausdruck kommt“ (vgl. KG, Beschluss vom 9. August 2010, 2 Ws 323/10 m.w.N.). Dies aber trifft auf den Beschwerdeführer zu, der vor der Verurteilung im hiesigen Ausgangsverfahren bereits zweimal in kurzen Abständen zu Geldstrafen wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt werden musste. Weder die Verhängung von Geldstrafen noch die Verhängung von Bewährungsstrafen nebst Unterstellung unter die Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin vermochten den Beschwerdeführer aber von neuerlicher Delinquenz abzuhalten.

Erst recht sind die neuerlichen Taten in ihrer Gesamtheit geeignet, den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zu rechtfertigen, wobei die Kammer gesehen hat, dass beide Taten am selben Tag begangen wurden und angesichts des engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen ihnen im Rahmen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung ein straffer Zusammenzug der Strafen geboten erscheint.

2. Daneben hat der Beschwerdeführer den Widerrufsgrund des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB erfüllt. Er hat beharrlich gegen die ihm gemäß § 56b Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StGB erteilte Arbeitsauflage verstoßen. Dies hat grundsätzlich den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zur Folge, ohne dass es — anders als im Fall des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB — noch zusätzlich der Fest-stellung einer ungünstigen Legalprognose bedürft.

Der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung wegen beharrlichen Verstoßes gegen eine Auflage setzt in objektiver Hinsicht ein wiederholtes, andauerndes Verhalten voraus, das auf einer ablehnenden Haltung oder fehlendem Genugtuungswillen beruht. In subjektiver Hinsicht ist Ver-schulden erforderlich (vgl. KG, Beschluss vom 17. August 2012 – 2 Ws 339/12). Dieses scheidet aus, wenn der Verurteilte aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen außerstande war, die verlangten Leistungen zu erbringen.

Der Beschwerdeführer hat die — hinreichend bestimmte (vgl. hierzu KG, Beschluss vom 4. April 2014 — 3 Ws 165/14 — Rdnr. 6 m.w.N.) — Arbeitsauflage innerhalb der ihm vom Amtsgericht Tier-garten gesetzten und mittlerweile verstrichenen Fristen nicht erfüllt. Trotz regelmäßiger Intervention seiner Bewährungshelferin hat er noch nicht einmal eine einzige der ihm auferlegten 250 Arbeitsstunden erbracht. Auch nach Mahnung durch das Amtsgericht Tiergarten, die weit nach Ablauf der ihm zur Ableistung der Arbeitsauflage gesetzten Frist erfolgte, unternahm der Beschwerdeführer keinerlei Anstrengungen; ein Vorstellungsgespräch im Mai 2020, das dazu diente, ihn in Arbeit zu vermitteln, versäumte er. Vor diesem Hintergrund, der einen Zeitraum von über zweieinhalb Jahren betrifft, muss davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt gewillt war, die ihm auferlegten Stunden gemeinnütziger Arbeit zu erbringen.

Entgegen dem Vortrag des Verteidigers ist dem Beschwerdeführer die Nichterbringung der ihm auferlegten Arbeitsstunden auch vorzuwerfen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Beschwerdeführer zumindest teilweise leistungsfähig gewesen ist (vgl. Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, § 56f Rdnr. 16 a.E.). Hiervon ist im vorliegenden Fall unzweifelhaft auszugehen. Dem Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Juni 2018 (241 Ds 38/18) sowie den Berichten der Bewährungshelferin ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer zumindest innerhalb des Zeitraums von Dezember 2017 bis Anfang Juli 2018 „Minijobs“ bei zwei Umzugsfirmen wahrgenommen hat. Dies aber bezeugt, dass der Beschwerdeführer in jenem Zeitraum durchaus zur Ableistung von Arbeitsstunden imstande war. Gleichwohl hatte er noch nicht einmal damit begonnen, auch nur eine der ihm auferlegten Arbeitsstunden abzuleisten. Dafür, dass der Beschwerdeführer tatsächlich nicht gewillt war, die Arbeitsstunden abzuleisten, spricht auch der Bericht der Bewährungshelferin vom 21. Juni 2018. Die Bewährungshelferin begründete darin den Umstand, dass der Beschwerdeführer zum Berichtszeitpunkt noch nicht mit dem Ableisten der Arbeitsstunden begonnen hatte, damit, dass er hierzu zunächst habe motiviert werden müssen und schließlich eine Entzündung im Schultergelenk geltend gemacht habe…….“

 

Pflicht II: Auswechselung des „falschen“ Verteidigers, oder: Zustellung des Anhörungsschreibens

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Die zweite „Pflichtverteidiger-Entscheidung“ kommt dann vom LG Berlin. Das hat sich im LG Berlin, Beschl. v. 13.11.2021 – 538 Qs 101/20 -, den mir der Kollege F. Glaser aus Berlin geschickt hat, mit der Auswechselung des bestellten Pflichtverteidigers nach § 143a Abs. 2 Nr. 1 StPO befasst. Und das LG ist dem Antrag des Beschuldigten nachgekommen:

„Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Voraussetzungen des § 143a Abs. 2 Nummer 1 StPO liegen vor.

1. Der Beschuldigte hat binnen eines Tages nach Bekanntgabe des Beiordnungsbeschlusses des Amtsgerichts Tiergarten vom 13. Juli 2020 und somit innerhalb der Frist des § 143a Abs. 2 Nr. 1 StPO von 3 Wochen, durch Rechtsanwalt pp. beantragt, einen anderen Pflichtverteidiger zu bestellen.

2. Der Antrag ist auch begründet, denn dem Beschuldigten wurde ein anderer als der von ihm innerhalb der nach § 142 Abs. 5 Satz 1 StPO bestimmten Frist bezeichnete Verteidiger beigeordnet. Bei der Fristsetzung gemäß § 142 Abs. 5 Satz 1 StPO handelt es sich um eine gerichtliche Entscheidung im Sinne des § 35 Abs. 2 StPO (Beck OK StPO/ Krawczyk StPO, § 142 Rn. 15-25). Voraussetzung für den Beginn der Frist ist die Bekanntgabe der gerichtlichen Entscheidung. Erfolgt demnach die Anhörung schriftlich, so muss sie gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 StPO förmlich zugestellt werden. Das Anhörungsschreiben des Amtsgerichts Tiergarten vom 24. Juni 2020 wurde indes nicht förmlich zugestellt. Die Anhörungsfrist begann somit nicht zu laufen. Anhaltspunkte dafür, dass eine Heilung des Zustellmangels gemäß § 37 Abs. 1 StPO i.V.m. § 189 ZPO durch die tatsächliche Kenntnisnahme des Schreibens durch den Beschuldigten eintrat, sind nicht ersichtlich. Vielmehr trägt der Beschuldigte vor, das Schreiben nicht erhalten zu haben.

Soweit das Amtsgericht Tiergarten diesen Vortrag als nicht überzeugend erachtet, kommt es darauf nicht an. Eine Vermutung für den Zugang formlos übersandter Entscheidungen gibt es nicht, da Postsendungen verloren gehen können (vgl. BGH NJW 1957, 1230). Die am 13. Juli 2020 erfolgte Beiordnung erfolgte somit nicht nach Ablauf der Anhörungsfrist.

Ungeachtet dessen, ob aus den gleichen Gründen das „versehentlich“ durch das Amtsgericht Tiergarten auch formlos abgesandte zweite Anhörungsschreiben vom 8. Juli 2020 überhaupt wirksam eine angemessene Frist zur Benennung eines Pflichtverteidigers durch den Beschuldigten in Gang gesetzt hat, erfolgte jedenfalls die Beiordnung des, Verteidigers pp vor Ablauf dieser Anhörungsfrist. Denn selbst wenn dem Beschuldigten das Schreiben vom 8. Juli 2020, welches durch die Geschäftsstelle des Amtsgerichts Tiergarten am 9. Juli. 2020 abgesandt wurde, tatsächlich durch Zugang bekannt wurde und somit Heilung des Zustellmangels eintrat (§ 37 Abs. 1 StPO i.V.m. § 189 ZPO), erfolgte die Beiordnung am 13. Juli 2020 in jedem Fall bereits vor Ablauf der in dem Anhörungsschreiben gesetzten Anhörungsfrist von einer Woche. Denn eine Kenntnisnahme des Schreibens durch den Beschuldigten konnte frühestens am 10. Juli 2020 erfolgen.“

Auslagenentscheidung zu Lasten der Landeskasse, oder: Auch alles kann „besonders“ sein

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Und die zweite schöne 🙂 Gebührenentscheidung kommt vom LG Berlin. Das hat im LG Berlin, Beschl. v. 13.11.2020 – 502 Qs 91/20 -, den mir der Kollege Kroll geschickt hat, zu den „besonderen“ Auslagen i.S. von § 465 Abs. 2 Satz 1 StPO Stellung genommen.

Nach dem Sachverhalt war die Verurteilte wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 StGB angeklagt worden war. Sie ist dann aber nur wegen einer fahrlässigen Verkehrsordnungswidrigkeit gem. § 24a Abs. 1 StVG zu einer Geldbuße von 500,00 Euro verurteilt worden. Die Verurteilte hat sich gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung des Urteils des AG gewendet und beantragt, ihre notwendigen Auslagen der Landeskasse aufzuerlegen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, dass sie nicht wegen der angeklagten Tat – § 316 StGB -, sondern nur wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 1 StVG verurteilt wurde, wobei sie sich gegen einen entsprechenden Bußgeldbescheid nicht gewehrt hätte, so dass aus, Billigkeitsgründen die notwendigen Auslagen gern. § 465 Abs. 2 StPO der Staatskasse aufzuerlegen seien.

Das LG hat ihr Recht gegeben:

„Die sofortige Beschwerde ist begründet. Der Staatskasse sind billigerweise die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin für das gerichtliche Verfahren aufzuerlegen, § 465 Abs. 2 S. 1, 3 StPO. Im Einzelfall können die gesamten Auslagen „besondere“ sein, wenn nämlich bei anfänglicher Begrenzung des Schuldvorwurfs auf den sich später als begründet erwiesenen Teil Auslagen überhaupt nicht entstanden wären, etwa weil der wegen eines Vergehens Angeklagte, der nur wegen einer Ordnungswidrigkeit verurteilt wird, einen Bußgeldbescheid widerspruchslos hingenommen hätte (BGH, Beschluss vom 24. Januar 1973 — 3 StR 21/72, NJW 1973, 665, 667 = BGHSt 25, 109; m.w.N. KK-StP0/Gieg, 8. Aufl. 2019 Rn. 5, StPO § 465 Rn. 5; BeckOK StPO/Niesler, 37. Ed. 01. Juli 2020, § 465 Rn. 8). Es ist davon auszugehen, dass — sofern die Sachlage noch vorgerichtlich im Sinne der Verurteilung gewürdigt worden wäre — ein Bußgeldbescheid ergangen wäre, gegen den sich die Verurteilte nicht gewendet hätte. Dass die Verurteilte in dieser Konstellation kein gerichtliches Verfahren veranlasst hätte, wird dadurch bestätigt, dass sie gegen das amtsgerichtliche Urteil keine Rechtsmittel eingelegt hat. Billigerweise ist sie damit nicht als Verursacherin ihrer notwendigen Auslagen, soweit diese das gerichtliche Verfahren betreffen, anzusehen und die Staatskasse ist insoweit zu belasten.“

Abrechnung der Tätigkeiten des Zeugenbeistandes, oder: Immer wieder falsch

Smiley

Und als zweite „unschöne“ Entscheidung dann der LG Berlin, Beschl. v. 30.11.2020 – (536 KLs) 246 Js 716/14 (3/19). Die habe ich vom Kollegen Hoenig aus Berlin erhalten.

Entschieden hat das LG über die Abrechnung der Tätigkeiten des Kollegen als Zeugenbeistand. Es überrascht mich nicht wirklich, dass das LG natürlich nach Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG – also Einzeltätigkeit – abrechnet. Man betet brav nach, was das KG falsch vorgebetet hat:

„Nach der Vorbemerkung 4 Abs. 1 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG sind für die Bezahlung des Zeugenbeistands die Vorschriften in Teil 4 des Vergütungsverzeichnisses entsprechend anzuwenden. Das bedeutet aber nicht, dass er Gebühren wie ein Verteidiger verlangen kann. Die Vorbemerkung 4 bezieht sich nicht nur auf den Abschnitt 1 („Gebühren des Verteidigers“), sondern nach ihrem Wortlaut auf sämtliche Vorschriften in Teil 4 des Vergütungsverzeichnisses, wozu auch der Abschnitt 3 („Einzeltätigkeiten“) mit dem Gebührentatbestand Nr. 4301 W RVG gehört (vgl. KG, Beschluss vom 11. Oktober 2013 —1 Ws 52/13 —, juris).

Welche Gebühren einem Rechtsanwalt aus der Staatskasse zu zahlen sind, richtet sich danach, für welche Tätigkeit er beigeordnet worden ist (§ 48 Abs. 1 RVG). Im Falle des § 68b StPO umfasst die Beiordnung nach Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift nur „die Dauer der Vernehmung“ des Zeugen. Die dabei erbrachte Beistandsleistung des Rechtsanwalts ist eine Einzeltätigkeit, die nach Art und Umfang der gemäß Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG honorierten Beistandsleistung für einen Beschuldigten bei dessen Vernehmung entspricht und deshalb in entsprechender Anwendung (Vorbemerkung 4 Abs. 1 VV RVG) dieses Gebührentatbestandes zu vergüten ist. Die Vorbemerkung 4.3 Absatz 1 W RVG steht dem nicht entgegen. Nach dieser Bestimmung sind die im 3. Abschnitt aufgeführten Gebühren nur dann subsidiär, wenn dem Rechtsanwalt die Verteidigung oder Vertretung übertragen ist, was hier aber nicht der Fall ist. Der nach § 68b StPO beigeordnete Rechtsanwalt ist nämlich nicht „voller Vertreter“ des Zeugen. Er kann ihn bei seiner Aussage nicht vertreten und nicht gestaltend in das Verfahren eingreifen. Seine Rechtsstellung ist mit der des Verteidigers oder Verletztenbeistandes nicht vergleichbar, so dass für eine (entsprechende) Anwendung der auf diesen Personenkreis zugeschnittenen Gebührentatbestände kein Raum ist (vgl. zum Vorstehenden KG, Beschluss vom 18. Januar 2007 — 1 Ws 2/07 —, Rn. 4 – 5, juris m.w.N.).“

Dass das falsch ist und warum es falsch ist, habe ich schon einige Male dargelegt. Es bringt aber nichts, eine einmal aufgestellte OLG-Behauptung kann man kaum ändern. Und es wird mit dem KostRÄG leider nicht besser werden. Ich weise nur auf die Änderung in Vorbem. 5 Abs. 1 VV RVG hin, die Auswirkungen auf diese Problematik haben wird.

 

Verkehrsrecht III: Alleinrennen?, oder: Wie geht man mit dem YouTube-Video um?

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Die dritte Entscheidung kommt vom LG Berlin. Den LG Berlin, Beschl. v. 14.08.2020 –  (538 KLs) 255 Js 745/19 (12/20) – hat mir der Kollege Reese aus Berlin geschickt. Thematik auch ein (neuerer) Dauerbrenner, nämlich: Alleinrennen i.S. von § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB. Es ist insoweit Anklage zum LG erhoben. Die Strafkammer sagt aber schon mal, was sie (derzeit) von der Sache hält. Sie hat nämlich die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) aufgehoben:

„1. Die Regelung des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB stellt sich bei einschränkender, zurückhaltender Auslegung des Tatbestandes nicht als verfassungswidrig dar (vgl. KG NZV 2019, 210; KG NZV 2019, 314).

2. Nach § 315d Abs. 1 Ni“, 3 StGB wird bestraft, wer sich als Kraftfahrzeugführer mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegt, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Nach summarischer Prüfung ist eine. Verurteilung wegen eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht weit überwiegend wahrscheinlich. Es kann bei zurückhaltender, einschränkender Auslegung des Tatbestandes nach Aktenlage nicht festgestellt werden, dass der Angeschuldigte mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig und rücksichtslos fuhr, um zielgerichtet die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen.

a) Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass der, Angeschuldigte phasenweise mit nicht angepasster Geschwindigkeit fuhr. Nicht angepasste Geschwindigkeit meint nämlich eine den Straßen-, Sicht- und Wetterverhältnissen nicht entsprechende Geschwindigkeit, wobei die Überschreitung der vorgegebenen Höchstgeschwindigkeit eine maßgebliche Indizwirkung hat (vgl. KG, Beschl. v. 20. Dezember 2019 – (3) 161 Ss 134/19 (75/19) -). Den im dargelegten Sachverhalt angegebenen Geschwindigkeiten liegt keine Geschwindigkeitsmessung zu Grunde. Die Geschwindigkeiten wurden aufgrund eines auf der Plattform www.Youtube.de eingestellten Videos durch den Sachverständigen ermittelt. Neben dem Verstoß gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung ist auf dem Video unter anderem zu sehen, dass der Angeschuldigte mehrere Fahrzeuge überholt. Bei einem Überholvorgang kommt ihm ein Radfahrer entgegen. Der Angeschuldigte ist danach dringend verdächtig, mit nicht angepasster Geschwindigkeit gefahren zu sein.

b) Es fehlt indes an der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass der Angeschuldigte grob verkehrswidrig und rücksichtslos gefahren sei, um die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Bei der Auslegung der Norm ist zu berücksichtigen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers Fälle erfasst werden, in denen nur ein einziges Fahrzeug objektiv und subjektiv ein Kraftfahrzeugrennen darstellt (vgl. BT-Drs. 18/12964, 5). Tatbestandsmäßig sind nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB somit Verkehrsverstöße, von denen eine ähnliche Gefahr ausgeht, wie von einem Kraftfahrzeugrennen (vgl. KG, Beschl. v. 20. Dezember 2019 — (3) 161 Ss 134/19 (75/19) —). Typische Gefahren eines Kraftfahrzeugrennens sind regelmäßig vorkommende waghalsige Fahrweisen mit der damit verbundenen Gefahr des Kontrollverlustes, was erhebliche Risiken für andere Verkehrsteilnehmer mit Sich bringt (vgl. Hecker, in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 315d Rn. 1). Die einem solchen Rennen innewohnende Dynamik verleitet in besonderer Weise zu riskanten Verhaltensweisen, denn Rennteilnehmer werden durch den“ Wettbewerb bestärkt, Fahr- und Verkehrssicherheit außer Acht zu lassen und für einen Zuwachs an Geschwindigkeit den Verlust der Kontrolle über ihre Fahrzeuge in Kauf zu nehmen (vgl.BT-Drs. 18/12964, 5). Das bedeutet, dass bloße Geschwindigkeitsüberschreitungen gerade nicht von der Strafbarkeit nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB erfasst sein sollen (vgl. BT-Drs. 1.8/12964, 6). Tatbestandsrelevant sind vielmehr nur solche Handlungen, die objektiv und subjektiv aus der Menge der bußgeldbelegten Geschwindigkeitsverstöße herausragen (vgl. KG, Beschl. v. 20. Dezember 2019 – (3) 161 Ss 134/19 (75/19) -; Hecker, in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 315d Rn. 8) und qualitativ einem Rennen entsprechen.

Um dem Tatbestand die Qualität des Renncharakters zu verleihen, fordert die Regelung, dass der Täter mit der Absicht – dolus directus ersten Grades – handeln muss, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen (vgl. KG, Beschl. v. 20. Dezember 2019 – (3) 161 Ss 134/19 (75/19) -). Hierbei wird auf die relativ höchstmöglich erzielbare Geschwindigkeit abgestellt, die sich aus der Zusammenschau der fahrzeugspezifischen Beschleunigung bzw. Höchstgeschwindigkeit, des subjektiven Geschwindigkeitsempfindens, der Verkehrslage und der Witterungsbedingungen ergibt; nicht maßgeblich ist dagegen, ob der Täter die Leistungsfähigkeit seines Fahrzeuges vollständig ausschöpft (vgl. KG, Beschl. v. 15. April 2019 – (3) 161 Ss 36/19 (25/19) 7), wobei die Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, nicht Haupt- oder Alleinbeweggrund sein muss (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 4. Juli 2019 – 4 Rv 28 Ss 103/19 -). Zu berücksichtigen ist aber, dass allein der Wille, eine Strecke möglichst schnell zurückzulegen, nicht gleichbedeutend ist mit der Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen (vgl. Jansen, NZV 2019, 285; KG, Beschl. v. 20. Dezember 2019 – (3) 161 Ss 134/19 (75/19) -).

Der Angeschuldigte überschritt zwar die zulässige Höchstgeschwindigkeit phasenweise erheblich. Diese Überschreitung dauerte indes nach dem Gutachten. des Sachverständigen nur wenige Sekunden. Durch den Sachverständigen wurde errechnet, dass der Angeschuldigte dabei u. a. eine Wegstrecke von 55 m bzw. 180 m zurückgelegt habe, wobei es sich hierbei um Überholvorgänge gehandelt habe. Dies legt nach Aktenlage – ohne durchgeführte Beweisaufnahme – zunächst den Rückschluss nahe, dass es dem Angeschuldigten darum bestellt war, seine Wegstrecke‘ möglichst schnell zurückzulegen. Die Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit im Tatzeitpunkt der jeweiligen Verkehrssituation zu erreichen, ist danach insgesamt nicht überwiegend wahrscheinlich. Auch, ist weder ersichtlich, dass in den vom Sachverständigen errechneten Geschwindigkeitsüberschreitungen ein Kontrollverlust des Angeschuldigten über das Fahrzeug zu befürchten war noch, dass der Angeschuldigte dies in seinen Vorsatz einbezogen hatte…..“

Im Wesentlichen nichts Neues, sondern nur Fortschreibung der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung des KG und des OLG Stuttgart. Interessant aber, wie die Ermittlungsbehörden an die bisherigen Feststellungen gekommen sind. Offenbar nur über ein auf YouTube eingestelltes Video. Leider setzt sich das LG nicht mit der Frage auseinander, wer das eingestellt hat und ob das (nachträgliche) Einstellen des Videos nicht ein Indiz für ein „Alleinrennen“ sein könnte/kann. Denn offenbar will man mit der Fahrt ja „prahlen“.